In dieser Arbeit soll es um die Funktion der Kunst in Friedrich Nietzsches 1882 erstmals erschienenem Werk Die fröhliche Wissenschaft gehen. Der Tod Gottes, der Übermensch, die fröhliche Wissenschaft, die ewige Wiederkehr - das sind nur einige Phänomene, die bei Nietzsche eng miteinander verknüpft sind, sich teilweise gegenseitig bedingen, sich aber auch - zumindest beim ersten Lesen - widersprechen. Nicht selten kommt es bei dem Versuch einer graphischen Darstellung dieser Begriffe zu dem Bild eines Kreises, in dem jedes Element mit dem anderen durch einen Pfeil in beide Richtungen verbunden ist.
Deswegen erschien es absolut notwendig, zu Beginn dieser Arbeit eine kurze Hinführung zum Thema zu erstellen. Eine ausführliche Erklärung beispielsweise des Verhältnisses von Trieben und Intellekt konnte hier allerdings nicht geleistet werden.
Im Hauptteil der Arbeit stehen drei Aphorismen im Mittelpunkt. An ihnen und unter Zuhilfenahme von anderen Fragmenten sollen einige wesentliche Funktionen der Kunst dargestellt werden. Dazu gehört die Lebenssteigerung, die ästhetische Sichtweise auf die Welt, das Schaffen von Wahrheit, die Kunst als Bedingung für die Leidenschaft der Erkenntnis, die Daseinsbejahung und das Festhalten im Leben. An den Stellen, wo es sinnvoll erschien, sind zudem eher theoretische Abschnitte in die Interpretation eingefügt worden. Anstelle einer Zusammenfassung wird zum Schluss eine weitere Funktion der Kunst enthüllt, die den Autor der Fröhlichen Wissenschaft in den Mittelpunkt stellt und sein Werk, ebenso wie den Schriftsteller selbst, in einem besonderen Sinne auch als Kunstwerk auszeichnet.
Inhalt
1. Einleitung
2. Der Tod Gottes und die Entsagung
2.1. Redlichkeit und Leidenschaft der Erkenntnis
3.1. Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst
3.1.1. Kunst und Wahrheit
3.1.2. Leben als ästhetisches Phänomen
3.1.2.1. Das Problem des Immoralismus
3.1.3. Eine fröhliche Wissenschaft
3.2. Amor fati. Ein Herzenswunsch zum neuen Jahre
3.2.1. Von der Entsagung zur Bejahung
3.2.2. Dem Dichter und Weisen – die Einheit von Kunst und Philosophie
3.2.3. Daseinsbejahung und Daseinsverklärung
3.2.4. Kunst und Leben
3.3. Eins ist Noth
3.3.1. Eine philologische Betrachtung der Welt
3.3.2. Der künstlerische Plan
3.3.3. Argumente gegen einen Immoralismus
4. An Stelle einer Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In dieser Arbeit soll es um die Funktion der Kunst in Friedrich Nietzsches 1882 erstmals erschienenem Werk Die fröhliche Wissenschaft gehen.
Der Tod Gottes, der Übermensch, die fröhliche Wissenschaft, die ewige Wiederkehr – das sind nur einige Phänomene, die bei Nietzsche eng miteinander verknüpft sind, sich teilweise gegenseitig bedingen, sich aber auch – zumindest beim ersten Lesen – widersprechen. Nicht selten kommt es bei dem Versuch einer graphischen Darstellung dieser Begriffe zu dem Bild eines Kreises, in dem jedes Element mit dem anderen durch einen Pfeil in beide Richtungen verbunden ist.
Deswegen erschien es absolut notwendig, zu Beginn dieser Arbeit eine kurze Hinführung zum Thema zu erstellen. Eine ausführliche Erklärung beispielsweise des Verhältnisses von Trieben und Intellekt konnte hier allerdings nicht geleistet werden.
Im Hauptteil der Arbeit stehen drei Aphorismen im Mittelpunkt. An ihnen und unter Zuhilfenahme von anderen Fragmenten sollen einige wesentliche Funktionen der Kunst dargestellt werden. Dazu gehört die Lebenssteigerung, die ästhetische Sichtweise auf die Welt, das Schaffen von Wahrheit, die Kunst als Bedingung für die Leidenschaft der Erkenntnis, die Daseinsbejahung und das Festhalten im Leben. An den Stellen, wo es sinnvoll erschien, sind zudem eher theoretische Abschnitte in die Interpretation eingefügt worden.
Anstelle einer Zusammenfassung wird zum Schluss eine weitere Funktion der Kunst enthüllt, die den Autor der Fröhlichen Wissenschaft in den Mittelpunkt stellt und sein Werk, ebenso wie den Schriftsteller selbst, in einem besonderen Sinne auch als Kunstwerk auszeichnet.
