Die politische Wahl stellt eine vergleichsweise wenig Engagement erfordernde Legitimation des politischen Systems seitens der Bevölkerung dar. Dennoch wächst der Anteil derjenigen Westeuropäer, die sich ihrer Wahlstimme enthalten. Der Anstieg des Nichtwähleranteils in Westeuropa bietet Anlass zu gezielten Untersuchungen und kritischen Fragen: Befindet sich Westeuropa in einem Stadium der Politikverdrossenheit? Nimmt das Vertrauen der Bürger in das demokratische System an sich ab? Welche Bedeutung wird politischen Institutionen wie dem Parlament in westeuropäischen Demokratien noch beigemessen? Ist die abnehmende Wahlbeteiligung Ausdruck einer allgemeinen Zufriedenheit mit der Funktionsweise des politischen Systems oder das Anzeichen für eine gestörte Beziehung zwischen Wählern und Gewählten?
Zur Beantwortung der vorliegenden Fragen werde ich in folgenden Schritten vorgehen: Im theoretischen Teil dieser Arbeit gilt es zunächst die Begriffe Politikverdrossenheit und Nichtwähler zu definieren. Anschließend werde ich die damit in Verbindung stehende Krisen- und Normalisierungsthese näher erläutern. Nach einer kurzen Analyse der Wahlbeteiligungsentwicklung in elf westeuropäischen Ländern, wird im empirischen Teil dieser Arbeit untersucht, ob Westeuropa sich in einem Stadium der Politikverdrossenheit befindet und welche “Objekte“ den Unmut der Bürger auf sich ziehen. Auf Grundlage des European Value Survey von 1999 werden dabei sowohl die Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen Wählern und Nichtwählern aufgezeigt. Mit den empirisch dargelegten Befunden zum Verhältnis von Demokratie und Nichtwahl, werde ich belegen, dass in Westeuropa von Demokratieverdrossenheit nichts zu verspüren ist und auch keine generelle Politikverdrossenheit vorherrscht, sondern der Unmut der Bürger sich in erster Linie auf Parteien und Politikern bezieht. Zum Ende dieser Arbeit wird es eine kurze Zusammenfassung geben, mit dem Ziel weitere Perspektiven für die zukünftige Forschung aufzuzeigen.
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen
Verzeichnis der Abbildungen
I. Einleitung
II. Theoretischer Teil
1. Das Michigan Modell
1.1. Die Bestandteile des Michigan-Modells
1.1.1.Die Parteibindung
1.1.2. Die Kandidatenorientierung
1.1.3. Die Issueorientierung
1.2. Die Zusammenhänge zwischen den drei Faktoren und der Wahlentscheidung
2. Die Anwendung des Michigan-Modells in der deutschen Wahlforschung
3. Fragestellung und Formulierung der Hypothesen
III. Empirischer Teil
1. Datenbasis und Operationalisierung der Thesen
1.1. Datenbasis
1.2. Operationalisierung der Thesen
2. Historischer Überblick: Entwicklungen im Wahlverhalten von Frauen und Männer im Zeitraum von 1953 -1987
2.1. Entwicklung der Wahlbeteiligung
2.2. Zweitstimmen nach Geschlecht und Partei (1953-1987)
2.3. Zusammenfassung
3. Entwicklung im Wahlverhalten von Männer und Frauen seit 1990
3.1. Wahlbeteiligung und Zweitstimmenvergabe nach Geschlecht
3.1.1. Westdeutschland
3.1.2. Ostdeutschland
3.1.3. Zusammenfassung
3.2. Die Existenz und Intensität der Parteibindung
3.2.1. Westdeutschland
3.2.2. Ostdeutschland
3.3. Zusammenhang zwischen Parteibindung und Parteiwahl
3.3.1. Westdeutschland
3.3.2. Ostdeutschland
3.3.3. Zusammenfassung
3.4. Beurteilung der Kanzlerkandidaten
3.4.1. Westdeutschland
3.4.2. Ostdeutschland
3.5. Sachthemen und die Problemlösungskompetenz der Parteien
3.5.1. Sachthemen
3.5.2. Problemlösungskompetenz der Parteien
3.5.3. Zusammenfassung
4. Der Einfluss der Parteibindung, Kandidaten- und Issueorientierung auf die Wahlentscheidung
4.1. Bundestagswahl 1990
4.1.1. Westdeutschland
4.1.2. Ostdeutschland
4.1.3. Die Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteibindung
4.2. Bundestagswahl 1994
4.2.1. Westdeutschland
4.2.2. Ostdeutschland
4.2.3. Die Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteibindung
4.3. Bundestagswahl 1998
4.3.1. Westdeutschland
4.3.2. Ostdeutschland
4.3.3. Die Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteibindung
4.4. Bundestagswahl 2002
4.4.1. Westdeutschland
4.4.2. Ostdeutschland
4.4.3. Die Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten-
und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteibindung
4.5. Zusammenfassung
IV. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang 1
Anhang 2
Verzeichnis der Tabellen
Tabelle 1: Datenbasis
Tabelle 2: Wahlbeteiligung der Frauen und Männern von 1953 bis 1987
Tabelle 3: Zweitstimmenanteile nach Geschlecht und Partei von 1953 bis 1987
