Die Lizentiatsarbeit im Bereich Arbeits- & Organisationspsychologie behandelt eine Untersuchung zu Illegitimen Arbeitsaufgaben - also Arbeitsaufgaben nach dem Konzept 'Stress as Disrespect' von Semmer, welche Regeln und Normen des Respekts und der Zumutbarkeit verletzen und dadurch mangelnde Wertschätzung ausdrücken - und sie wurde als Längsschnitt konzipiert.
Bisher wurden die Folgen von Illegitime Arbeitsaufgaben in zwei Längsschnitten untersucht: in einer Längsschnittstudie mit drei Messzeitpunkten im Abstand von je sechs Monaten (Jacobshagen) und in einer Auswertung über zwei Jahre, welche anhand des Datensatzes gemacht wurde, auf welchem die vorliegende Untersuchung basiert. Im zweiten Fall beinhalteten diese Berechnungen Analysen zu fünf Befindensparameter auf der psychologischen Ebene, bisher wurden aber hauptsächlich Haupteffekte untersucht (Jacobshagen).
Es besteht also Forschungsbedarf für eine Arbeit, welche die längerfristigen Auswirkungen von Illegitimen Arbeits- aufgaben bezüglich Drittvariablen wie Mediatoren und Moderatoren untersucht.
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Thematische Einführung zu Illegitimen Arbeitsaufgaben
1.2. Forschungsziele und Nutzen der vorliegenden Untersuchung
2. Theorie und Stand der Forschung
2.1. Stress in Organisationen
2.2. Stressoren
2.3 Stressreaktionen und Befinden
2.4. Die Fragestellungen und Hypothesen
3. Methode
3.1. Datenerhebung und Stichprobenbeschreibung
3.2. Das Untersuchungsdesign
3.3. Fragebogen und Konstrukte
3.4 Statistische Analysen
4. Ergebnisse
4.1. Ergebnisse zur Fragestellung Kündigungsabsicht
4.2. Ergebnisse zur Fragestellung Selbstwert und umgekehrte Verursachung
4.3 Ergebnisse zur Fragestellung Burnout und umgekehrte Verursachung
5. Diskussion und
5.1. Zusammenfassung und Diskussion zur Fragestellung Kündigungsabsicht
5.2. Zusammenfassung und Diskussion zur Fragestellung Selbstwert und umgekehrte Verursachung
5.3 Zusammenfassung und Diskussion zur Fragestellung Burnout und umgekehrte Verursachung
5.4 Einschränkungen und Vorteile der Untersuchung
5.5. Ausblick
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Thematische Einführung zu Illegitimen Arbeitsaufgaben
In meiner Lehr- und Ausbildungszeit zum Sanitärzeichner kam mein damaliger Chef mehrmals zu mir, gab mir seinen Autoschlüssel und meinte, ich solle doch bitte noch kurz sein Auto waschen gehen. Dabei machte er mehr als einmal mit einem Augenzwinkern die Bemerkung, dass er seinem Chef früher die Wohnung putzen musste. Diese Bemerkung implizierte wohl, dass man als Lehrling halt einfach solche ‘harmlosen’ Arbeiten zu erledigen hat.
Solche und ähnliche Situationen, wie die von mir erlebte, können wohl viele Menschen aus ihrem Arbeitsalltag erzählen – wie die Forschung zeigt, sind Aufgaben, die als demütigend empfunden werden, aber alles andere als ‘harmlos’, sie können sehr belastend sein und Auswirkungen auf die Gesundheit haben.
Semmer und Jacobshagen (2003; under review; Semmer, Jacobshagen & Meier, 2006) haben zu Arbeitsaufgaben, welche als unfair und als verletzend – also als illegitim – bewertet werden, das SOS - Konzept (‘Stress as Offence to Self’) entwickelt. Es besteht aus zwei Subkonzepten, nämlich aus ‘Stress as Insuffiency’ und aus ‘Stress as Disrespect’, wobei das zweite im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht. Stress as Disrespect beinhaltet Illegitime Arbeitsaufgaben, also Aufgaben, welche Regeln und Normen des Respekts und der Zumutbarkeit verletzen (Semmer & Jacobshagen, under review). Die beiden Autoren gehen davon aus, dass Illegitime Arbeitsaufgaben Stress auslösen, indem sie als mangelnde Wertschätzung eingeschätzt werden. Das heisst, die Person, welche die Aufgabe ausführen muss, fühlt sich durch diese Aufgabe bzw. durch die Organisation oder die Person, welche ihr die Aufgabe zugeteilt hat, gekränkt, respektlos behandelt und zu wenig wertgeschätzt, was Stressreaktionen hervorrufen kann. Indem Semmer & Jacobshagen (2003) die Selbstwertverletzung als Auslöser von Stress konzipieren, integrieren sie Überlegungen aus der Stressforschung (z.B. Lazarus, 1999), Forschung zu Selbstwert (z.B. Baumeister, 1996; Locke, McClear & Knight, 1996) und der Gerechtigkeitsforschung (z.B. Cropanzano & Greenberg, 1997) in einem Konzept.
Am Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie wird intensiv zum Stress as Disrespect - Konzept geforscht. Neben Journalartikel (Semmer & Jacobshagen, 2003; under review; Semmer et al., 2006) und einer Promotion (Jacobshagen, under review) wurden bisher diverse Lizentiatsarbeiten verfasst (z.B. Dérer & Guyan, 2004; Hagen & Schirmer, 2002; Gisler, 2006; Schäfer, 2005) und das Konzept wurde an verschiedenen Kongressen vorgestellt (z.B. Jacobshagen, Semmer & Gisler, 2005, September). Die vorliegende Untersuchung ist im Rahmen eines SOS - Pilotprojektes entstanden und beruht auf einem ‘Zwei - Wellen Full Panel Design’ (Zapf, Dormann & Frese, 1996) mit zwei Erhebungswellen, verteilt über einen Zeitraum von zwei Jahren (Herbst 2003 und Herbst 2005).
1.2. Forschungsziele und Nutzen der vorliegenden Untersuchung
Die Forschung zum SOS - Konzept kann zeigen, dass Illegitime Arbeitsaufgaben existieren (z.B. Hagen & Schirmer, 2002) und dass sie im Querschnitt in Zusammenhang mit Befindensbeeinträchtigungen stehen (z.B. Semmer & Jacobshagen, under review) bzw. über zwölf und 24 Monate negativen Einfluss auf das Wohlbefinden haben (Jacobshagen, under review).
Bisher wurden die Folgen von Illegitime Arbeitsaufgaben in zwei Längsschnitten untersucht: in einer Längsschnittstudie mit drei Messzeitpunkten im Abstand von je sechs Monaten (Jacobshagen, under review) und in einer Auswertung über zwei Jahre, welche anhand des Datensatzes gemacht wurde, auf welchem die vorliegende Untersuchung basiert. Im zweiten Fall beinhalteten diese Berechnungen Analysen zu fünf Befindensparameter auf der psychologischen Ebene, bisher wurden aber hauptsächlich Haupteffekte untersucht (Jacobshagen, under review).
Es besteht also Forschungsbedarf für eine Arbeit, welche die längerfristigen Auswirkungen von Illegitimen Arbeitsaufgaben bezüglich Drittvariablen wie Mediatoren und Moderatoren untersucht. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an und versucht, mögliche Lücken zu schliessen. Ein erstes Forschungsziel dieser Arbeit ist,
I. anhand zwei Auswertungsdesigns zu untersuchen, ob Illegitime Arbeitsaufgaben eher längerfristige negative Konsequenzen (Längsschnitt Design über zwei Jahre) oder eher kurzfristige Folgen (Synchron I Schnitt Design1 ) auf das arbeitsbezogene Befinden haben. Indem in beiden Auswertungsdesigns die Höhe des Befindens zum Zeitpunkt t1 kontrolliert wird, kann der Einfluss von Illegitimen Arbeitsaufgaben auf das ‘Nettobefinden’2 (vgl. Leitner, 1993) untersucht werden – dadurch werden die Ergebnisse der beiden Schnitte vergleichbar. Zudem werden verschiedene intervenierende Faktoren wie Mediatoren und Moderatoren untersucht.
Bisher wurden Stressreaktionen meist auf der psychologischen und weniger auf der behavorialen Ebene untersucht (vgl. Jacobshagen, under review; Semmer & Jacobshagen, under review). Daher wird in der vorliegenden Arbeit der Fokus vermehrt auf die ‘verhaltensbezogenen’ Folgen von Illegitimen Arbeitsaufgaben wie Kündigungsabsicht, Beinahe - Kündigung und Absentismus gelegt. Was auf der psychologischen Ebene noch eher wenig untersucht wurde, ist die resignative Einstellung zur Arbeit und Affektives Commitment. Daher ist ein zweites Ziel II. zu untersuchen, ob Personen, welche unter Illegitimen Arbeitsaufgaben leiden, eher die Absicht haben zu kündigen und ob sie schon (und wenn ja wie oft) beinahe gekündigt hätten. Zudem wird geprüft, ob Illegitime Arbeitsaufgaben zu häufigerem Fehlen am Arbeitsplatz, sowie zu einer resignativen Einstellung zur Arbeit und zu einer weniger starken affektiven Bindung an die Organisation führen – alle diese Befindensbeeinträchtigungen könnten als ‘innerlicher Rückzug’ interpretiert werden.
Drittens können Illegitime Arbeitsaufgaben nebst anderen Faktoren zu Burnout führen (vgl. Jacobshagen, under review). Eine weitere Folge der Selbstwertverletzungen, welche Illegitimen Arbeitsaufgaben auslösen, könnte eine längerfristige Verminderung der Höhe des Selbstwerts sein. Dies wurde bisher noch wenig untersucht und könnte wichtig sein, da Selbstwert ein zentrales Bedürfnis (z.B. Baumeister, 1996) und ein wichtiger Wohlbefindensindikator (z.B. Schütz, 2003) darstellt und tiefer Selbstwert negative Folgen haben kann (vgl. z.B. Kernis, Brockner & Frankel, 1989).
Zudem könnten Illegitime Arbeitsaufgaben als identitätsrelevante Stressoren wirken. Nach Thoits (1991) ist der Einfluss eines Stressors abhängig von seiner Relevanz, welcher er für die Identität hat. In diesem Zusammenhang ist Zentralität der Arbeit ein Faktor, der eine Rolle spielen könnte: Wenn Personen sich stark über die Arbeit identifizieren, könnte diese subjektive Wichtigkeit der Arbeit den negativen Einfluss von Illegitimen Arbeitsaufgaben (bzw. die Verletzung des sozialen Selbst und des Selbstwerts) noch verstärken. Daher ist das dritte Forschungsziel III. in einer Replikation herauszufinden, ob Illegitime Arbeitsaufgaben auch in dieser Stichprobe zu Burnout (Emotionale Erschöpfung und Disengagement) führen. Zudem soll angeschaut werden, ob Illegitime Arbeitsaufgaben (auch in Kombination mit Emotionaler Erschöpfung) die Höhe sowie die Stabilität des Selbstwerts negativ beeinflussen, sowie, ob die Zentralität der Arbeit den Einfluss dieser Stressoren auf Befindensparameter wie Emotionale Erschöpfung und Höhe Selbstwert verstärkt.