2. Der Tod Gottes und die Entsagung
Der Tod Gottes, vom ‚tollen Menschen’ verkündet, wird im Laufe des Textes durch ein sich steigerndes Pathos und durch die Verwendung von Metaphern aus dem Bereich Natur, Kultur und Kosmos eindrucksvoll vermittelt, die Darstellung des Todes wird hier dramatisch zugespitzt:
[…]Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn gedödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?[…] (FW 125, S.481, Z. 15-23)
Die Notlage des Mörders sein Bedürfnis nach Trost, Sühne und Reinigung zu stillen und gleichzeitig diese Verlusterfahrung auszugleichen, soll zum Thema dieser Arbeit, zur Funktion der Kunst in der Fröhlichen Wissenschaft, führen. Gleichzeitig ist hier, im Wissen, dass ganze Bücher über den ‚Tod Gottes’, die ‚Kraft der Entsagung’ und die ‚Redlichkeit’ geschrieben worden sind, Gelegenheit, einige Begriffe wenigstens kurz in einen Kontext einzubetten.
Wie kann nun der Mensch den selbst herauf beschwörten Untergang des Christentums, den immensen Kraftverlust der Seele, die nicht mehr in einen Gott ‚ausfließen’ kann und soll verkraften? Die Antwort, die Nietzsche gibt, wird in dem oben zitierten Aphorismus als Frage gegeben. Der Mörder Gottes muss nun selbst gottähnlich werden, muss nun derjenige werden, der seiner Außenwelt die Eigenschaften verleiht. Er muss über sich hinaus wachsen und zum Dichter seiner selbst und seiner Außenwelt werden um als göttlicher Übermensch diesen toten Gott ersetzten zu können.[1] Dies bedeutet einen Kraftakt, eine Selbstüberwindung und ein ruheloses Dasein, wie es in einem Aphorismus des vierten Buches deutlich wird:
Excelsior!- „Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzen Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten - du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluthen in seinem Herzen trägt – es giebt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es giebt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgend einen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden: - Mensch der Entsagung, in Alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte Niemand diese Kraft!“ – Es giebt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfliesst. (FW 285, S. 527 f.)
Die Abwendung vom Christentum und vom Glauben an Gott wird durch die Entsagung selbst ertragen. Durch sie selbst kann der Mensch über sich hinaus wachsen. Ähnlich schildert Nietzsche das Verhältnis von Kraft und Verlust in einem anderen Aphorismus. „Ein Verlust ist kaum eine Stunde ein Verlust: irgendwie ist uns damit auch ein Geschenk vom Himmel gefallen – eine neue Kraft zum Beispiel und sei es auch nur eine Gelegenheit zur Kraft!“ (FW 326, Z.17 ff.). Die Entsagung, so klingt hier an, ist also selbst eine Form der Bejahung.[2] Hier wird bereits auf den neuen Gedanken, der in der Fröhlichen Wissenschaft vorgestellt wird, hingewiesen. Auf den amor fati werde ich im zweiten Kapitel noch einmal ausführlicher zurückkommen.
Auch schon in Morgenröthe beschäftigt sich Nietzsche mit dem Nachlassen der Spannung der Seele unter der Einwirkung der modernen Wissenschaft. Zugunsten einer neuen Tugend und Leidenschaft, der Redlichkeit, beschreibt Nietzsche dort eine bis dahin unbekannte Extensität der Entsagung.[3] In diesem Werk scheint die Leidenschaft der Redlichkeit den Gottesverlust noch ausreichend kompensieren zu können. In der Fröhlichen Wissenschaft allerdings genügt diese neue Tugend nicht mehr um den verstorbenen Gott zu ersetzen. Die Tugend der Redlichkeit bekommt hier einen neuen Stellenwert - und gleichzeitig eine Gegenmacht zur Seite gestellt: die Kunst.
2.1. Redlichkeit und Leidenschaft der Erkenntnis
In Nietzsches Aufzeichnungen wird der Begriff „Leidenschaft der Redlichkeit“ allmählich von „Leidenschaft der Erkenntnis“ abgelöst. Da diese Begriffe, wie zu zeigen sein wird, unmittelbar in Zusammenhang mit der Kunst in der Fröhlichen Wissenschaft stehen, ist eine kurze Begriffsgeschichte sicher von Nutzen.
Beide Begriffe beziehen sich wesentlich auf die Lebensform des Erkennenden. Der Erkennende muss in erster Linie gegen sich selbst und gegen die Bilder der Dinge, die er in sich trägt, redlich sein, weniger gegen andere. Da die Redlichkeit ein intellektueller, aber auch leidenschaftlicher Trieb ist, steht für den Menschen seine Disposition nicht zur Wahl. Dieser intellektuelle Trieb übernimmt sogar die Herrschaft über die anderen Triebe, vor allem über die moralischen und Selbsterhaltungstriebe.[4] Er beherrscht sogar den Intellekt selbst, den er zur Tätigkeit antreibt.[5] Aus dieser Tätigkeit des Triebes entspringt eine Lust an dieser Tätigkeit als Begleiterscheinung. Sie wird auch als ‚Wille nach Macht’ aufgefasst. Die Tätigkeit des Intellekts setzt also ein Gefühl der Macht frei, welches wiederum die treibende Kraft für die Redlichkeit ist. Sie zeigt sich dann als eine Form der Gerechtigkeit. Abseits von irgendeinem Affekt soll man zum Beispiel mehrere, auch sich widerstreitende Eigenschaften an einer Person gelten lassen. „Wer redlich gegen sich ist, ist gerecht gegen die Bilder der Dinge, die er in sich trägt“.[6] Die Übung des Intellekts in der Gerechtigkeit lässt schließlich ein Bedürfnis „nach der Erkenntnis der Dinge in ihrer Vielfalt“[7] entstehen.