Tabelle 4: Ergebnisse der Bundestagswahlen 1990-2002 in Prozent der
gültigen Zweitstimmen (Wahlgebiete West/Ost)
Tabelle 5: Unterschiede zwischen den Parteianteilen bei Männern und Frauen
im Zeitraum von 1990 bis 2002
Tabelle 6a: Parteineigung 1990 nach Geschlecht (West)
Tabelle 6b: Parteineigung 1990 nach Geschlecht (Ost)
Tabelle 6c: Parteineigung 1994 nach Geschlecht (West)
Tabelle 6d: Parteineigung 1994 nach Geschlecht (Ost)
Tabelle 6e: Parteineigung 1998 nach Geschlecht (West)
Tabelle 6f: Parteineigung 1998 nach Geschlecht (Ost)
Tabelle 6g: Parteineigung 2002 nach Geschlecht (West)
Tabelle 6h: Parteineigung 2002 nach Geschlecht (Ost)
Tabelle 7a: Stärke der Parteineigung 1990 (West)
Tabelle 7b: Stärke der Parteineigung 1994 (West)
Tabelle 7c: Stärke der Parteineigung 1994 (Ost)
Tabelle 7d: Stärke der Parteineigung 1998 (West)
Tabelle 7e: Stärke der Parteineigung 1998 (Ost)
Tabelle 7f: Stärke der Parteineigung 2002 (West)
Tabelle 7g: Stärke der Parteineigung 2002 (Ost)
Tabelle 8a: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1990 (Ost)
Tabelle 8b: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1990 (Ost)
Tabelle 8c: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1990 (West)
Tabelle 8d: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1990 (West)
Tabelle 8e: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1994 (Ost)
Tabelle 8f: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1994 (Ost)
Tabelle 8g: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1994 (West)
Tabelle 8h: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1994 (West)
Tabelle 8i: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1998 (Ost)
Tabelle 8j: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1998 (Ost)
Tabelle 8k: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1998 (West)
Tabelle 8l: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 1998 (West)
Tabelle 8m: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 2002 (Ost)
Tabelle 8n: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 2002 (Ost)
Tabelle 8o: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 2002 (West)
Tabelle 8p: Kandidatenbewertung nach Geschlecht 2002 (West)
Tabelle 9a: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 1990 (Ost)
Tabelle 9b: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 1990 (West)
Tabelle 9c: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 1994 (Ost)
Tabelle 9d: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 1994 (West)
Tabelle 9e: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 1998 (Ost)
Tabelle 9f: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 1998 (West)
Tabelle 9g: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 2002 (Ost)
Tabelle 9h: Kandidatenbewertung nach Geschlecht und Parteiwahl 2002 (West)
Tabelle 10a: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 1990 (Ost)
Tabelle 10b: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 1990 (West)
Tabelle 10c: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 1994 (Ost)
Tabelle 10d: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 1994 (West)
Tabelle 10e: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 1998 (Ost)
Tabelle 10f: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 1998 (West)
Tabelle 10g: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 2002 (Ost)
Tabelle 10h: Zuweisung der Issuekompetenz nach Geschlecht 2002 (West)
Tabelle 11a: Der Einfluss von Parteibindung, Kandidaten und Sachfragen
auf die Wahlentscheidung in Ostdeutschland (CDU Wahl)
Tabelle 11b: Der Einfluss von Parteibindung, Kandidaten und Sachfragen
auf die Wahlenscheidung in Ostdeutschland (SPD Wahl)
Tabelle 11c: Der Einfluss von Parteibindung, Kandidaten und Sachfragen
auf die Wahlentscheidung in Westdeutschland (CDU/CSU Wahl)
Tabelle 11d: Der Einfluss von Parteibindung, Kandidaten und Sachfragen
auf die Wahlentscheidung in Westdeutschland (SPD Wahl)
Tabelle 12a: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung 1990 (Ost)
Tabelle 12b: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Parteineigung,
Kandidaten- und Issueorientierung 1990 (West)
Tabelle 12c: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Parteineigung,
Kandidaten- und Issueorientierung 1994 (Ost)
Tabelle 12d: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Parteineigung,
Kandidaten- und Issueorientierung 1994 (West)
Tabelle 12e: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Parteineigung,
