„Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreutz Trost- und Friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes. Der Mensch fühlt sich auf einmal verlassen in der Gewalt des feindseligen, unbekannten Elements, und das Kreutz auf dem Felsen tritt hier in seiner heiligsten und größten Bedeutung hervor.“1Dieses Bild aus der Eingangsszenerie von Eichendorffs Roman „Ahnung und Gege nwart“ bringt in außergewöhnlicher Perfektion die Handlung des gesamten Romans in konzentrierter Form auf den Punkt. Aufmerksame Leser bemerken sicherlich sofort die Analogie dieser Naturdarstellung zu den Schicksalen der Romanfiguren: Die stets gegenwärtige Gefahr, die von diesem Donauwirbel auszugehen scheint, korrespondiert ganz deutlich mit dem Handlungsstrang des gesamten Romans, in dem sich die Protagonisten dauerhaft gegen die Gefahren des Lebens, wie etwa Unmoral, behaupten müssen, um nicht in die „Tiefe“ gerissen zu werden. Ganz deutlich wird also ein Zusammenhang zwischen dem Leben der Figuren und der Donaulandschaft hergestellt; die Natur fungiert als Hauptrepräsentant für das Schicksal der Figuren. Warum aber wird das „Konzentrat“ der Handlung - der Donaustrudel - gerade in der Landschaft verkörpert? Welche charakteristischen Merkmale lassen die Natur zum „heimlichen Mittelpunkt“ des Romans werden? All diesen Fragen soll in dieser Arbeit anhand der textanalytischen Beschäftigung mit dem Roman „Ahnung und Gegenwart“ nachgegangen werden. Allerdings muss infolge des begrenzten Rahmens dieser Untersuchung darauf verzichtet werden, auf die spezifischen Merkmale einzelner landschaftlicher Räume - wie etwa die des Waldes, des Gebirges oder der Mühle - einzugehen. Stattdessen soll die Naturgestaltung als Ganzes in das Zentrum dieser Arbeit gerückt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Die Natur bei Eichendorff – Zentraler Repräsentant der Handlung
2. Diskussion des Landschafts- bzw. Naturbegriff
2.1 Definitorische Abgrenzungsschwierigkeiten der beiden Begriffe
2.2 Eichendorffs Landschafts- bzw. Naturverständnis und dessen Darstellung in seinen Werken
3. Charakteristische Merkmale der Landschaft in „Ahnung und Gegenwart“
3.1 Das Zusammenspiel zwischen Handlung, Raum und Tages- bzw. Jahreszeiten
3.2 Der Dimensionsgehalt der Landschaft: Breite, Tiefe und Ferne
3.3 Eichendorffs Landschaft: Begrenzte oder unendliche Natur?
3.4 Die Bewegung innerhalb der Landschaft
3.5 Das Verhältnis Mensch – Natur
3.5.1 Die Komplexität der romantischen Mensch-Natur-Beziehung im Allgemeinen
3.5.2 Die Mensch-Natur-Beziehung in Eichendorffs „Ahnung und Gegenwart“
3.6 Zur Realisierung der zyklischen Idee in der Landschaftsgestaltung
4. Abschließende Gedanken zur epochalen Einordnung der Eichendorffschen Landschaftsdarstellung
Literaturverzeichnis
1. Die Natur bei Eichendorff – Zentraler Repräsentant der Handlung
„Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreutz Trost- und Friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes. Der Mensch fühlt sich auf einmal verlassen in der Gewalt des feindseligen, unbekannten Elements, und das Kreutz auf dem Felsen tritt hier in seiner heiligsten und größten Bedeutung hervor.“[1]
Dieses Bild aus der Eingangsszenerie von Eichendorffs Roman „Ahnung und Gegenwart“ bringt in außergewöhnlicher Perfektion die Handlung des gesamten Romans in konzentrierter Form auf den Punkt. Aufmerksame Leser bemerken sicherlich sofort die Analogie dieser Naturdarstellung zu den Schicksalen der Romanfiguren: Die stets gegenwärtige Gefahr, die von diesem Donauwirbel auszugehen scheint, korrespondiert ganz deutlich mit dem Handlungsstrang des gesamten Romans, in dem sich die Protagonisten dauerhaft gegen die Gefahren des Lebens, wie etwa Unmoral, behaupten müssen, um nicht in die „Tiefe“ gerissen zu werden. Ganz deutlich wird also ein Zusammenhang zwischen dem Leben der Figuren und der Donaulandschaft hergestellt; die Natur fungiert als Hauptrepräsentant für das Schicksal der Figuren. Warum aber wird das „Konzentrat“ der Handlung – der Donaustrudel – gerade in der Landschaft verkörpert? Welche charakteristischen Merkmale lassen die Natur zum „heimlichen Mittelpunkt“ des Romans werden? All diesen Fragen soll in dieser Arbeit anhand der textanalytischen Beschäftigung mit dem Roman „Ahnung und Gegenwart“ nachgegangen werden. Allerdings muss infolge des begrenzten Rahmens dieser Untersuchung darauf verzichtet werden, auf die spezifischen Merkmale einzelner landschaftlicher Räume – wie etwa die des Waldes, des Gebirges oder der Mühle – einzugehen. Stattdessen soll die Naturgestaltung als Ganzes in das Zentrum dieser Arbeit gerückt werden.