Viertens machen Zapf et al. (1996) darauf aufmerksam, dass in beinahe der Hälfte aller Längsschnittstudien, welche die umgekehrte Verursachung von Befinden auf Stressoren untersuchen, diese gefunden wird. Auch Jacobshagen (under review) berichtet über einen Zeitraum von sechs und zwölf Monaten von einer signifikanten oder knapp nicht signifikanten umgekehrten Verursachung3 von mehreren Befindensbeeinträchtigungen auf Illegitime Arbeitsaufgaben. Aufgrund dieser interessanten Evidenz wird als viertes und letztes Forschungsziel im Längsschnitt untersucht, IV. ob Befindensbeeinträchtigungen wie tiefer Selbstwert oder Burnout (Emotionale Erschöpfung und Disengagement) über zwei Jahre zu mehr Illegitimen Arbeitsaufgaben führen. Auch bei dieser umgekehrten Wirkungsrichtung könnte die Zentralität der Arbeit den Effekt verstärken – hier wird die umgekehrte kausale Richtung des dritten Forschungsziels untersucht, nämlich der ‘Nettoeinfluss’ des Befindens auf die Stressoren.4
Diese vier Forschungsziele haben verschiedene Implikationen für die Praxis: erstens sind die Kosten von beruflichem Stress und seiner Folgen enorm, sie werden gemäss einer Seco - Studie auf jährlich ca. 4.2 Milliarden Franken geschätzt. Wenn mangelnde Wertschätzung als wesentlicher Stressfaktor wiederholt identifiziert werden kann und wenn die dadurch entstehenden negativen Auswirkungen im Stressprozess deutlicher werden, könnte durch Aufklärung und Information eine Stressorenquelle vermindert und dadurch (erhebliche) Kosten reduziert – und natürlich auch Gesundheit und Wohlbefinden verbessert werden. Zweitens kann diese Untersuchung Hinweise geben, ob Illegitime Arbeitsaufgaben eher kurz- oder eher langfristige Auswirkungen haben. So kann im Rahmen einer betrieblichen Gesundheitsförderung eine gezieltere Stressprävention bzw. Intervention geschehen. Drittens führen Kündigung und Wiedereinstellung zu erheblichen Aufwand und ziehen beträchtliche Kosten mit sich, nach Baillod (1992, S.15) können diese ‘je nach Situation von einem halben bis anderthalb Jahresgehältern’ variieren. Wenn sich Illegitime Arbeitsaufgaben als Determinanten von Kündigungsabsicht, Absentismus, vermindertes affektives Commitment und Resignation herausstellen, könnte dieser ‘innere Rückzug’ durch Arbeitsgestaltung und einer ‘gerechteren‘ Aufgabenverteilung verkleinert werden, wodurch sicherlich ‘Kosten‘ auf verschiedensten Ebenen gesenkt werden könnten. Sowie viertens, wenn Illegitime Arbeitsaufgaben Burnout und eine Reduktion von Selbstwert auslösen und diese beiden Befindensbeeinträchtigungen wiederum zu einer vermehrten Wahrnehmung von Stressoren führen, würden Trainings und Stressinterventionsprogramme, welche einen möglichen ‘circulus visiosus’ (Mohr, 1991) unterbrechen könnten, noch bedeutender.
Die Zusammenführung der Stress- Gerechtigkeits- und Selbstwertforschung zur Forschung über Illegitime Arbeitsaufgaben kann der ‘Scientific Community‘ also einen nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn bringen, welcher auch für die Praxis von Nutzen sein kann.
2. Theorie und Stand der Forschung
Ein wichtiges Ziel der vorliegenden Arbeit ist zu untersuchen, ob Drittvariablen wie Mediatoren den Stressprozess zwischen Illegitimen Arbeitsaufgaben und Befindens-parameter über längere Zeit beeinflussen. Daher werden im Folgenden speziell Modelle und Mechanismen der Entstehung, Regulation und Folgen von Stress und Befinden beschrieben. Diese Ansätze geben mögliche Anhaltspunkte, wie ein Einfluss von Illegitimen Arbeitsaufgaben auf Befinden geschehen könnte. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es natürlich aber unmöglich, alle Prozessmodelle bzw. auch nur grosse Teile davon empirisch zu überprüfen. Prozessabfolgen werden (sehr begrenzt, da nur zwei Messzeitpunkte vorhanden sind) zu den Modellen von Kahn & Byosiere (1992), Baillod (1992), French und Caplan (1972) und Leitner und Maslach (1988) überprüft. Zudem wird bezüglich Illegitimen Arbeitsaufgaben und Befinden die Verursachung in die umgekehrte Wirkungsrichtung geprüft, nicht aber die genauen Ursachen dafür.
Diese Untersuchung der Bidirektionalität der Wirkungsrichtung führt dazu, dass einzelne Konstrukte als Stressor und als Stressfolge eingesetzt werden. Dem wird versucht, durch die Gliederung des Theorieteils Rechnung zu tragen. Im folgenden zweiten Kapitel werden die für die Hypothesenherleitung relevanten Definitionen, Theorien und Modelle dargestellt. Die meisten vorgestellten Modelle und Mechanismen können aber nicht überprüft werden – sie dienen also lediglich als theoretische Basis für die Generierung der Hypothesen am Ende des Kapitels und als Bezugspunkte für die Diskussion.
2.1. Stress in Organisationen
2.1.1. Definition von Stress
In der Stressforschung hat sich trotz des immer wieder beklagten ‘babylonischen Begriffswirrwarrs’ (Zapf & Semmer, 2004, S.1008) als Grundkonsens herausgebildet, dass Stress als psychischer Zustand ein Ungleichgewicht im Verhältnis zwischen Person und Situation darstellt (Zapf & Semmer, 2004). Semmer (1997) zeigt dieses Ungleichgewicht in seiner Definition, er definiert Stress als: ‘...unangenehm erlebte Beanspruchung, resultierend aus einem Missverhältnis von Anforderungen bzw. Angeboten der Situation und den eigenen Handlungsmöglichkeiten bzw. Bedürfnissen, das als bedrohlich für das eigene Wohlbefinden erlebt wird’.
Diese Definition bildet die Grundlage für die vorliegende Stressuntersuchung, weil sie das psychische Ungleichgewicht in Zusammenhang mit Bedürfnissen (wie z.B. Wertschätzung, vgl. 2.1.3.5.1.) formuliert und dieses Ungleichgewicht als Bedrohung für das Wohlbefinden ansieht.
2.1.2. Die probabilistische Stresskonzeption
Die Stressforschung hat verschiedene Stresskonzeptionen hervorgebracht, in den meisten Übersichtsdarstellungen zu Stress (z.B. Zapf & Semmer, 2004, Sonnentag & Frese, 2003) werden stimulusorientierte, reaktionsbezogende und transaktionale Konzeptionen unterschieden. Stimulusorientierte Konzeptionen versuchen, Stressfaktoren ohne Rücksicht auf Stressreaktionen zu identifizieren (z.B. Dohrenwend & Dohrenwend, 1974), während reaktionsbezogene auf die Stressreaktion fokussieren (z.B. Seyle, 1981) und transaktionale Konzeptionen Stress als Resultat einer laufenden Interaktion zwischen Individuum und Umwelt sehen (z.B. Lazarus & Folkman, 1984).
In den transaktionalen Ansätzen wird die Wichtigkeit der subjektiven Situationsbewertung betont, ‘folgerichtig ist nicht jede Arbeitssituation für jede Person gleichermassen stressauslösend’ (Mohr & Semmer, 2002, S.78) Zudem sind die individuellen Unterschiede so gross, dass beinahe jeder Stimulus bei irgendjemandem zu einem Stressor werden kann (Kahn & Byosiere, 1992). Nach dieser transaktionalen bzw. idiosynkratischen Sichtweise ist eine Generalisierung von Resultaten einzelner Stressuntersuchungen eigentlich nicht möglich.
Ausgehend von diesem Dilemma haben verschiedene Autoren (z.B. Greif, 1991; Kahn & Byosière, 1992; Semmer, 1984) als Alternative Stressoren in Bezug auf Wahrscheinlichkeiten konzipiert. Nach der probabilistischen Stresskonzeption werden Stressoren nicht mehr auf der Ebene von Individuen, sondern auf der Ebene von Populationen mit ähnlichen Rollen, Merkmalen, kulturellen Einflüssen etc. definiert. Solche Ähnlichkeiten bedingen, dass Stressoren innerhalb der jeweiligen Population mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu einer Stressreaktion führen (Mohr & Semmer, 2002) – diese Konzeption bringt also eine nomologische Perspektive in die Stressforschung.
Die vorliegende Untersuchung über den Einfluss von Illegitimen Arbeitsaufgaben beruht auf dieser probabilistischen Stressorenkonzeption.
2.1.3. Entstehung und Folgen von Stress: Stressmodelle
2.1.3.1. Das transaktionale Stressmodell von Lazarus
Nach dem transaktionalen Stressmodell von Lazarus (z.B. Lazarus & Folkman, 1984) wird ein Ereignis (z.B. ein aussergewöhnlicher Arbeitsauftrag) in der primären Bewertung (primary appraisal) anhand der drei Bewertungskomponenten Zielrelevanz, Zielkongruenz und Ego-involvement – das letzte meint anhand Selbstwert, moralischen Wert und Wohlbefinden (vgl. Lazarus, 1999, S.92) – ‘bewusst’ oder ‘unbewusst’ und ‘ego-verteidigend’ eingeschätzt (Lazarus, 1999, S.83). Dabei kann die Einschätzung als irrelevant, als günstig und positiv oder als stressend geschehen (Lazarus, 1999). Wird das Ereignis als stressend bewertet, kann es in drei Formen auftreten: erstens als Schädigung und Verlust (z.B. als ein erschüttertes Selbst- oder Weltbild oder als eine ‘Störung des Selbstwertgefühls oder der sozialen Anerkennung’, Lazarus & Launier, 1981, S.235), zweitens als Bedrohung (welche sich auf eine Schädigung und einen Verlust bezieht, die noch nicht eingetreten sind, sondern antizipiert werden, Lazarus, & Launier, 1981) und drittens als Herausforderung.
Die sekundäre Bewertung (secondary appraisal) ist eine subjektive Einschätzung, welche Bewältigungsfähigkeiten und Bewältigungsmöglichkeiten im Bezug zum Stressor vorhanden sind. In Abhängigkeit von der Bewertung kommt es zum Bewältigungsverhalten (problem- oder emotionsbezogenes Coping). Die beiden Bewertungsformen beeinflussen sich gegenseitig (Lazarus & Launier, 1981) und stehen in keiner zeitlichen Abfolge, sondern geschehen gleichzeitig (Zapf & Semmer, 2004).
Je nachdem, ob die Situation mehr oder weniger gut bewältigt wurde, kann eine Neubewertung (reappraisal) der Situation geschehen, der Prozess wiederholt sich (Lazarus, 1999).5
Lazarus (z.B. 1999) macht also in seinem Ansatz einen direkten Bezug zwischen der Verletzung des Selbstwerts bzw. des moralischen Werts (der moralische Wert kann als Wertschätzung interpretiert werden, vgl. 2.1.3.5.1.) und Stress. Dieser Bezug bildet eine zentrale Annahme im SOS - Konzept von Semmer & Jacobshagen (vgl. 2.1.3.5.2.), daher ist der Ansatz von Lazarus für die vorliegende Arbeit sehr wichtig.