Kandidaten- und Issueorientierung 1998 (Ost)
Tabelle 12f: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Parteineigung,
Kandidaten- und Issueorientierung 1998 (West)
Tabelle 12g: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Parteineigung,
Kandidaten- und Issueorientierung 2002 (Ost)
Tabelle 12h: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Parteineigung,
Kandidaten- und Issueorientierung 2002 (West)
Tabelle 13a: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteineigung 1990 (West)
Tabelle 13b: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteineigung 1994 (Ost)
Tabelle 13c: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteineigung 1994 (West)
Tabelle 13d: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteineigung 1998 (Ost)
Tabelle 13e: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteineigung 1998 (West)
Tabelle 13f: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteineigung 2002 (Ost)
Tabelle 13g: Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidung, Kandidaten- und Issueorientierung bei Kontrolle der Parteineigung 2002 (West)
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 1a: Wahlabsicht nach Geschlecht bei den Bundestagswahlen
1990 bis 2002 (Westdeutschland)
Abbildung 1b: Wahlabsicht nach Geschlecht bei den Bundestagswahlen
1990 bis 2002 (Ostdeutschland)
Abbildung 2a: Zusammenhang zwischen Parteineigung und Parteiwahl
(Westdeutschland)
Abbildung 2b: Zusammenhang zwischen Parteineigung und Parteiwahl
(Ostdeutschland)
Abbildung 3: Das wichtigste Problem in Deutschland
I. Einleitung
Geschlechtsspezifische Wahlergebnisse bilden häufig den Kern der von Parteien und Medien erstellten Wahlanalysen. Auch in den Wahlberichterstattungen nimmt ihre Darstellung einen breiten Raum ein. In der wissenschaftlichen Literatur ist das Forschungsthema “Wahlverhalten nach Geschlecht“ dagegen bisher nicht allzu häufig bearbeitet worden. Seit Beginn der Wahlforschung wurde das Geschlecht als eher nicht wahlverhaltensrelevanter Faktor angesehen. Die heutzutage weitgehende Übereinstimmung zwischen Männern und Frauen in der Wahlentscheidung scheint den Status als „background“-Variable zu rechtfertigen (vgl. Molitior 1992: 16ff.).
Allerdings kann aus den geringen Unterschieden in der Stimmabgabe nicht zwangsläufig geschlossen werden, dass auch die Einflussfaktoren auf die Wahlentscheidung bei Männern und Frauen identisch sind. Ziel dieser Arbeit ist deshalb, das individuelle Wahlverhalten von Männern und Frauen in einer Langzeitstudie genauer zu analysieren und die Bedeutung unterschiedlicher Einflussfaktoren für beide Geschlechter zu prüfen. Folglich liegt dieser Arbeit die kritische Frage zugrunde: Ist das Wahlverhalten von Frauen und Männern wirklich identisch?
Um Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Wahlverhalten zwischen Frauen und Männer aufzudecken, werde ich in folgenden Schritten vorgehen: Im theoretischen Teil dieser Arbeit wird das Michigan-Modell, eines der wichtigsten Erklärungsmodelle des Wählerverhaltens und zugleich theoretische Basis dieser Arbeit, vorgestellt. Es reflektiert den Einfluss von Parteibindungen, tagespolitischen Sachfragen sowie politischen Spitzenkandidaten auf die Wahlentscheidung. Anschließend werden die Hypothesen ausgehend vom theoretischen Modell formuliert.
Im empirischen Teil dieser Arbeit wird in einem kurzen Überblick zunächst die Entwicklung des Wahlverhaltens von Männern und Frauen seit 1953 dargestellt. Die deskriptive Aufbereitung des statistischen Materials soll Basisinformationen darüber liefern, ob es Unterschiede im Wahlverhalten der Geschlechter gab oder noch gibt und ob bzw. welche Veränderungen stattgefunden haben. Für den Zeitraum von 1990 bis 2002 folgen detaillierte geschlechtspezifische Analysen für jede Bundestagswahl. Die Untersuchung erfolgt nach getrennten Elektoraten, also sowohl für Ost- und Westdeutschland. Im Mittelpunkt stehen dabei die Entwicklung der Parteineigung, die Bewertung der jeweiligen Kanzlerkandidaten sowie die Beurteilung der Lösungskompetenz der Parteien in Bezug auf das wichtigste Problem in Deutschland. Im letzten Schritt wird geprüft, welche(s) dieser drei Kriterien für Männer und Frauen wirklich wahlentscheidend sind. Es wurde versucht ein einfaches Modell zu finden, welches die Bedeutung und Veränderung der Determinanten des Wahlverhaltens wiedergibt. Aus diesem Grund wurden für den letzten Teil der Arbeit nur die Wähler/Innen der CDU/CSU und SPD untersucht.