2. Diskussion des Landschafts- bzw. Naturbegriffs
2.1 Definitorische Abgrenzungsschwierigkeiten der beiden Begriffe
Bevor man nun die Gestaltung der Landschaft in „Ahnung und Gegenwart“ im Speziellen betrachtet, scheint es sinnvoll, einige allgemein einführende Gedanken zum Landschafts- bzw. Naturbegriff voranzustellen. In diesem Rahmen sei besonders darauf hingewiesen, dass die Begriffe „Landschaft“ und „Natur“ in der Forschung durchgehend für definitorische Verwirrung sorgen. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass das Begriffspaar nicht einfach voneinander abgegrenzt aber gleichzeitig auch nicht synonym verwendet werden darf. Beispielhaft für das herrschende Begriffsdurcheinander ist der Aufsatz des Philosophen Joachim Ritter über die Landschaft. Er definiert diese – metaphorisch gesprochen – gewissermaßen als eine Art „leblose Hülle“, der erst mit dem Eintritt des Individuums Leben eingehaucht wird. Erst die intensiv gelebte Verbindung des Menschen mit seinem Lebensraum lässt die „Landschaft“ in dieser Argumentation zur „Natur“ werden.[2] Die „Landschaft“ ist hier also das Basiselement für die Entstehung von „Natur“. An anderer Stelle beschreibt Ritter „Landschaft“ allerdings als „Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist“[3]. Auch hier ist der Anteil des Menschen an seiner Umgebung von entscheidender Bedeutung, allerdings stellt der Philosoph es an dieser Stelle so dar, als wäre – genau entgegengesetzt zu seiner zuerst genannten These – die „Natur“ der Ausgangspunkt für die Entstehung von „Landschaft“.[4]
Obwohl sich mehrere Generationen an Philosophen und Literaturwissenschaftler intensiv um die Abgrenzung der beiden Begriffe bemüht haben, ist eine klare Definition von „Landschaft“ und „Natur“ auch in der neuesten Forschung bisher nicht gelungen. Gegenwärtige Autoren beziehen sich in dieser Frage zum Beispiel immer noch auf Ritter.[5]
2.2 Eichendorffs Landschafts- bzw. Naturverständnis und dessen Darstellung in seinen Werken
Nun ist es nach der allgemeinen Begriffsverwirrung wohl nötig, noch einige Worte zu Eichendorffs Weltbild vor die spezielle Analyse vorauszuschicken. Eichendorffs Landschaft stellt sich uns als eine „sichtbare Theologie [dar], als Schlüssel, der die tieferen Perspektiven der sich entfaltenden Geschichte öffnet“[6]. In dieser Meinung, dass Eichendorffs Landschaft mehr verkörpert als den reinen Schauplatz der Handlung, sind sich ausnahmslos alle Literaturwissenschaftler einig. Schwieriger wird dies dabei zum Beispiel schon in der Frage, wie hoch der religiöse Gehalt in Eichendorffs Landschaft einzuschätzen ist.[7] Die Interpretation der Eichendorffschen Landschaft ist also zum Teil durchaus umstritten. Ein weiteres Merkmal, das bei Eichendorff immer wieder die Landschaftsgestaltung beeinflusst, ist außerdem dessen dualistisches Weltbild.[8] Dieses wird in „Ahnung und Gegenwart“ unter anderem durch die ungeheuere Gegensätzlichkeit in der Gestaltung der freien Natur und der Residenzstadt zum Ausdruck gebracht. Um seine Weltanschauung in seinen Werken zu vermitteln, reicht Eichendorff eine begrenzte Anzahl an landschaftlichen Räumen aus. So entstehen zwar in irgendeiner Form variierte Schauplätze, die jedoch immer wieder nur Modifikationen einer „Urlandschaft“[9] sind. Dieser Mangel an räumlicher Vielfalt darf allerdings – wie Seidlin ganz richtig bemerkt – keineswegs negativ gewertet werden.[10] Eichendorff kann sich die Begrenztheit seiner landschaftlichen Elemente durchaus leisten, denn auch seine Aussagen sind letzten Endes immer auf eine begrenzte Sammlung an „Grundwahrheiten“[11] beschränkt.