2.1.3.2. Das Modell von Kahn und Byosiere
Auch das Rahmenmodell von Kahn & Byosiere (1992) beinhaltet eine Bewertung der Situation. Es beruht auf der probabilistischen Konzeption, bezieht Bedingungen der Organisation mit ein und bildet daher für Untersuchungen von Stress in Organisationen einen geeigneten theoretischen Rahmen.
Ausgehend von bestehenden Stressmodellen und empirischen Untersuchungen schlagen die Autoren eine kausale Kette von Elementen vor, welche den Stressprozess konstituiert (vgl. Abbildung 1):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Das Modell von Kahn & Byosiere (1992, S. 592).
Durch bestimmte organisationale Vorbedingungen und Merkmale (1) werden innerhalb der Organisation spezifische Stressoren (2) wie z.B. Rollenkonflikte verursacht. Diese Stressoren können über den Bewertungsprozess (3) als Bedrohung bewertet werden, oder den Bewertungsprozess umgehen und direkt eine Stressreaktion (4) auslösen, welche physiologische, psychologische und behavoriale Reaktionen beinhaltet. Diese eher kurzfristigen Folgen können bei längerem Andauern zu langfristigen negativen Konsequenzen für die Person und die Organisation (5) wie Krankheit oder Leistungseinbussen führen (Kahn & Byosiere, 1992). Zudem enthält das Modell (6) Personenvariablen und (7) Merkmale der Situation, welche als Moderatoren6 die kausalen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Sequenzen beeinflussen können.
Das Modell von Kahn & Byiosiere (1992) Ist für die vorliegende Untersuchung aus verschiedenen Gründen relevant: erstens kann im Längsschnitt bis zu einem gewissen Grad (vgl. 3.2.3.) die Abfolge der kausalen Kette (z.B. Stressor - Befindensbeeinträchtigung bzw. Krankheit) überprüft werden. Zweitens beschreibt das Modell kurz und langfristige Stressreaktionen, welche auf der psychologischen sowie auch auf der behavorialen Ebene stattfinden – beides ist für diese Arbeit wichtig. Drittens postuliert das Modell Moderatoren, welche den Zusammenhang zwischen Stressoren und Reaktionen beeinflussen, dies wird unter Zentralität (vgl. 2.2.3.) näher erläutert.
2.1.3.3. Das Person - Enviroment Fit Modell
Das Modell von Kahn & Byosiere (1992) geht wie wohl die meisten Stressmodelle von Stress als einer Diskrepanz zwischen Person und Umwelt aus (Zapf & Semmer, 2004). Eine Spezifizierung dazu stellt das Person - Enviroment Fit Modell (z.B. French, Caplan & Harrison, 1982) dar, es bezieht Angebote, Fähigkeiten und Bedürfnisse in den Stressprozess mit ein und kann damit auch in den Kontext von Stress in Organisationen gesetzt werden. Eine Schwäche des klassischen Ansatzes ist aber, dass bei Übereinstimmung zwischen Person und Umwelt per definitionem ein Fit vorliegt und nicht zwischen ‘echtem’ Fit und dem Fit unterschieden wird, welcher durch eine Reduktion von Ansprüchen entsteht (Semmer, 1997). Eine Weiterentwicklung des klassischen P-E Fit Modells stellt die Isomorphische Stresstheorie dar, welche Vorhersagen zu Adaption und zu Reduktion von Ansprüchen in ‘Aufwärtsspiralen’ macht (vgl. Quick, Nelson, Quick & Orman, 2001).
Wie bei Illegitimen Arbeitsaufgaben als Stressoren (vgl. 2.2.2.1.) dargestellt, verletzen solche Aufgaben Bedürfnisse wie Wertschätzung, sie entsprechen nicht den eigenen Fähigkeiten und Vorstellungen und unter- bzw. überschreiten den Verantwortungsbereich bzw. die Qualifikation. Dadurch könnte der P-E fit schlecht sein, was Stress auslöst. Eine mögliche Reaktion darauf wäre das ‘Schönfärben’ der Situation (Rosy-perception-Mechanismus, vgl. 2.1.3.6.), das reduzieren von Ansprüchen (vgl. das Modell von Bruggemann,) bzw. Adaption (vgl. das Modell von Brandtstädter).
2.1.3.4. Das Modell der Gratifikationskrisen von Siegrist
Ein weiteres Modell, welches sich zur Untersuchung von Stress in Organisation eignet, ist das ‘Modell beruflicher Gratifikationskrisen’ (Efford-Reward Imbalance Model) von Siegrist (1996). Als Hintergrund dient die soziale Austauschtheorie von Blau (1984) und die Equity-Theorie von Adams (1963). Nach Adams (1963, zitiert nach Herkner, 1996) ist für eine Person eine Situation gerecht oder ausgeglichen, wenn sie wahrnimmt, dass das Verhältnis zwischen ihren Ergebnissen (‘Outcomes’) und ihren Beiträgen (‘Inputs’) gleich dem Verhältnis zwischen den Ergebnissen und Beiträgen ihres ‘Gegenübers’ ist. In diesem Sinn besteht bei viel investiertem Engagement und gleichzeitig wenig zurückerhaltenem Respekt ein Zustand von Inquity (Taris, Schreurs, Peeters, Le Blanc & Schaufeli, 2001).
Siegrist (1996) fokussiert nun mit seinem Modell auf den sozialen Austausch bzw. die wahrgenommene Rezibrozität in Organisationen, es beinhaltet einerseits die Anstrengungs- und andererseits die Belohnungsstruktur der Arbeit. Die Kernannahmen des Modells sind (vgl. Rödel, Siegrist, Hessel & Brähler, 2004): (1) für vertraglich geforderte berufliche Leistung werden nach dem Prinzip sozialer Rezibrozität mehr oder weniger spezifizierte berufliche Belohnungen (Gratifikationen) auf drei Ebenen gewährt. (2) im Arbeitsalltag ergeben sich Konstellationen, in welchen dieses Prinzip verletzt wird. Dadurch entsteht ein wahrgenommene Ungleichgewicht (Imbalance) zwischen Investitionen und Belohnungen, welches (3) wiederum zu einer Gratifikationskrise, also einer Stresserfahrung führt – damit steht als Ausgangspunkt der Stresserfahrung mangelnde Reziprozität bzw. mangelnde Fairness (vgl. z.B. Tsutsumi & Kawakami, 2004).
Das Modell enthält auf der ‘Anstrengungs-Seite’ eine extrinsische (situations-spezifische) und eine intrinsische (personen-spezifische) Modellkomponente (van Vegchel, Jonge, Bosma & Schaufeli, 2005). Die erste steht in Zusammenhang mit Anforderungen und Verpflichtungen während die zweite z.B. eigene Ansprüche enthält. Nach Siegrist (1996) sind auf der ‘Belohnungs- bzw. Gratifikations-Seite’ die drei Ebenen Bezahlung, Wertschätzung und Statuskontrolle (inkl. beruflicher Aufstieg und Arbeitsplatzsicherheit) Diese theoretisch angenommene Modellstruktur konnten Rödel et al. (2004) mit einer konformatorischen Faktoranalyse empirisch bestätigen.
Die Gratifikationsseite kann direkte Auswirkung auf den Selbstwert haben, indem Anerkennung, soziales Ansehen und beruflicher Aufstieg als Wertschätzung wahrgenommen werde. Die finanzielle Belohnung spielt ebenfalls eine Rolle: nebst dem monetären zeigt sie auch einen klar symbolischen Wert (Miller, 2001, zitiert nach Semmer & Jacobshagen, 2003). Im Gegenteil wirkt hoher Einsatz aber umso belastender, je weniger er belohnt wird (Semmer & Jacobshagen, 2003).
2.1.3.5. Das SOS - Konzept von Semmer & Jacobshagen
Das Efford-Reward Modell von Siegrist (1996) und das SOS - Konzept von Semmer & Jacobshagen (Jacobshagen, under review; Semmer & Jacobshagen, 2003, under review; Semmer, Mc Grath & Beehr, 2005; Semmer et al., 2006) stehen sich konzeptionell nahe: beide beinhalten Aspekte der Fairness und der Wertschätzung, beim SOS - Konzept bildet aber die Bedrohung bzw. Verletzung des Selbstwerts den Ausgangspunkt für den Stressprozess (vgl. Semmer et al., 2005).
Während bei Stress through Insuffiency die Bedrohung des Selbstwerts durch eine eigene Evaluation und eine internale Attribution entsteht, wird bei Stress as Disrespect die Bedrohung des Selbstwerts bzw. der Wertschätzung am Arbeitsplatz durch andere Personen und wird durch eine externale Attribution ausgelöst:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Das SOS-Konzept von Semmer & Jacobshagen (vgl. 2003, S.143).
Obwohl beide Subkonzepte von einer Selbstwertbedrohung ausgehen, fokussiert Stress as Disrespect auf mangelnde Wertschätzung als Auslöser von Stress. Daher müssen nach Semmer & Jacobshagen (2003) Selbstwert und Wertschätzung eng miteinander verbunden sein.
Im nächsten Abschnitt wird nun versucht zu zeigen, dass Wertschätzung als Teil des Selbstwerts gesehen werden kann und dass damit Wertschätzung ein wesentliches, vielleicht sogar existenzielles Bedürfnis ist. Dabei wird Wertschätzung aus systematischer Sicht in das ‘Selbst’ integriert.
2.1.3.5.1. Wertschätzung als wesentliches Bedürfnis
Aus wissenschaftshistorischer Perspektive hat der amerikanische Philosoph William James eine für die Psychologie weitreichende Unterteilung des Selbst vorgenommen. James (1890/1961, S. 159ff.) stellt auf die eine Seite das Subjekt, also die Person, welche als Betrachter reflektiert (das ‘I’, ‘the self as knower’) und auf die andere Seite das Objekt, also den Gegenstand, welcher betrachtet und reflektiert wird (das ‘Me’, ‘the self as known’).
Diese fundamentale Unterteilung ist bis heute geblieben. Greve (2000) sieht das Selbst als dynamisches System, welches einerseits subjektive Überzeugungs- und Erinnerungsinhalte, anderseits mit diesen Inhalten operierende Prozesse und Mechanismen enthält, welche diese Inhalte gegen mögliche Bedrohungen schützen und mittels verschiedener Strategien verteidigen. Zu den Überzeugungs- und Erinnerungsinhalten des Selbst können nach Schütz (2003) das deskriptive Selbstkonzept und seine Evaluation, der Selbstwert gezählt werden.
Der Selbstwert wiederum kann nun weiter unterteilt werden. Während Schütz (2000, S.191) den Selbstwert als die ‘Wertschätzung der eigenen Person’ bezeichnet, ist für die vorliegende Untersuchung die Unterscheidung von Locke, Mc Clear & Knight (1996, S.9) besonders relevant, sie beschreiben zwei Komponenten des Selbstwerts:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Komponenten des Selbstwerts (vgl. Locke, Mc Clear & Knight, 1996).7
Wie in Abbildung 3 ersichtlich, formulieren Locke et al. (1996) den ‘eigenen moralischen Wert’ als Komponente des Selbstwerts. Ähnlich argumentieren Banaji & Prentice (1994) und Leary & Baumeister (2000), auch diese Autoren ordnen wahrgenommene Anerkennung und Respekt durch andere dem Selbstwert zu. Leary, & Baumeister (2000) betonen dies besonders in ihrer Soziometertheorie, die den Selbstwert als Soziometer beschreibt, welcher ein Indikator dafür ist, wie stark eine Person in ihrer sozialen Umgebung anerkannt und geschätzt wird. Anerkennung bzw. Wertschätzung kann damit also als wesentlicher Bestandteil des Selbstwerts angesehen werden.