Mit den empirischen Befunden werde ich belegen, dass das Wahlverhalten von Männern und Frauen keineswegs vollkommen identisch ist. Darüber hinaus wird nachgewiesen, dass der Parteibindung, den Kandidaten und den Sachfragen zum Teil unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird und deren Einfluss auf die Wahlentscheidung zwischen den Geschlechtern variiert.
Zum Ende dieser Arbeit wird es eine kurze Zusammenfassung geben, mit dem Ziel die Tendenzen künftigen Wählerverhaltens von Frauen und Männern zu prognostizieren und weitere Perspektiven für die zukünftige Forschung aufzuzeigen.
II. Theoretischer Teil
1. Das Michigan Modell
Selbst umfangreiche und komplexe Datensätze wie die des Politbarometers sind, für sich allein betrachtet, zur Erklärung von Wählerverhalten ohne Wert. Ihre Bedeutung, ihren Sinn und ihre Erklärungskraft erlangen sie erst innerhalb von theoretischen Erklärungsmodellen.[1] Im Folgenden sollen nun die Bestandteile des Michigan-Modells, eines der wichtigsten Erklärungsmodelle des Wählerverhaltens und gleichzeitig die theoretische Grundlage für diese Arbeit, vorgestellt werden.
Das Michigan-Modell wird aus zwei Gründen als geeignet für diese Untersuchung angesehen: Erstens, weil sich das Modell mit der Wahlentscheidung der Wähler als Individuen beschäftigt und nicht soziale Gruppen betrachtet. Zweitens, weil es einen Bezug zwischen dem Wählerverhalten und entsprechenden, vorgelagerten Einflussfaktoren herstellen kann.
Der als individualpsychologische, “Ann Arbor-“ oder “Michigan-Modell“ bezeichnete Ansatz wurde während der Untersuchungen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen der fünfziger Jahre von Angus Campbell und seinen Mitarbeiter von der University of Michigan, Ann Arbor, entwickelt. Im Gegensatz zum eher statischen soziologischen Ansatz sollte das neue Erklärungsmodell nicht nur dynamischer sein, sondern sich darüber hinaus auch zu Prognosezwecken eignen.
Der Wandel von der soziologischen zur sozialpsychologischen Perspektive erfolgte durch die Verlagerung der Erklärung der Wahlentscheidung von gruppenbezogenen-soziologischen Faktoren zu individualpsychologischen Variablen (vgl. Bürklin/Klein 1998: 57). Während beim soziologischen Modell vor allem die verhaltensrelevante Bedeutung des sozialen Umfelds (Sozialstruktur) einen direkten Einfluss auf das politische Verhalten hat, wird im individualpsychologischen Ansatz die Sozialstruktur nur noch über politische Einstellungen vermittelt. Diese Einstellungen sind das Produkt wiederholter Erfahrungen mit der eigenen Umwelt und bilden einen Wahrnehmungsfilter (Funnel of Causaltity), über den Personen ihre gegenwärtige und zukünftige Umwelt wahrnehmen (vgl. Bürklin/Klein 1998: 57).
Obwohl das Michigan-Modell auf Studien zum amerikanischen Wählerverhalten in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts basiert, konnte seine grundsätzliche Aussagekraft bis heute auch in Deutschland immer wieder nachgewiesen werden (vgl. Falter/Schoen/Caballero (2000); Gabriel (1997); Rattinger (1994); Bluck/Kreikenbom (1991)).
1.1. Die Bestandteile des Michigan-Modells
Das Michigan-Modell führt die Wahlentscheidung auf die drei Faktoren Parteibindung, Issueorientierung und Kandidatenorientierung zurück.
Das Modell kam erstmals 1952 zur Anwendung und diente zur Erklärung der amerikanischen Präsidentschaftswahlen, also der Wahlentscheidung zwischen den beiden großen amerikanischen Parteien (vgl. Gabriel 1997: 234). Deswegen ist es bei der Übertragung auf deutsche Wahlen geeignet, die Wahlentscheidung zwischen den großen Parteien CDU/CSU und SPD bzw. zwischen deren Spitzenkandidaten zu erklären.