3. Charakteristische Merkmale der Landschaft in „Ahnung und Gegenwart“
3.1 Das Zusammenspiel zwischen Handlung, Raum und Tages- bzw. Jahreszeiten
In Eichendorffs Roman ist die Handlung ganz eng mit der Landschaft und dabei vor allem mit den Tages- bzw. Jahreszeiten als Teil dieser Landschaft verbunden. Diese Zeitstrukturen führen zur Gliederung des Geschehens, das in Abhängigkeit von bestimmten Zeitphasen gesehen werden muss[12] ; der Tageszeitenrhythmus wird das „zeitliche Gliederungsprinzip schlechthin, welches die Handlungsführung sinnvoll akzentuiert“[13]. So korrespondiert etwa die Tageszeit des Morgens im Roman als „Zeit des Anfangs“[14] mit neuen Phasen im Leben der Figuren, die gleichzeitig mit einem neuen Tag beginnen. Als Exempel dafür könnte man zum Beispiel den Übergang vom vierten zum fünften Kapitel betrachten: Das fünfte Kapitel beginnt mit einem neuen Tag, als „draußen Berg und Thal wieder licht waren“[15]. Dies verweist deutlich auf die Aufbruchsstimmung der Gesellschaft, die sich hier auf die Reise begibt. Die Aufgabe der Tages- bzw. Jahreszeiten besteht also keineswegs darin, für eine exakte Chronologie das Geschehens zu sorgen, sondern vielmehr darin, das „Dargestellte zyklisch zu gliedern und seinen Verweischarakter zu bekräftigen.“[16] Dies erklärt auch die Kohärenz zwischen den Eingangsworten „Die Sonne war eben prächtig aufgegangen“[17] und dem Schlusssatz „Die Sonne gieng eben prächtig auf“[18]: Durch diesen Bezug des Schlusses auf den Romananfang wird die zyklische Idee, der der gesamte Handlungsverlauf unterstellt ist, mit Hilfe der Tageszeit untermauert. Auch die Jahreszeiten korrespondieren mit dem Geschehen: Die emotionalen Schwankungen der Figuren etwa werden bildlich mit dem „Wechsel […] von Sommer und Winter“[19] widergespiegelt. Ein enger Zusammenhang zwischen der Handlung und den Tages- bzw. Jahreszeiten als Bestandteil der Landschaft kann also nicht von der Hand gewiesen werden. Die Komponenten Handlung, Raum und Zeit sind in allen Phasen des Romans eng miteinander verbunden.
[...]
[1] Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S.4.
[2] Vgl. Ritter: Landschaft, S.147.
[3] Ebd., S.150.
[4] Natürlich wäre zur Definition des Landschafts- und Naturbegriffs die Einbeziehung mehrerer Philosophen bzw. Literaturwissenschaftler wichtig, doch das würde in diesem Rahmen zu weit führen. Mithilfe der kritischen Beleuchtung von Ritters’ Thesen sollte lediglich das Problembewusstsein für den Gebrauch der Begrifflichkeiten geweckt sein. In der vorliegenden Arbeit wird so verfahren werden, dass mit „Landschaft“ konkrete, abgrenzbare Lebensräume bezeichnet werden, während der Begriff „Natur“ mit der Gesamtheit der Umwelt und vor allem mit der Idee der höheren Ordnung assoziiert werden soll. Trotz aller Bemühungen lässt sich allerdings der synonyme Gebrauch der beiden Begriffe nicht immer vermeiden.
[5] Vgl. Kiewitz: Poetische Rheinlandschaft, S.11.
[6] Seidlin: Die symbolische Landschaft, S.34.
[7] Während etwa Kersten das Hauptmerkmal der Eichendorffschen Landschaft in der „Verschmelzung von Raum und Religion“ (Kersten: Eichendorff und Stifter, S.20) sieht und auch Schaefer einen „ethisch-religiösen Bezug“ (Schaefer: Joseph von Eichendorff, S.35) des Raumes herstellt, lehnt Seidlin aufgrund Eichendorffs „Insistenz auf der Trennung von Natur, der geschaffenen Welt, und Gott dem Schöpfer“ (Seidlin: Die symbolische Landschaft, S.46) die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Gott und der Landschaft strikt ab. Eichendorffs Frömmigkeit spricht zwar in der Tat dafür, dass der Schriftsteller eine derart dem Katholizismus widerstrebende Verbindung zwischen Gott und der Natur ablehnte, doch zahlreiche Stellen aus „Ahnung und Gegenwart“ verweisen – wie gegen Ende dieser Arbeit noch angedeutet werden wird – auf den religiösen Charakter der Natur und widerlegen auf diese Weise Seidlins These.
[8] Vgl. Spitzer: Zu einer Landschaft Eichendorffs, S.147.
[9] Alewyn: Eine Landschaft Eichendorffs, S.22.
[10] Vgl. Seidlin: Die symbolische Landschaft, S.39.
[11] Ebd.
[12] Vgl. Schaefer: Joseph von Eichendorff, S.104.
[13] Schwarz: Aurora, S.128.
[14] Ebd., S.60.
[15] Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S.37.
[16] Schaefer: Joseph von Eichendorff, S.104f.
[17] Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S.3.
[18] Ebd., S.335.
[19] Schwarz: Joseph von Eichendorff, S.318.
- Quote paper
- Annette Schießl (Author), 2005, Die Landschafts- bzw. Naturgestaltung in Eichendorffs Roman "Ahnung und Gegenwart" - Inbegriff des Handlungskonzepts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48939
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.