Der Selbstwert wiederum ist ein wichtiges menschliches Bedürfnis. Viele Autoren (z.B. Baumeister, 1996; Brockner, 1988, Dauenheimer, Stahlberg, Frey & Petersen, 2002; Locke et al., 1996) sehen die Aufrechterhaltung bzw. die Steigerung des Selbstwerts als ein Grundbedürfnis an oder setzen den Schutz des Selbstwerts sogar an die oberste Stelle aller menschlichen Bedürfnisse (vgl. Grave, 2004).
Maslow (1970; zitiert nach Bruggemann, Groskurth & Ulich, 1975) betont nicht Selbstwert an sich, sondern eher die Wichtigkeit von Anerkennung und Wertschätzung, wenn er in seinem hierarchischen Modell Prestige, Ansehen und Beachtung durch andere als ‘Achtungsbedürfnisse’ (esteem needs) formuliert. Diese Achtungsbedürfnisse werden charakterisiert, indem ihre Befriedigung zu Selbstvertrauen und Wertbewusstsein (Bruggemann et al., 1975), ihre Nicht-Befriedigung zu Minderwertigkeitsgefühlen (Bruggemann et al., 1975) sowie zu Krankheit (Gebert & von Rosenstiel, 2002) führt.8
Diese Ausführungen sollen zeigen, dass das Bedürfnis nach Wertschätzung – wenn es, wie oben dargestellt, ein wesentliches Element des Bedürfnisses nach Selbstwert ist – immanent wichtig ist, so dass mangelnde Wertschätzung zu gesundheitlichen Folgen und zu Befindensbeeinträchtigungen führen könnte (vgl. dazu auch Adler & Matthews, 1994; Ganster & Schaubroeck, 1991; Judge & Bono, 2001; Mohr, 1991).
2.1.3.5.2. Stress as Disrespect
Das Stress as Distrespect - Konzept beruht als Teil des SOS - Konzepts auf zwei zentralen Annahmen9: Die erste Annahme beinhaltet, dass wahrgenommene mangelnde Wertschätzung am Arbeitsplatz eine Selbstwertbedrohung auslöst, daher sollten Wertschätzung und Selbstwert eng miteinander gekoppelt sein (vgl. Abbildung 3). Die zweite Annahme geht davon aus, dass diese Selbstwertbedrohung ein psychisches Ungleichgewicht darstellt und somit Stress auslöst. Die beiden Autoren betonen nun bezüglich der ersten Annahme, dass Selbstwert und Wertschätzung eng miteinander verbunden sind und als ‘nicht unabhängig’ voneinander gesehen werden können (Semmer & Jacobshagen, 2003, S.132). Die zweite Annahme wird damit begründet, dass eine Beeinträchtigung des Selbstwerts negative Emotionen auslöst und damit ‘den Kernbereich von Stress’ (Lazarus, 1999) tangiert10 (Semmer & Jacobshagen, 2003, S.131). Diese Beeinträchtigung des Selbstwerts nennen Semmer & Jacobshagen (2003, S.137) ‘Ich - Bedrohung’ und verwenden diese ‘...als Überbegriff für Stress, der aus der Bedrohung bzw. Schädigung des Selbstwerts bzw. aus mangelndem Respekt und Missachtung erwächst’. Diese Definition macht nochmals die Enge Koppelung von Selbstwert und Wertschätzung im Sinn von Locke et al. (1996; siehe Abbildung 3) ersichtlich.
Eine ‘Ich-Bedrohung’ wird im Stress as Disrespect - Konzept durch Respektlosigkeit und Missachtung von Normen sowie einer externen Attribution ausgelöst – diese Bewertung führt dazu, dass Verhalten und Arbeitsaufgaben als man gelnde Wertschätzung, als demütigend und als illegitim empfunden werden11 (Semmer & Jacobshagen, 2003). Dabei kann mangelnde Wertschätzung direkt oder indirekt zum Ausdruck kommen (Semmer & Jacobshagen, 2003):
Bei direkter mangelnder Wertschätzung steht die Legitimität sozialer Handlungen im Vordergrund (Semmer et al, 2006). Konfliktauslösendes Verhalten, direkte Attacken, die Arbeit von anderen als seine eigene verbuchen oder im Extremfall sogar Mobbing (z.B. Zapf, 1999) stellt ein Bruch von Normen in Bezug auf Höflichkeit dar (Semmer et al., 2005; Semmer et al., 2006).
Nebst diesem direkten gibt es auch zwei indirekte Wege, wie Illegitimität entstehen kann. Erstens können Stressoren über die Folgen als illegitim angesehen werden, nämlich wenn zum Beispiel wegen schlechtem Arbeitsmaterial Termine nicht eingehalten werden können. Semmer & Jacobshagen (2003) postulieren, dass die Wirkung von Stressoren unter anderem von der Attribution der Ursachen im Hinblick auf Wertschätzung beeinflusst wird: Fragen der Fahrlässigkeit und Intention, welche die Attribution der Legitimität von Stressoren beeinflussen, sind (a) ob dem Stressor eine ‘Belohnung’ gegenübersteht (Reziprozität, vgl. Siegrist, 1996), (b) ob der Stressor vermeidbar gewesen wäre, (c) ob der Stressor Sinn macht oder ob eine gute Absicht dahintersteckt und (d) ob der Stressor berechtigt ist (z.B. durch besondere Umstände oder durch die Berufsrolle).
Zweitens können nebst Stressoren auch Arbeitsaufgaben, welche in der vorliegenden Untersuchung im Zentrum stehen, als illegitim bewertet werden (für weitere Ausführungen vgl. 2.2.2.). Dabei sind Aufgaben, welche nicht als Teil der Kernrolle angesehen werden, stärkere Stressoren (Gorissen & Zapf, 1999; Peeters, Buunk & Schaufeli,1995). Hier spielt die Legitimität eine verstärkende oder abschwächende – also eine moderierende, nicht aber eine auslösende Rolle (Semmer & Jacobshagen, 2003). Viele dieser oben diskutierten Ich-Bedrohungen tangieren im Besonderen die Berufsrolle und damit die soziale Identität (Semmer & Jacobshagen, 2003).
Das Stress as Disrespect - Konzept macht nebst der Verbindung zu Selbstwert und Wertschätzung auch eine Verbindung zu Fairness. Dabei werden Ich-Bedrohungen – speziell auch Illegitime Arbeitsaufgaben – in Bezug zu distributiver, prozeduraler und interaktioneller Gerechtigkeit (z.B. Cropozano & Greenberg, 1997) und in Bezug zu Equity (z.B. Taris et. al., 2001) bzw. zu Reziprozität (Siegrist, 1996) gesehen (Semmer & Jacobshagen, 2003).
2.1.3.6. Mechanismen der umgekehrten Verursachung
Einige der oben dargestellten Stressmodelle sind unidirektional, sie postulieren innerhalb der ‘normalen’ kausalen Richtung den Einfluss von Stressoren auf Befinden. Nebst dieser Kausalrichtung ist aber auch eine umgekehrte kausale Verursachung von Befinden auf Stressoren möglich.
Empirische Evidenz12 dazu beschreiben Zapf et al. (1996) in ihrem Überblicksartikel. Die Autoren zeigen, dass von 39 untersuchten Längsschnittstudien zu Stress 15 Studien (38 %) die umgekehrte Verursachung überprüfen und von diesen sieben Studien (47 %) Hinweise auf die umgekehrte Verursachung finden. Gemäss Zapf et al. (1996) haben also beinahe die Hälfe aller Studien zu Stress., welche die umgekehrte Verursachung geprüft haben, diese auch tatsächlich gefunden.
Andere Autoren (z.B. Jonge, Dormann, Janssen, Dollard, Landeweerd & Nijhuis, 2001; de Lange, Taris, Kompier, Houtman & Bongers, 2004; Mills & Huebner, 1998, Taris, 1999) finden Hinweise auf eine bidirektionale, also reziproke Verursachung in beide kausale Richtungen Für die umgekehrte Verursachung gibt es nach de Lange, Taris, Kompier, Houtman & Bongers (2005) zwei mögliche Ursachen: (1) auf einer subjektiven Ebene können Befindensbeeinträchtigungen die Wahrnehmung bzw. die Bewertung und Neubewertung von Arbeitssituationen beeinflussen oder (2) auf einer objektiven Ebene kann sich als Folge der Befindensbeeinträchtigung die Arbeitssituation selbst verändert haben, so dass eine tatsächliche Umweltveränderung vorliegt. Zu diesen beiden Möglichkeiten fassen Lange et al. (2005) vier verschiedene Mechanismen zusammen:
Auf der (1) subjektiven Ebene (within-person-perceptual) sehen de Lange et al. (2005) zwei Mechanismen: (1a) in einer positiven Reinterpretation, im „Rosy-perception“-Mechanismus, wird über die Zeit die Arbeitssituation ‘schöngefärbt’, das heisst, um die unbefriedigende Arbeitssituation auszuhalten bzw. die daraus resultierende kognitive Dissonanz (Festinger, 1957) zu reduzieren, werden Ansprüche gesenkt und die Wahrnehmung wird den Ansprüchen angepasst (vgl. Bruggemann, 1974). (1b) In einer negativen Reinterpretation, im „Gloomy-perception“-Mechanismus, welche bei Befindensbeeinträchtigungen auftritt (z.B. die ‘kognitive Triade’ und der ‘Teufelskreis der Depression’, Mohr, 1991), wird über die Zeit selektiv vor allem das negative an der Arbeitssituation wahrgenommen. Analog diesem zweiten Mechanismus haben schon früher Zapf et al. (1996) die ‘true strain-stressor hypothesis’ und in Bezug auf Neurotizismus Spector et al. (2000) die ‘stressor creation hypothesis’ formuliert.
Auf der (2) objektiven Ebene (environmental chances) sehen de Lange et al. (2005) wieder zwei Mechanismen: (2a) in einer positiven Veränderung, dem Upward-selection-Mechanismus, steigen gesunde Mitarbeiter in bessere Stellen auf bzw. sie erhalten bessere Aufgaben innerhalb der gleichen Stelle, oder ungesunde Mitarbeiter suchen neue Aufgaben bzw. kündigen und wechseln in eine bessere Stelle mit weniger Belastung. Analog diesem Mechanismus haben bereits Zapf et al. (1996) den ‘healthy - worker effect’ und Garst, Frese & Molnaar (2000) das ‘refuge-model ’formuliert. (2b) In einer negativen Veränderung, der Drift-Hypothese (vgl. Frese, 1991; Garst et al., & Molenaar, 2000; Kohn & Schooler, 1983; Zapf et al., 1996), fallen Mitarbeiter mit Befindensbeeinträchtigungen innerhalb bzw. durch Kündigungen und Neueinstellungen ausserhalb der bisherigen Organisation in Arbeitplätze mit schlechteren Arbeitsbedingungen, oder sie bekommen an ihrem bisherigen Arbeitsplatz mehr stressende Aufgaben zugewiesen. Ursachen für den Drift sehen Garst et al. (2000) in häufigem krankheitsbedingten Absentismus oder dass diese Personen nicht mehr fähig sind, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen und daher versetzt bzw. entlassen werden.