Bevor der Zusammenhang zwischen der Wahlentscheidung und den drei Faktoren hergestellt wird, werden zunächst jeweils die einzelnen Bestandteile des Michigan-Modells für sich betrachtet.
1.1.1. Die Parteibindung
Kernstück des Michigan-Modells bildet die individuelle Parteiidentifikation (PID), eine längerfristige affektive Bindung des Wählers an eine politische Partei. Im englischen Original wird sie „party identification“ genannt. In dieser Arbeit werden die Begriffe Parteibindung, Parteiidentifikation und Parteineigung synonym verwendet.
Die Parteibindung koloriert nicht nur Einstellungen, sondern beeinflusst auch das politische Verhalten einer Person zugunsten einer Partei. Anders gesagt: „Sie stabilisiert das Wahlverhalten im Sinne der Identifikationspartei“ (Falter/Schoen/Caballero 2000: 238). Folglich nehmen Anhänger einer Partei regelmäßiger und mit höherer Wahrscheinlichkeit an einer Wahl teil, sie neigen weniger zur Wechselwahl und nutzen die Möglichkeit des Stimmensplittings im Vergleich zu den “nichtgebundenen“ Wählern nur unterdurchschnittlich häufig (vgl. Schoen 2000: 361ff.).
Die Parteiidentifikation entsteht in einer frühen Phase der „politischen Sozialisation durch Elternhaus, Freundeskreis oder Mitgliedschaft in politischen Gruppen und beeinflusst, einmal ausgeprägt, die Wahrnehmung sowie die Bewertung politischer Ereignisse in hohem Maße“ (Korte 2000: 90). Personen können sich verschieden stark mit einer Partei identifizieren. Campbell bildet daraus eine siebenstufige Skala, auf der die Wähler eingeordnet werden können. Die Skala reicht von „Strong Republicans, Weak Republicans, Independent Republicans, Independents, Independent Democrats, Weak Democrats“ bis zu „Strong Democrats“ (Campbell et al. 1960: 124). Je stärker die Intensität der Parteineigung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese einen Teil der eigenen Identität bildet. In der Literatur wird sie deshalb häufig einer „psychologischen“ Parteimitgliedschaft gleichgesetzt (vgl. Bürklin/Klein 1998: 59).
Neben der Parteiidentifikation existieren noch zwei weitere wichtige Einflussfaktoren: die Kandidatenorientierung und die Einstellungen zu aktuellen politischen Streitfragen (Issueorientierung).
1.1.2. Die Kandidatenorientierung
Der zweite Faktor, der die Wahlentscheidung beeinflusst, ist die Bewertung der politischen Kandidaten. Da das Modell für die Präsidentschaftswahlen in den USA entwickelt wurde, werden als Kandidaten die im Wahlkampf gegeneinander antretenden Spitzenpolitiker der beiden großen amerikanischen Parteien gesehen. Auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen, umfasst die Kandidatenorientierung die Einschätzung und Bewertung der Kanzlerkandidaten der SPD und der Unionsparteien CDU/CSU. Grundsätzlich kann die Kandidatenorientierung eines Wählers bzw. einer Wählerin auch die Bewertung anderer politischer Persönlichkeiten, wie der im Falle eines Wahlsiegs designierten Minister oder Wahlkreiskandidaten einschließen. Welche Politiker wahrgenommen werden, ist demnach von Wähler zu Wähler sehr verschieden.
Eine differenzierte Erhebung der Kandidatenorientierung und deren Einfluss auf die Wahlentscheidung ist empirisch nur mit großem Aufwand zu erreichen. In dieser Arbeit wird unter Kandidatenorientierung deshalb die Bewertung der Kanzlerkandidaten verstanden. Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass die (überwiegende) Mehrheit der Wahlberechtigten die beiden Kandidaten kennt und eine Meinung zu ihnen hat. Zum anderen ist die Bewertung der Kanzlerkandidaten wahrscheinlich die prägendste Einstellung innerhalb der Kandidatenorientierung. Im Gegensatz zur Parteibindung ist die Kandidatenorientierung aufgrund der wechselnden Herausforderer als kurzfristiger Einfluss auf die Wahlentscheidung konzipiert.