Intellekt und Trieb bedingen sich gegenseitig, der Intellekt jedoch erscheint immer nur als ein Werkzeug der Triebe. Die Leidenschaft zur Redlichkeit bzw. die Leidenschaft der Erkenntnis entspringt und erwächst aus dem Trieb.
Zwischen beiden Begriffen scheint kein weitgehender Unterschied gemacht zu werden. In der Fröhlichen Wissenschaft kommt jedoch nur noch die Leidenschaft der Erkenntnis vor. Neben der äußeren Gleichgültigkeit war das besondere Merkmal der Leidenschaft des Erkennenden in der Morgenröthe die ernste Düsterkeit, eine Art gravitas. In Nietzsches späterem Werk wird eine „fröhliche Wissenschaft“ angestrebt – unter Zuhilfenahme der Kunst.
3.1 Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst
In der vorletzten Fassung von Excelsior! wird eine Form der Entsagung betont, die in der endgültigen Fassung dann nicht mehr auftaucht.[8] Diese Form der Entsagung fordert den Leser auf, seinem Auge das ‚ausrunden’ und ‚zu Ende dichten’ zu verwehren und sich in einem freiwilligen Verzicht zu üben.
Der Gedanke ist aber nicht verloren. In dem letzten Aphorismus des zweiten Buches erscheint er wieder – wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen.[9] Für das Verhältnis von Erkenntnis und Ästhetik, um das die Fröhliche Wissenschaft kreist, scheint Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst einer der aufschlussreichsten Fragmente in diesem Werk zu sein.
Hier stellt Nietzsche der Redlichkeit eine „Gegenmacht“ gegenüber, die helfen soll, den „Consequenzen“, die diese Redlichkeit „im Gefolge hat“ auszuweichen. Es ist die Kunst, der gute Wille zum Schein. War es in der vorletzten Fassung von Excelsior! noch unerwünscht, das „ewig Unvollkommene“ „zu Ende zu dichten“, so wird es dem menschlichen Auge hier nicht immer verwehrt.
[…] Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun hat aber unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine. Wir verwehren es unserem Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluss des Werdens tragen – dann meinen wir eine Göttin zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. […]“ (FW 107, S. 464)
Nun kann man die allegorischen Worte auf dem Korrekturbogen nicht ohne weiteres mit dem Resultat in dem gerade zitierten Aphorismus vergleichen. Hatte Nietzsche doch bei Excelsior! einen religiösen Hintergrund, während seine Gedanken hier vor einem ästhetischen Horizont entfaltet werden.[10] Es geht also um Verschiedenes. Trotzdem wird die Aussage in Hinblick auf die künstlerische Sichtweise auf die Dinge tatsächlich umgekehrt: Dort soll man der dichterischen Phantasie entsagen, die einen zum Abrunden der Dinge verhilft – hier soll man sie pflegen, sie ist sogar ausdrücklich erwünscht. Die dichterische Phantasie ist das einzige Mittel um der Redlichkeit von Zeit zu Zeit zu entkommen. Zwar strebt die Leidenschaft die ‚Einverleibung der Wahrheit’ an, doch ist dies, wie noch erklärt werden soll, gar nicht möglich. Um daran nicht zu verzweifeln, muss man sich in die Kunst flüchten. Nur durch die Künste, „diese Art von Cultus des Unwahren“, wird die Einsicht in die tatsächliche „Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins“ erträglich. (FW 107, Z. 10 ff.). Die Kunst ist die entscheidende Gegenkraft zur Selbstvernichtung.
[...]
[1] Vgl. Brusotti 1997, S.408.
[2] Vgl. ebd., S. 421.
[3] Vgl. ebd., S.385 ff.
[4] Vgl. ebd., S. 126.
[5] Vgl. ebd., S. 121 ff.
[6] Ebd. S.124, Z.20 ff.
[7] Ebd. S.125, Z.1 f.
[8] Vgl. ebd., S. 419.
[9] Vgl. ebd., S. 419 f.
[10] Vgl. ebd., S. 420.
- Quote paper
- Anna Groß (Author), 2004, Die Funktion der Kunst in der "Fröhlichen Wissenschaft" (Friedrich Nietzsche), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48415
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