In Bezug zu Illegitimen Arbeitsaufgaben wurde bereits empirisch umgekehrte Verursachung gefunden (vgl. 2.2.2.3). Da bei diesen Stressoren der Bewertungs- bzw. Attributionsprozess im Zentrum steht, wäre es denkbar, dass durch Befindens-beeinträchtigungen eine Veränderung der Wahrnehmung bzw. Bewertung von Legitimität geschieht (subjektive Umweltänderung). Oder es wäre möglich, dass Personen mit Befindensbeeinträchtigungen bewusst ‘böswillig’ vermehrt Illegitime Arbeitsaufgaben zugeteilt bekommen (objektive Umweltänderung), nämlich z.B. wenn durch ‘Mobbing’ (z.B. Zapf, 1999) oder deren schwächere Form, ‘Social Undermining’ (Duffy, Ganster & Pagon, 2002) versucht wird, kranke Personen zur Kündigung zu bewägen Wenn diese Befindensbeeinträchtigungen auch Absentismus zur Folge haben, könnten sie einen ‘Drift’ nach unten auslösen. Leider ist es aber in der vorliegenden Untersuchung nicht möglich, nach subjektiver oder objektiver Umweltveränderung als Ursache für eine allfällige umgekehrte Verursachung empirisch zu differenzieren.
2.2. Stressoren
2.2.1. Definition, Klassifizierung und Ebenen von Stressoren
Stressoren können nach der probabilistischen Konzeption definiert werden als Situationen und Faktoren, welche mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stressempfindungen auslösen (Greif 1991; Zapf & Semmer, 2004), analog dem Konzept der Risikofaktoren in der Epidemiologie (Mohr & Semmer, 2002).
Stressoren können unterschiedliche Merkmale wie Intensität, Dauer, Neuartigkeit, Erwartetheit, emotionale Valenz, Bedeutung für das Subjekt etc. aufweisen. Intensität und Dauer stehen in Bezug auf ihre Konsequenzen wohl in einem umgekehrt proportionalem Verhältnis (vgl. Zapf & Semmer, 2004): einzelne Ereignisse müssen sehr intensiv sein (z.B. könnte vielleicht ein Ereignis, welches einen ‘Schock’ hervorruft, diese Valenz enthalten, vgl. 2.3.4.2.), um längere Auswirkungen zu haben, weniger bedeutsame Ereignisse (daily hassels, z.B. Grebner, Elfering, Semmer, Kaiser-Probst & Schlapbach, 2004) müssen dagegen häufiger auftreten, um Wirkungen zu zeigen. Wenn sich einzelne Stressereignisse ständig bzw. episodisch wiederholen, werden diese ‘chronisch’ genannt (Zapf & Semmer, 2004). Die negativen Auswirkungen von chronischen Stressoren auf Befinden und Gesundheit sind gut untersucht (z.B. Elfering, Grebner, Semmer, Kaiser-Freiburghaus, Lauper - Del Ponte & Witschi, 2005; Kahn & Byosiere, 1992; Sonnentag & Frese, 2003). Chronische Stressoren können z.B. durch die Organisationsstruktur, die Arbeitsorganisation oder das ‘soziale System’ bedingt sein (vgl. Zapf & Semmer, 2004).
Arbeits- und organisationsbezogene Stressoren sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln (Semmer, 1997): auf der Makro-Ebene, welche das Verhältnis von Arbeit und anderen Lebensbedingungen wie Familie, Berufsprestige oder ethischen Standards beinhaltet, auf der Meso-Ebene, welche die organisationsspezifischen Faktoren wie Aufstiegschancen, Bezahlung und ähnliches beinhaltet und auf der Mikro-Ebene, welche die Arbeitsaufgaben und die Bedingungen ihrer Ausführung beinhaltet.
Wenn Aufgaben regelmässig als illegitim bewertet werden, könnten diese als chronische Stressoren über zwei Jahre Befindensbeeinträchtigungen auslösen und aufrechterhalten. Vermutlich haben Illegitime Arbeitsaufgaben Merkmale wie emotionale Valenz, Intensität, Bedeutung für das Subjekt und andere mehr und sind auf der Meso-Ebene (Fairness bei der Zuteilung von Arbeit, Diskriminierung, soziale Konflikte) und auf der Mikro-Ebene (unzureichende Arbeitsinhalte oder Behinderung der Aufgabenerfüllung) anzusiedeln. Falls durch die Zuweisung oder durch die Ausführung von Illegitimen Arbeitsaufgaben persönliche ethische Standards (z.B. Menschenwürde, Menschenbild, Berufsbild) tangiert werden, könnte auch noch die Makro-Ebene betroffen sein.
2.2.2 Illegitime Arbeitsaufgaben
2.2.2.1. Einführung und Definition
Illegitime Arbeitsaufgaben gehören in das Stress as Disrespect - Subkonzept. Das Konstrukt der Illegitimen Arbeitsaufgaben besteht konzeptionell wiederum aus zwei Subkonstrukten, den unnötigen und den unzumutbaren Arbeitsaufgaben (vgl. Abbildung 2). Diese Faktorstruktur konnte empirisch belegt werden (Jacobshagen, Semmer, Gisler & Elfering, in prep.). Die beiden Subkonstrukte beinhalten einen unterschiedlichen Level von Illegitimität (Semmer & Jacobshagen, under review). Unnötige Arbeitsaufgaben sind als ‘schwächere’ Form Aufgaben, welche als vermeidbar, sinnlos oder überflüssig angesehen werden und im Arbeitsalltag häufiger vorhanden sind (Hagen & Schirmer, 2002). Unzumutbare Arbeitsaufgaben als ‘stärkere’ Legitimitätsverletzung sind andererseits Aufgaben, welche von jemand anderem erledigt werden sollten (Über- oder Unterforderung), welche ausserhalb des Zuständigkeitsbereiches liegen, jemandem in eine unmögliche und demütigende Situation bringen oder als unfair bewertet werden. Zusammen bilden sie Illegitime Arbeitsaufgaben, welche definitorisch ‘…are illegitimate if they violate rules, or norms, about the reasonableness of these tasks (Semmer & Jacobshagen, under review, S.9). Beinahe 30% aller Tätigkeiten werden als unnötig und/oder unzumutbar bewertet (Hagen & Schirmer, 2002), dabei werden Illegitime Arbeitsaufgaben mehr in Sekundäraufgaben (69%) als in Primär- bzw. Kernaufgaben (10%) gefunden (Semmer & Jacobshagen, under review). Es kann davon ausgegangen werden, dass im Arbeitsalltag eine gewisse Anzahl von Illegitimen Arbeitsaufgaben einfach erledigt werden müssen, also ‘normal’ sind: es wird aber ein Schwelleneffekt gefunden, bei mehr als einer Aufgabe pro Tag folgt am nächsten Tag eine höhere Erschöpfung (vgl. Semmer & Jacobshagen, 2002). Dabei lösen solche Aufgaben heftige affektive Reaktionen wie Empörung und Ärger aus (vgl. die hohe Korrelation mit Feelings of Resentment im nächsten Unterkapitel).
2.2.2.2. Empirische Korrelate und Stabilität
Die beiden Stressoren Efford-Reward Imbalance und Illegitime Arbeitsaufgaben stehen sich konzeptionell nahe (vlg. Semmer & Jacobshagen, under review). Dies zeigt sich auch empirisch, sie korrelieren nach Semmer & Jacobshagen (under review.) im Querschnitt (Study I) mit r = .50 (p < .001), Dèrer & Guyan (2004) finden eine Korrelation im Querschnitt von r = .36 (p < .001).
Illegitime Arbeitsaufgaben stehen in Zusammenhang mit verschiedenen Befindensbeeinträchtigungen. In ihrer Metaanalyse berichten Jacobshagen, Semmer, Gisler & Elfering (in prep.) Korrelationen13 zwischen Illegitimen Arbeitsaufgaben und Feelings of Resentment (rc = .52, p < .001, N = 3423), Irritation (rc = .40, p < .001, N = 3660), psychosomatische Beschwerden (rc = .33, p < .001, N = 3228) und Depression / Enthusiasmus (rc = .49, p < .001, N = 2992).
Für die in der vorliegenden Arbeit wichtigen Befindensparameter finden Jacobshagen et al. (in prep.) einen Zusammenhang mit Arbeitzufriedenheit von (rc = -.46, p < .001, N = 3339) und Jacobshagen (under review) findet erste Kreuzkorrelationen14 von r = -.31 (p < .01) bis r = -.46 (p < .001). Zudem findet Jacobshagen (under review) für Illegitime Arbeitsaufgaben als Prädiktor für Arbeitszufriedenheit im Längsschnitt Werte zwischen b = .00 n.s. und b = -.26 (p < .10) und im Synchron Schnitt Werte zwischen b = -.21 (p < .10) und b = -.34 (p < .01). Dérer & Guyan (2004) finden keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Höhe des Selbstwerts und Illegitimen Arbeitsaufgaben (r = .19 n.s.). Bisher wurden beide Kerndimensionen von Burnout untersucht. Für Emotionale Erschöpfung finden Jacobshagen et al. (in prep.) eine Korrelation von (rc = .46, p < .001, N = 692) und Jacobshagen (under review) findet erste Kreuzkorrelationen von r =.32 (p < .001) bis r =.58 (p < .001). Jacobshagen (under review) erhält für Illegitime Arbeitsaufgaben als Prädiktor für Emotionale Erschöpfung im Längsschnitt Werte zwischen b = .04 n.s. und b = .37 (p < .01) und im Synchron Schnitt Werte zwischen b = .24 (p < .10) und b = .27 (p < .001). Für Disengagement finden Jacobshagen et al. (in prep.) eine Korrelation von (rc = .44, p < .001, N = 691), Jacobshagen (2006) erhält für Illegitime Arbeitsaufgaben als Prädiktor für Disengagement im Längsschnitt Werte zwischen b = .05 n.s. und b = .36 (p < .05) und im Synchron Schnitt Werte zwischen b = .21 (p < .01) und b = .36 (p < .01).
Jacobshagen (under review) erhält hohe bis sehr hohe Stabilitäten für Illegitime Arbeitsaufgaben über sechs Monate von rt1-t2 =.60 (p < .001) und von rt2-t3 =.83 (p < .001) und eine hohe Stabilität über zwölf Monate von rt1-t3 =.64 (p < .001).
2.2.2.3. Umgekehrte Verursachung
In der einer der beiden bisher durchgeführten Längsschnittstudien über ein Jahr (mit drei Messzeitpunkten im Abstand von sechs Monaten) wurde für verschiedene Variablen eine signifikante oder knapp nicht signifikante umgekehrte Verursachung von Befinden auf Illegitime Arbeitsaufgaben gefunden (vgl. Jacobshagen, under review).