Bisher ungeklärt ist, welche Kandidateneigenschaften Männern und Frauen wahrnehmen und nach welchen Kriterien diese bewertet werden. So können politische Eigenschaften wie Fachkompetenz, Führungsstärke oder Verhandlungsgeschick wahrgenommen werden. Bei anderen Wählern fallen eher unpolitische Eigenschaften wie physische Attraktivität oder allgemeine Sympathie ins Gewicht (vgl. Brettschneider 1998). Einen ausdifferenzierten Standard über die verschiedenen Kanzlereigenschaften gibt es jedoch nicht. Auch in den Umfragen des Politbarometers werden verschiedene Kanzlereigenschaften erst seit kurzem berücksichtigt. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit eine allgemeine Einschätzung der Spitzenkandidaten durch das Sympathie-Skalometer zugrunde gelegt. Was sich genau hinter dieser allgemeinen Einschätzung durch den einzelnen Wähler verbirgt, kann nicht geklärt werden und liegt nicht im Interesse dieser Untersuchung. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass nicht die absolute Einschätzung eines Kandidaten die ausschlaggebende Rolle für die Wahlentscheidung spielt, sondern der Abstand zwischen den beiden konkurrierenden Kanzlerkandidaten. Folglich wird die Kandidatenorientierung als Abwägen zwischen den beiden Spitzenpolitikern verstanden, wobei bedeutend ist, wie groß der Abstand zwischen den beiden Kandidaten in der Bewertung durch die Wähler ist.
1.1.3. Die Issueorientierung
Das Konzept der Issueorientierung geht davon aus, dass bei jeder Wahl bestimmte politische Sachfragen (political issues) umstritten sind. Die Wähler richten demnach ihre Wahlentscheidung unter anderem auch danach aus, welche Probleme sie für wichtig halten und welcher Partei sie die bessere Lösung dieser Probleme zutrauen (Issuekompetenz).
Die Begriffe „Sachfrage“ oder „Sachthema“ werden in der deutschsprachigen Literatur synonym für den anglo-amerikanischen Begriff „political issue“ verwendet. In deutschen Umfragen ist häufig auch von einem „wichtigen Problem“ die Rede. Der inhaltliche Kern des Begriffs “political issue“ wird in der Literatur nur selten präzise definiert. Während Campbell et al. political issues ganz allgemein als „questions of public policy“ bezeichnen, die das Verhalten der Wahlbürger beeinflussen können, bietet Shala einen weitaus präziseren Vorschlag (Campbell et al. 1960: 168). Folglich werden mit political issues „lösungsbedürftige Probleme und anstehende aktuelle Themen der Gesellschaft konnotiert, deren Bewältigung von den politischen Akteuren erwartet wird“ (Shala 2001: 21).
Eine noch differenziertere Betrachtung bietet Donald E. Stokes. Von ihm stammt die klassische Unterscheidung zwischen Position- und Valenzissues (vgl. Stokes 1963, 1966). Bei Positionissues handelt es sich um gegensätzliche politische Ziele, also um Themen und Probleme, zu denen politische Akteure ganz unterschiedliche Auffassungen haben. Positionissues, wie zum Beispiel die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs oder die Abschaffung der Atomkraft, in denen die Gesellschaft gespalten ist, werden nach E. Stokes nicht unter Issueorientierung erfasst. So ist die grundsätzliche Position bei solchen Issues eher eine langfristige Einstellung und schlägt sich bei den Wählern in der Parteibindung nieder (vgl. Shala 2001: 22).
Die Bedeutung von Positionissues sollte jedoch nicht überbewertet werden, da diese in der Realsituation der Parteienkonkurrenz kaum auftauchen. So kommt Shala zu dem Befund, dass „die Kommunikationsstrategie politischer Akteure insbesondere im Wahlkampf die Thematisierung polarisierender, gesamtgesellschaftlich nicht konsensfähiger Themen systematisch meidet“ (Shala 2001: 22). Vor allem die großen Volksparteien scheuen die Risiken einer solchen Polarisierung in ihrer heterogenen Anhängerschaft.
Im Gegensatz zu den Positionissues besteht über die Bewertung der Valenzissues zwischen den konkurrierenden Parteien Einigkeit. Es unterscheiden sich lediglich die Handlungsalternativen der politischen Akteure (vgl. Stokes 1966: 21). Zu den in Wahlkampfzeiten häufig thematisierten Valenzissues zählen beispielsweise die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die wachsende Bedeutung des Umweltschutzes oder die Friedenssicherung.
Sowohl Kandidaten- als auch Issueorientierung sind als kurzfristige Einflüsse auf die Wahlentscheidung konzipiert. Die Auswirkung des Faktors Issueorientierung auf das Wahlverhalten hängt stark von der Informiertheit des Wählers ab. Folglich entwickelt der Wähler nur dann eine Parteienpräferenz, wenn ihm die Streitfragen bekannt sind, er eine Meinung dazu hat und eine der konkurrierenden Parteipositionen für vorteilhaft hält.