Jacobshagen (under review) berichtet über zweite Kreuzkorrelationen15 von Arbeitszufriedenheit und Illegitimen Arbeitsaufgaben von r = -.13 n.s. bis r = -.38 (p < .001), bei Emotionaler Erschöpfung von r =.33 (p < .05) bis r =.59 (p < .001) und bei Disengagement von r =.25 (p < .10) bis r =.41 (p < .001). Für die hierarchischen Regressionsanalysen zeigte sich, dass Feelings of Resentment Illegitime Arbeitsaufgaben vorhersagen, mit Werten zwischen b = .23 (p = .07 n.s.) bis b = .43 (p = .001). Emotionale Erschöpfung sagt Illegitime Arbeitsaufgaben vorher (von t1 auf t2, kontrolliert für die AV zu t1: b = .18, p < .05; von t2 auf t3, kontrolliert für die AV zu t1: b = .32, p < .05), während für psychosomatische Beschwerden Werte von b = .18 (p = .07 n.s.) und b = .20 (p < .05) und für Irritation Werte von b = .17 (p < .10 n.s.) und b = .24 (p < .10 n.s.) gefunden werden (vgl. Jacobshagen, under review).
Es besteht also eine gewisse Evidenz, dass Befindensbeeinträchtigungen, welche eher kurzfristig (Feelings of Resentment, Irritation) wie auch solche, welche eher längerfristig (Emotionale Erschöpfung, Psychosomatische Beschwerden) entstehen, über sechs bzw. zwölf Monate zu mehr Illegitimen Arbeitsaufgaben oder zu einer erhöhten Wahrnehmung von Illegitimen Arbeitsaufgaben führen können (vgl. Jacobshagen, under review). Anhand diesen Ergebnissen kann aber nicht unterschieden werden, ob eine subjektive oder eine objektive Umweltveränderung stattgefunden hat.
2.2.3 Zentralität der Arbeit als ‘Enhancer’
Spätestens seit der in den 1930er Jahren durchgeführten klassischen Studie von Jahoda (Jahoda, 1960, zitiert nach Ruiz-Quintanilla & Wilpert, 1985) ist der Stellenwert der Arbeit für die Identität deutlicher geworden. Durch die Arbeit werden ökonomische, soziale, kulturelle und persönliche Bedürfnisse befriedigt. In welchem Mass die Arbeitserfahrung eine Wirkung entfaltet, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Bedeutung diesem Bereich beigemessen wird (Ruiz-Quintanilla & Wilpert, 1985). Diese Wichtigkeit eines Bereiches wird als Zentralität, auf die Arbeit bezogen als Zentralität der Arbeit verstanden.
Zentralität wird in der vorliegenden Untersuchung definiert ‘as the degree of general importance that working has in the life of an individual at any given point in time’ (MOW International Research Team, 1987, S.81). Obwohl hier gemäss MOW (1987) die Annahme vertreten wird, dass arbeitsbezogene Werthaltungen ‘relativ’ stabil bleiben (zur Stabilitätsdiskussion siehe Borg, 2006), werden durch diese Definition Stabilitätsänderung nicht per definitionem ausgeschlossen. Denn kritische Ereignisse, lebenszyklische Veränderungen, Berufswechsel etc. können nach Ruiz-Quintanilla & Wilpert (1985) zu einer Veränderung der Zentralität führen. Es zeigt sich nämlich, dass jüngere Personen tiefere Arbeitswerte haben als Ältere (Ruiz-Quintanilla & Wilpert, 1985), die Stabilität über die Zeit also nicht ‘sehr hoch’ ist. Elfering, Semmer & Kälin (2000) finden dazu für Berufseinsteiger eine Stabilität von r = .51 über ein Jahr. Das MOW-Team (vgl. MOW, 1988, S.30) vermutet auch einen möglichen reziproken Einfluss von Arbeitsfaktoren (z.B. Autonomie, Variabilität und andere) und Zentralität analog dem Konzept der ‘self - direction’ von Kohn & Schooler (1983).
Wird ein Bereich als zentral bewertet, wächst für diesen die Bedeutung für die Identität und die Selbstwahrnehmung (Ruiz-Quintanilla & Wilpert, 1985). Das heisst, je wichtiger ein Lebensbereich wird, desto mehr identifiziert man sich über diesen – es wird eine soziale Identität, also eine Verbindung mit sozialen Kategorien wie z.B. Rollen aufgebaut (Wegge & van Dick, 2006). Aus Sicht der ‘Social Identity Theory’ von Tajfel & Turner (1986, zitiert nach Wegge & van Dick, 2006) kann diese Identifikation zu persönlicher Identität und zu positivem Selbstwert beitragen. Auch Marsh (1986) geht davon aus, dass, wenn ein Bereich als wichtig bewertet wird und für diesen zudem ein positives Selbstkonzept besteht, aus diesem Bereich positiver Selbstwert bezogen werden kann. Identifikation muss aber nicht unbedingt nur positiv sein, sie kann auch zu Stress führen. Wenn bei Überidentifikation Personen härter arbeiten als von ihnen verlangt wird und die Arbeit einen zu grossen Stellenwert bekommt, können z.B. soziale Beziehungen leiden (van Dick, 2005).
Ein anderer Zusammenhang zwischen Identität und Stress kann über das Konzept der identitätsrelevanten Stressoren von Thoits (1991) gesehen werden. Thoits (1991, S.103) definiert Rollenidentitäten als ‘self-conceptions in terms of one’s position in the social structure’. Diese Rollenidentitäten sind gemäss Thoits (1991) nach subjektiver Wichtigkeit der Rolle hierarchisch im Selbstkonzept repräsentiert, wirken sinngebend und handlungsleitend. Wird eine Rolle (bzw. ein Bereich) für eine Person als zentral und wichtig bewertet, steht sie an höherer Stelle in der subjektiven Identitätshierarchie. Durch diese Kategorisierung entsteht ein ‘Interaktionseffekt’ (Thoits, 1991, S.108):
‘For example, if a person ranks the worker identity high in his or her hierarchy, subsequent negative events in the work domain (e.g. trouble with boss, demotion, being fired or laid off) will be categorized as identity-relevant; if the work identity ranks low in the hierarchy, the same events will be categorized as identity-irrelevant.’
Je wichtiger bzw. salienter die Rollenidentität ist, desto mehr Einfluss hat sie auf das Befinden. Thoits (1991, S.106) meint dazu: ‘...that events or strains which disrupt or threaten to disrupt an individual’s most salient role-identities (identity - threating stressors) should be more psychologically damaging than stressors which disrupt or threaten less valued role involvements.’
In diesem Sinn sollten negative Erfahrungen innerhalb der Rollenidentität auch zu einer Verminderung des Befindens bzw. des Selbstwerts führen (Thoits, 1991). Dobi & Caplan (1995, zitiert nach Semmer & Jacobshagen, 2003) finden in Bezug zu Anerkennung und Wertschätzung, dass Stressfaktoren, welche mit hoher Bedrohung der eigenen Reputation verbunden sind, stärker mit Ängstlichkeit korrelieren.
Wenn Arbeit als sehr zentral bewertet wird und über die Arbeit eine starke Rollenidentität aufgebaut wird, sollten Stressoren, welche diese Reputation und damit den Selbstwert bzw. die Wertschätzung gefährden, als bedrohlicher wahrgenommen werden als andere und damit stärken Einfluss auf das Befinden ausüben.
2.2.4 Efford-Reward Imbalance
Das Modell der Gratifikationskrisen von Siegrist (1996) und das Stress as Disrespect – Konzept von Semmer & Jacobshagen (2003) sind sich durch die Überlappung in Fairness- und Wertschätzungsaspekten als Stressorenkonzepte ‘nah verwandt, das zeigt sich auch empirisch in den z.T. relativ hohen Korrelationen zwischen den beiden Konstrukten Illegitime Arbeitsaufgaben und Efford-Reward Imbalance.
Semmer & Jacobshagen (in prep.) vermuten, dass ihr Konstrukt eher das spezifischere und Efford-Reward Imbalance eher das globalere Konstrukt darstellt. Diese Annahme impliziert methodologisch, dass das globalere Konstrukt als Mediator zwischen Illegitimen Arbeitsaufgaben und Befinden steht. Das kann empirisch durch partielle und vollständige Mediationen anhand verschiedener Befindensparameter gezeigt werden (Jacobshagen, under review; Semmer & Jacobshagen, under review).
Eine Imbalance zwischen Verausgabung und Belohnung kann als unfair bewertet werden. Fairness bzw. Gerechtigkeit werden unterschieden nach distributiver (z.B. wenn der Lohn zu gering bzw. nicht angemessen ist), nach prozeduraler (z.B. wenn ein ungerechtes Belohnungssystem besteht) oder interaktionaler (zwischenmenschlicher) Gerechtigkeit (vgl. z.B. Greenberg, 2004; Zapf & Semmer, 2004).Ein Fehlen von Fairness und Reziprozität hat einen starken Einfluss auf das Befinden und das Selbst (Siegrist, 2002). Vegchel, de Jonge, Bakker & Schaufeli (2002) finden Folgen wie psychosomatische Beschwerden, physische Symptome und Erschöpfung.
2.3 Stressreaktionen und Befinden
In einer zunehmenden Anzahl von Längsschnittstudien kann der kausale Einfluss von Arbeitsstress auf das Befinden aufgezeigt werden (Frese, 1991; Leitner, 1993; vgl. auch Semmer, 2003; Sonnentag & Frese, 2003; Zapf et al., 1996; Zapf & Semmer, 2004) Für das Entstehen von längerfristigen Befindensbeeinträchtigungen dürfte nach Zapf & Semmer (2004) die Kumulation belastender Ereignisse bzw. das Andauern ungünstiger Bedingungen verantwortlich sein.
Nach dem Modell von Kahn & Byosiere (1992) können Stressoren kurz- und langfristige Stressreaktionen auslösen. und auf physiologischer, psychologischer und verhaltens-bezogener Ebene auftreten. Im Folgenden werden (gegliedert nach den Fragestellungen, vgl. 2.3.9.) auf der psychologischen Ebene Allgemeine Arbeitszufriedenheit und Resignation, Affektives Commitment, Selbstwert und Burnout (Emotionale Erschöpfung und Disengagement) vorgestellt, während auf der ‘verhaltensbezogenen’ Ebene Kündigungsabsicht, Beinahe-Kündigung und Absentismus beschrieben werden.
2.3.1. Determinanten von Kündigungsabsicht: Allgemeine Arbeitszufriedenheit und Resignative Einstellung zur Arbeit
2.3.1.1. Einführung und Definition
Es ist eine paradoxe Situation, dass das Konzept der Arbeitszufriedenheit (AZ) auf der einen Seite ein Eckstein der Arbeits- & Organisationspsychologie darstellt (Felfe & Six, 2006), auf der anderen Seite aber eines der ‘theoriefreisten’ Konzepte ist (Büssing, Herbig, Bissels & Krüsken, 2006; Six & Kleinbeck, 1989) und als ‘Janusköpfig’ bezeichnet wird (Wegge & van Dick, 2006).