Unter Issueorientierung wird in dieser Arbeit die Lösungskompetenz verstanden, die den Parteien von den Wählern zugeschrieben wird. Ausschlaggebend sind dafür die Issues, welche den Wählern persönlich am wichtigsten erscheinen.
1.2. Die Zusammenhänge zwischen den drei Faktoren und der Wahlentscheidung
Bei der individuellen Wahlentscheidung spielen im Michigan-Modell alle drei Faktoren (Parteibindung, Kandidaten- und Issueorientierung) zusammen. Je eindeutiger und konsistenter diese drei Einstellungen zusammenpassen, umso stabiler wird die Wahlentscheidung ausfallen.
Entscheidend für die Zusammenhänge zwischen den drei Determinanten und der Wahlentscheidung ist, dass das Modell in langfristige und kurzfristige Einflüsse unterscheidet. Die Parteibindung ist dabei der langfristige Einfluss. Sie strukturiert die Kandidatenorientierung sowie die Bewertung politischer Sachfragen. Darüber hinaus wirkt sie wie ein Wahrnehmungsfilter, der den Blick eines Menschen auf das politische Geschehen beeinflusst. Demzufolge wird eine starke Identifikation mit einer Partei auch dazu führen, „dass eine Person auch eher die Standpunkte dieser Partei zu unterschiedlichen Sachthemen bezieht und den Kandidaten dieser Partei positiver einschätzt“ (Bürklin/Klein 1998: 59).
Diese Schlussfolgerung muss jedoch nicht immer zutreffen. Zwar erfolgt die Wahlentscheidung in der Regel entsprechend der langfristig stabilen Parteiidentifikation, „allerdings kann es bei einzelnen Wahlen durchaus auch zu kurzzeitigen Dissonanzen zwischen den drei Variablen kommen. Subjektiv als entscheidend empfundene Personal- oder Sachfragen lassen dann unter Umständen die punktuelle Wahlentscheidung auch entgegen der langfristig wirksamen Parteiidentifikation ausfallen“ (Korte 2000: 90).[2] Obgleich prinzipiell wandelbar, ändert sich die Parteibindung aufgrund ihrer herausragenden Stellung auch bei kurzzeitigen Dissonanzen in der Regel nicht.
Der Vorteil des Michigan-Modells gegenüber anderen Erklärungsmodellen liegt in der vielfältigen Betrachtungsweise. So betont der individualpsychologische Ansatz eben nicht nur die soziale Verankerung des politischen Meinungsprozesses, also die durch familiäre und gesellschaftliche Sozialisierung herausgebildete Parteiidentifikation, sondern auch kurzfristige Einflüsse auf die Wahlentscheidung, nämlich die Kandidatenbewertung und Einstellungen zu aktuellen politischen Streitfragen. Durch das Kombinieren dieser verschiedenen Variablen ist das Michigan-Modell sehr gut geeignet, „die komplexen Vorgänge der Wahlentscheidung auf einem hohen theoretischen Niveau widerspiegeln zu können“ (Korte 2000: 90). Für die Wahlforschung ist das Michigan-Modell mittlerweile unverzichtbar geworden, unter anderem deshalb, weil alle Modellaussagen durch die regelmäßig erhobenen Umfragedaten[3] auch empirisch überprüfbar sind.
Nachdem in diesem Abschnitt das Michigan-Modell vorgestellt und eine Begründung bzw. die Vorteile für dessen Anwendung dargelegt wurden, folgt im nächsten Kapitel ein kurzer Überblick über die wissenschaftliche Diskussion, die um die Anwendung des amerikanischen Konzepts der Parteiidentifikation in der Bundesrepublik entbrannt ist.
2. Die Anwendung des Michigan-Modells in der deutschen Wahlforschung
Für die bundesdeutsche Wahlforschung waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem die Erkenntnisse amerikanischer Umfragestudien prägend. Während das rein mikrosoziologisch orientierte Erklärungsmodell von Lazarsfeld nur eine marginale Rolle spielte, dominierte das umfassende Michigan-Modell die bundesdeutsche Diskussion von Anfang an (vgl. Bürklin/Klein 1998: 65ff.). Die soziologischen Einflussfaktoren wurden jedoch als den individualpsychologischen Konstrukten vorgelagerte Einflussgrößen weiter berücksichtigt.
Da wie in den USA auch in Deutschland „eine relative hohe Stabilität der Wählerstrukturen festgestellt werden konnte, gab es (…) bereits sehr früh Versuche, dieses stabilisierende Element in Gestalt der Parteiidentifikation analytisch zu bestimmen“ (Bürklin/Klein 1998: 66).