In der vorliegenden Untersuchung wird Arbeitszufriedenheit gemäss Bruggemann, Groskurth & Ulich (1975, S.47) definiert als ‘allgemeine und generalisierende Einstellung zum Arbeitsverhältnis hinsichtlich der Alternativen ‘zufrieden-unzufrieden’. Sie enthält zugleich eine kognitive sowie auch eine affektive Komponente (Six & Kleinbeck, 1989).
2.3.1.2. Entstehung von Arbeitszufriedenheit und Resignation
Bruggemann et al. (1975) gehen davon aus, dass Arbeitszufriedenheit durch den Vergleich zwischen der aktuellen Arbeitssituation und den persönlichen Ansprüchen, Bedürfnissen und Motiven, also durch einen Vergleich des Ist-Werts mit dem Soll-Wert entsteht. Nach der Affective - Events Theorie von Weiss & Cropanzano (1996) haben eine Reihe von Variablen (z.B. Ansprüche) Einfluss auf die kognitive Komponente der AZ, während die affektive Komponente durch affektive Erlebnisse bei der Arbeit beeinflusst wird. Nach dieser Theorie haben bestimmte Merkmale der Arbeit deshalb Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit, weil sie das Eintreten oder die Häufigkeit emotionsauslösender Ereignisse mitbestimmen (Wegge & Neuhaus, 2002).
Empirisch hat Baillod (1992) in seinem Modell der Fluktuationsentscheidung gezeigt, dass die beiden Determinanten Arbeitsinhalt und Führungsverhalten einen wesentlichen Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit haben.
Da Illegitime Arbeitsaufgaben starke affektive Reaktionen (Feelings of Ressentment, vgl. 2.2.2.) hervorrufen, hat gerade die Theorie von Weiss & Cropanzano (1996) für die vorliegende Untersuchung ein gewisses Erklärungspotential.
Ein Problem der Forschung zu Arbeitszufriedenheit ist der ‘Postitivätsbias’ (Fischer & Belschak, 2006) in der Antwortverteilung, 70 – 80 % sind keine Ausnahme (Semmer & Udris, 2004). Widersprüchlich dazu sagt aber ein recht hoher Anteil der ‘Zufriedenen’, dass sie nicht nochmals denselben Beruf wählen würden (Semmer & Udris, 2004). Verantwortlich für dieses Paradoxon könnte das subjektive Bezugssystem sein, es zeigt sich nämlich, dass Personen ihre Ansprüche reduzieren, um zufriedener zu werden (Semmer & Udris, 2004). Die momentane Arbeitssituation bestimmt also die Höhe der Ansprüche (das Anspruchsniveau) mit.
Ein Modell, welches die Regulation des Anspruchniveaus beinhaltet, ist das kybernetische Modell von Jiménez (2006). Es besteht aus zwei rückgekoppelten Regelkreisen (vgl. Jimenéz, 2006, S. 169): In einem ersten Regelkreis entsteht die Höhe der AZ durch den Vergleich der aktuellen Arbeitssituation mit dem Anspruchniveau. Innerhalb diesem Regelkreis hat die AZ ‘Wirkungen’, sie führt z.B. zu innerer Kündigung (Jiménez, 2004), Kündigungsabsicht (Jiménez, 2002) oder Kündigung. Diese Wirkungen führen über eine Feedbackschleife wiederum zu einer Neubewertung der Arbeitsituation anhand des Anspruchniveaus – damit ist der Regelkreis geschlossen. In einem zweiten Regelkreis beeinflussen die Erwartung an die Entwicklung der AZ (bezüglich Erhöhung oder Senkung der AZ), die wahrgenommene Kontrollierbarkeit und Werte / Motivation das Anspruchsniveau. ‘Das Anspruchsniveau ist damit indirekt eine Funktion der Arbeitszufriedenheit’ (Jiménez, 2006, S. 169).
In Bezug zu anderen Modellen hat das Modell folgende Stärken: erstens ist nach Jiménez (2006) die Senkung des Anspruchniveaus eine Folge von Arbeits un zufriedenheit, zweitens postuliert das Modell eine umgekehrte Wirkrichtung von Kündigungsabsicht auf die AZ – und drittens kann gemäss Jiménez (2006) anhand der Regelkreise gezeigt werden, dass stetige negative Rückmeldungen von Vorgesetzten eine andere Wirkung haben als eine einzelne negative und unerwartete Rückmeldung. Nach Jiménez (2006) führt der zweite Fall zu einer stärkeren Verunsicherung.
Auch das motivations-dynamische Arbeitszufriedenheits-Modell von Bruggemann (1974; 1975; 1976; Bruggemann et al. 1975) hat das Anspruchniveau als Modellkomponente. Die Ausgangsbasis des Modells bildet die Annahme von Arbeitszufriedenheit als Ist-Soll-Differenz, wobei diese ihrerseits wieder auf die intrapsychischen Verarbeitungsprozesse, dass heisst auf die Veränderung der Situation und / oder der Bedürfnisstruktur, zurückwirkt (Gebert & von Rosenstiel, 2002, S.83) – und damit dynamisch ist. Es enthält drei Arten von Prozessen (vgl. Bruggemann, 1974 und Gebert & von Rosenstiel, 2002): erstens Soll-Ist-Differenz Vergleiche bezüglich der Bedürfnisbefriedigung, zweitens anschliessende Vorgänge der Erhöhung, Aufrechterhaltung oder Senkung des Anspruchniveaus als Folge einer Bedürfnisbefriedigung bzw. Nichtbefriedigung und drittens unterschiedliche Formen der Problembearbeitung bei einer Nichtbefriedigung. Arbeitszufriedenheit entsteht also durch die Befriedigung von Bedürfnissen in der Arbeitssituation oder mittels der beiden kognitiven Prozesse Senkung des Anspruchsniveaus oder Wahrnehmungsverzerrung.
Ein Faktor für die Senkung des Anspruchniveaus könnte nach Bruggemann (1974) die soziale Norm sein, wonach in der ‘Leistungsgesellschaft’ das Ansehen und der Status einer Person weitgehend durch den Berufserfolg bestimmt wird. Durch die Wechselwirkung zwischen Fremd- und Selbstbild berührt dieser Berufserfolg, ‘der sich subjektiv auch in der Arbeitszufriedenheit wiederspiegelt, das Selbstbewusstsein’ (Bruggemann, 1974, S. 282) und durch die Verinnerlichung der sozialen Norm entsteht ein ‘Druck’ (Bruggemann, 1974, S.282), welcher durch die beiden oben genannten kognitiven Prozesse reduziert werden kann.
Interessanterweise sieht Bruggemann (1974) im Selbstwert bzw. seiner Bedrohung eine Ursache für die Senkung des Anspruchniveaus. Da Illegitime Arbeitsaufgaben diese Bedrohung hervorrufen, könnten Sie eine Reduzierung des Niveaus bewirken.
Bruggemann (1974) postuliert in ihrem Modell sechs qualitative Formen von Arbeits(un)zufriedenheit (vgl. auch Bruggemann, 1975; Ulich, 2001). Bei einem positiven Ist-Soll-Vergleich entsteht stabilisierende Zufriedenheit und die Formen: (1) Stabilisierte AZ (Befriedigung und Gleichbehaltung des Anspruchsniveaus) und (2) Progressive AZ. Bei einem negativem Ist-Soll-Vergleich entsteht hingegen diffuse Unzufriedenheit und die Formen: (3) Resignative AZ (mehr oder weniger bewusste nachträgliche Senkung des Anspruchniveaus, Erwartungen werden zurückgenommen was häufig mit Frustrations-erlebnissen verbunden ist, daher kann diese auch als Form der Unzufriedenheit bezeichnet werden, vgl. Baumgartner & Udris, 2006), (4) Pseudo AZ, (5) Fixierte AUZ und (6) Konstruktive AUZ.
Obwohl die qualitative Unterscheidung von Bruggemann ein entscheidender Schritt darstellt, um die Mechanismen der Arbeitswelt besser verstehen zu können (Ulich, 2001), bereitet die empirische Erfassung dieser Formen immer noch einige methodische Probleme, in den meisten Studien können nicht alle postulierten Formen empirisch belegt werden (vlg. Baumgartner & Udris, 2006). Zwei Faktoren, welche mit ‘Allgemeiner Arbeitszufriedenheit’ und Resignativer Einstellung zur Arbeit (‘Resignation’) bezeichnet werden, können aber fast immer gefunden werden (Baumgartner & Udris, 2006). Aufgrund dieser Tatsache schlagen Semmer & Udris (2004) vor, der weiteren Forschung ein auf diese beiden Dimensionen reduziertes AZ-Modell zugrunde zu legen.
In diesem Sinn werden auch für die vorliegende Untersuchung die beiden Faktoren Allgemeine Arbeitszufriedenheit und Resignation ausgewählt.
Für die Stabilität von Arbeitszufriedenheit finden Elfering et al. (2000) bei Berufseinsteigern rt1-t2 = .32 (p < .01) über ein Jahr, Semmer, Grob, Elfering & Baillod (in Vorbereitung) erhalten Werte von rt1-t2 = .32 und rt2 -t3 = .42, während Dormann & Zapf (2001) in ihrer Metaanalyse eine Stabilität von rc = .42 errechnen. Für Resignation finden Kälin, Semmer, Elfering, Tschan, Dauwalder, Heunert & von Roten (2000) rt1-t2 = .38 (p < .001) und Grebner, Semmer & Elfering (2005) finden eine Stabilität über ein Jahr von rt1-t2 = .41 (p < .01)
2.3.2. Determinanten von Kündigungsabsicht: Affektives Commitment
2.3.2.1. Einführung und Definition
Meyer, Stanley, Herscovitch & Tololnytsky, (2002) definieren Affektives Commitment als ‘an emotional attachment to, identification with, and involvement in the organization”. Dieser Ansatz betont nebst dem starken Zugehörigkeitsgefühl zur Organisation auch die Identifikation mit den Werten und Zielen der Organisation. Commitment steht damit dem Konzept der Identität sehr nahe (zur Abgrenzung vgl. van Dick, 2004).
2.3.2.2. Entstehung von Affektivem Commitment
Historisch lassen sich in der Commitmentforschung verschiedene Entwicklungslinien ausmachen (vgl. Felfe & Six, 2006): Eine erste Linie, welche die emotionale Bindung betont, geht von einer geringen Kündigungsabsicht sowie von einer Bereitschaft, sich besonders einzusetzen, aus (Affektives Commitment). Eine zweite Linie stellt das rationale Kalkül in den Mittelpunkt (kalkulatorisches Commitment), während ein dritter Entwicklungsstrang die Bedeutung von moralischen Wertvorstellungen beinhaltet (Normatives Commitment). Allen & Meyer (1990) haben diese unterschiedlichen Forschungstraditionen zu einem Drei-Komponenten-Modell zusammengeführt. Affektives Commitment zeigt in verschiedenen Studien (z.B. Meyer et al., 2001; Meyer et al., 1993) die stärksten Zusammenhänge mit Antezedenzfaktoren und Konsequenzen.
Zur Entstehung von Commitment können verschiedene Ansätze Erklärungen liefern. Im Prozessmodell der freiwilligen Kündigung nach Woschée (vgl. Gerbert & von Rosenstiel, 2002) ist die ‘Respektierung durch den Vorgesetzten’ eine von vier Determinanten von Commitment. Wegge & van Dick (2006) gehen davon aus, dass Affektives Commitment im Wesentlichen austauschbasiert entsteht: wenn die Organisation ihre Mitarbeiter unterstützt, sich um ihre Entwicklung kümmert und etwas zur Verfügung stellt (z.B. Lohn, Respekt und Anerkennung, eine sinnvolle Aufgabe), ‘bedanken’ sich die Mitarbeiter, indem sie sich emotional an die Organisation binden, sich für diese engagieren und sich mit ihr identifizieren. Betrachtet man Commitment als der Identität nahestehend, ist es denkbar, dass auch Theorien zu Entstehung einer sozialen Identität (vgl. 2.2.3. und van Dick, 2004) Erklärungen bieten könnten.
Empirisch findet Baillod (1992) in seinem Modell Arbeitsinhalt und Führungsverhalten als wichtige Determinaten von Commitment. Andere Autoren finden in ihren Metaanalysen Korrelation von Affektivem Commitment mit Merkmalen der Arbeitsaufgabe (Job Scope) von rc = .50 (Mathieu & Zajac, 1990), mit Zufriedenheit mit der Arbeitsaufgabe von rc = .62 (Meyer et al., 2002), mit Zufriedenheit mit der Führung rc = .42 (Meyer et al., 2002) und Korrelationen zwischen Affektivem Commitment und prozeduraler (rc = .38), distributiver (rc = .40) und interaktionaler Gerechtigkeit (rc = .50) (Meyer et al., 2002).
Illegitime Arbeitsaufgaben könnten Affektives Commitment verändern, indem sie als mangelnder Respekt des Vorgesetzten empfunden werden und dadurch eine Verletzung der Gerechtigkeit darstellen. Dies sollte sich auch in der Zufriedenheit mit der Führung niederschlagen.. Ein Einfluss von Illegitimen Arbeitsaufgaben auf die Zufriedenheit mit der Arbeitsaufgabe wird ebenfalls vermutet. Stellt man Commitment der Identität nahe, könnten Illegitime Arbeitsaufgaben auch als identitätsrelevante Stressoren (Thoits, 1991) auf Affektives Commitment wirken.
Affektives Commitment und Arbeitszufriedenheit stehen sich konzeptionell nahe. Während das Erste sich auf die Bindung an die Organisation oder Teile davon bezieht, ist das Zweite eher eine kognitive und emotionale Bewertung der Arbeitssituation. Beide enthalten aber eine emotionale Evaluation (Felfe & Six, 2006). Auch empirisch werden oft hohe Zusammenhänge gefunden: In ihren Metaanalysen zeigen Mathieu und Zajac (1990) Korrelationen von rc = .69, Meyer et al. (2002) erhalten rc = .65 und Cooper-Hakim & Viswevaran (2005) finden rc = .60. Unklarheit besteht aber, welche von beiden Variablen Antezendenz bzw. Konsequenz der anderen ist, auch eine gegenseitige Beeinflussung ist möglich (Felfe & Six, 2006). In ihrer Studie finden Semmer et al. (in Vorbereitung) beispielsweise für die Intervalle t1-t2 und für t2-t3 eine vollständige Commitment-to-Satisfaction Mediation auf Kündigung. In einer Längsschnittstudie mit drei Messzeitpunkten von Farkas & Tetrick (1989, zitiert nach Felfe & Six, 2006) finden die Autoren hohe Stabilitäten und ein Anstieg der Korrelationen von rt1 = .61 zu rt2 = .70 auf rt3 = .78 über die Zeit. Semmer et al. (in Vorbereitung) wiederum finden bei Intervallen von einem Jahr eine Stabilität von r t1-t2 = .51 (p < .001). und von r t2-t3 = .45. (p < .01).
Verschiedene Autoren (z.B. Felfe & Six, 2006; Tett & Meyer, 1993) empfehlen aufgrund ihrer partiellen Eigenständigkeit, beide Konstrukte zur Vorhersage von Kündigungsabsicht heranzuziehen. Dies wurde analog zum Modell von Baillod (1990) in der vorliegenden Untersuchung auch so gewählt.
2.3.3. Kündigungsabsicht
2.3.3.1. Kündigungsabsicht als innerlicher Rückzug
Verschiedene Autoren nehmen an, dass Personen sich vor Stress (z.B. De Boer, Bakker, Sytroit & Schaufeli, 2002) und vor Selbstwertbedrohung (z.B. Schütz, 2003) schützen möchte. Eine mögliche Strategie – wenn alle anderen Copingstrategien versagen vielleicht die Letzte – könnte ein innerlicher Rückzug aus der Arbeit sein. Kündigungsabsicht wird nun von vielen Autoren (z.B. Schmidt & Daume, 1996, Zapf & Semmer, 2004) als ein Rückzugsverhalten (withdrawal-behavior) interpretiert.
2.3.3.2. Entstehung von Kündigungsabsicht
Kündigungsabsicht kann entstehen, wenn Inequity besteht (Geurts, Schaufeli & Rutte, 1999) und persönliche Investitionen im Sinn des Efford-Reward Modells den erhaltenen Ertrag übersteigen (Semmer & Zapf, 2004). Der Rückzug kann damit als direkte Folge von Stress, Selbstwert- und Fairnessverletzungen gesehen werden und zum Ziel haben, das Gleichgewicht bzw. das Wohlbefinden wieder herzustellen.
Eine ganze Reihe von Autoren haben in den Siebziger- und Achtzigerjahren Prozessmodelle zur Kündigungsabsicht und Fluktuation aufgestellt und überprüft (für einen Überblick siehe Baillod, 1992; Lee & Mitchell, 1994; Six & Kleinbeck, 1989). Bei den vorgeschlagenen Modellen steht meist die Arbeitszufriedenheit im Mittelpunkt, später (z.B. bei Tett & Meyer, 1993) wurde noch das Affektive Commitment als Einflussfaktor ergänzt. Die Modelle sind vielfältig in ihren Variablen und unterscheiden sich auch in einer Reihe von Annahmen.
Semmer & Baillod (1993) schlagen daher ein Rahmenmodell vor, das als Quintessenz die Kernbereiche enthält, welche sich empirisch mit hoher Konsistenz bestätigen lassen. Ihr Rahmenmodell der Fluktuationsentscheidung umfasst die folgenden Gruppen von Variablen: (1) Demographische Merkmale, (2) Einstellungen zu Arbeit und Organisation, (3) Kündigungsbezogene Kognitionen wie Kündigungs - Erwägungen (Suchabsicht, Suchverhalten) und Kündigungsabsicht (Intention) und (4) Kündigung (Verhalten). Anhand dieser Grobstruktur hat die Gruppe um Semmer ihr Fluktuationsmodell entwickelt, welches nun etwas näher beschrieben wird.
[...]
1 Der Synchron I Schnitt entspricht einem Synchron Schnitt, wie ihn z.B. Zapf et al. (1996) oder Grebner, Semmer & Elfering (2005) konzipieren. Da in der vorliegenden Untersuchung noch ein weiteres ähnliches Auswertungsdesign verwendet wird, welches Synchron II Schnitt genannt wird, werden die beiden Synchron Schnitte durch römische Zahlen unterschieden.
2 Es handelt sich hier aber nicht um eine Veränderungsmessung.
3 Wenn im Folgenden in Bezug auf die vorliegende Untersuchung von ‘kausalen Wirkungsrichtung’ oder ‘kausaler Verursachung’ gesprochen wird, geht es immer nur um Hinweise von Kausalität (vgl. 3.2.3.).
4 Es wird also eine Beeinflussung bzw. eine Verursachung in beide kausale Richtungen (bidirektional, vgl. z.B. Taris, 1999) im Längsschnitt über zwei Jahre analysiert.
5 Dadurch erweist sich die Überprüfung des Modells aber als nahezu unmöglich (vgl. Kälin, 2004). Da den Anforderungen die Transaktion des Individuums gegenübersteht und sich die Situation laufend verändert, ist die Gültigkeit des Modells kaum noch durch eindeutig theoretisch abgeleitete Prognosen zu erfassen und empirisch zu testen (Greif, 1991).
6 Kahn & Byiosiere (1992) drücken sich betreffend Moderatoren und Mediatoren terminologisch ungenau aus. Im Sinn von Baron & Kenny (1986) wirken die als (2), (3) und (4) beschriebenen Variablen mediierend, d.h., die Wirkung der organisationalen Vorbedingungen auf die längerfristigen Stressfolgen kommt durch die Vermittlung dieser drei Variablen zustande, während die Variablen (6) und (7) moderierend wirken (vlg. Kälin, 2004).
7 Das ‘Stress as Disrespect’ - Konzept beinhaltet ausserdem noch die Illegitimität von Handlungen und die Illegitimität von Stressoren (Semmer & Jacobshagen, 2003).
8 Das Modell von Maslow ist empirisch schlecht überprüft (zur Kritik an Maslow siehe z.B. Gebert & von Rosenstiel, 2002).
9 Im Rahmen dieser Arbeit werden die beiden Annahmen nicht näher geprüft, sondern nur ihre Folgen auf Selbstwert und andere Befindensparameter untersucht.
10 Diese Annahme konnte bestätigt werden (vgl. Jacobshagen, Semmer & Meier, in prep.)
11 Obwohl solche Attributionen subjektive Prozesse sind, spielen soziale Normen, Organisationskultur etc. wohl eine entscheidende Rolle bei der Bewertung. Daher sollte es möglich sein, Illegitimität von Stressoren im Sinn des probabilistischen Stressorenkonzepts zu untersuchen.
12 Zur Erklärung dieser empirischen Befunde ist es nötig, Theorien heranzuziehen, welche ein rückgekoppeltes, kybernetisches System beinhalten, so dass über eine Feedback-Schleife Befinden wieder die Situationsbewertung beeinflussen kann. Edwards (1992) und Kalimo (2005) nennen als solche Theorien: die ‘role stress theory’ von Kahn, Wolfe, Quinn, Snoeck & Rosenthal (1964), das ‘theoretical model for psychosocially mediated disease’ von Kagen & Levi (1975), der ‘stress cycle’ von Mc Grath (1976), das ‘facet model’ von Beehr & Newmann (1978), Cummings & Cooper’s (1979) ‘framework’, die ‘person-enviroment-fit theory’ von French et al. (1982), das transaktionale Modell von Lazarus & Folkman (1984) und die ‘cybernetic theory of stress’ von Edwards (1992).
13 In der vorliegenden Arbeit ist rc jeweils die standardisierte und gewichtete Korrelation einer Metaanalyse.
14 Für die graphische Darstellung der beiden Kreuzkorrelationen siehe Abbildung 6. Kreuzkorrelationen müssen betreffend kausaler Abfolge mit Vorsicht interpretiert werden (vgl. 3.2.1). Hier werden sie als Vergleichswerte berichtet. Damit soll gezeigt werden, dass ein Zusammenhang über die Zeit besteht.
15 Dabei zeigt sich bei Jacobshagen (under review), dass die zweiten Kreuzkorrelationen, welche über das kürzere Intervall verlaufen (von t1-t2 und von t2-t3) grundsätzlich höher sind als die zweiten Kreuzkorrelationen, welche über das längere Intervall laufen (t1-t3).
- Quote paper
- Christian Ganser (Author), 2007, Stress durch mangelnde Wertschätzung bei der Arbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/486698
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