Die ersten Probleme ergaben sich bei der Operationalisierung der Parteiidentifikation, insbesondere bei der angemessenen Formulierung einer Fragestellung. Da die Gültigkeit verschiedener Fragestellungen durch den sich ständig ändernden Prozentsatz der Parteianhänger immer wieder bezweifelt wurde, entwickelten Wahlforscher 1972 eine Formulierung, in der die Nähe zu einer Partei als „Parteineigung“ bezeichnet wurde.[4] Die überarbeitete Formulierung entsprach nicht nur dem konkreten Sachverhalt - eine längere Parteineigung, die auch durch kurzfristige Faktoren beeinflusst werden kann - sondern klassifizierte auch etwa drei Viertel aller Wähler als „parteigebunden“. Auf diesem validen Ergebnis basierend, hat sich die Frage nach der Parteineigung als eine der Standardfragen in der deutschen Wahlforschung durchgesetzt.[5]
Um letzte Zweifel an der Übertragbarkeit des Michgan-Modells in die deutsche Wahlforschung zu beseitigen, untersuchte Gluchowski (1983) die Inhalte des Konstrukts der Parteiidentifikation mit einer multiplen Indikatorenanalyse (vgl. Gluchowski 1983: 467ff.). In seiner Untersuchung kommt Gluchowski zu dem Ergebnis, dass bei 82 Prozent der Personen, die sich in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage als parteigebunden bezeichneten, die Bedeutungsdimension der eigentlichen Parteiidentifikation stärker ausgeprägt war als eine situative Parteiidentifikation, die durch das Abwägen der politischen Alternativen gekennzeichnet ist, oder eine habituelle Parteipräferenz, der zufolge man eine bestimmte Partei schon immer gewählt hat. Mit diesem Ergebnis konnte Gluchowski dazu beitragen, dass die Übertragung des Konzepts der Parteiidentifikation auch für die Bundesrepublik bestätigt werden konnte.
Allerdings gab es in der empirischen Wahlforschung immer wieder Diskussionen über die Gewichtung der Effekte der Parteineigung, Kandidaten- und Issueorientierung. Trotz zahlreicher Versuche der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Modells wurde unter anderem die relative Bedeutung verschiedener Sozialisationseinflüsse kritisiert (vgl. Bürklin/Klein 1998: 59ff.; Falter/Schoen/Caballero 2000: 239). Im Mittelpunkt der Debatte stand die Frage, ob der Effekt der Parteiidentifikation wirklich einen langfristigen stabilen Charakter hat und innerhalb der Michigan-Trias den größten Einfluss auf das Wahlverhalten ausübt oder vielleicht doch denselben analytischen Status besitzt wie die eher kurzfristig einzuschätzenden Einflüsse der jeweils unterschiedlichen Kandidaten und der wechselnden politischen Probleme. Für die letzte Vermutung spricht die Tatsache, dass sich die in den Wahlstudien erhobenen Issues seit 1972 nicht wesentlich geändert haben. So wurden bei der Frage nach den wichtigsten Problemen in Deutschland fast immer die Issues Arbeitslosigkeit, Renten, Umweltschutz und deutsche Wiedervereinigung genannt. Dieser Befund spricht dafür, die Issueorientierung nicht als kurzfristigen, wechselnden Faktor zu sehen. Dagegen spricht, dass die Wahlstudien Issues nur sehr grob erfassen. So kann „Arbeitslosigkeit vermindern“ 1972 unter anderen Umständen diskutiert worden sein, als es 2002 der Fall war. Auch die Lösungsangebote der Parteien können sich geändert haben, so dass die Kompetenzzuschreibung durchaus anders ausfällt.
Da es bisher keine empirische Untersuchung gibt, die feststellt, ob sich die Issueorientierung langfristig bei den Wählern ändert, muss davon ausgegangen werden, dass es sich um einen kurzfristigen Faktor handelt. Bei der Kandidatenorientierung ist der kurzfristige Aspekt eindeutig, da bei jeder Bundestagswahl seit 1990 Kanzlerkandidaten nominiert wurden, die noch nie gegeneinander angetreten sind. Zwar trat Helmut Kohl im untersuchten Zeitraum dreimal als Kanzlerkandidat der Union an, er war jedoch immer mit einem anderen Herausforderer konfrontiert. Da die Kandidatenorientierung als Abwägung der beiden Kandidaten gesehen wird, ändert sie sich auch dann, wenn sich nur einer der zur Auswahl stehenden Kandidaten ändert.
Ausgehend von den theoretischen Überlegungen des Michigan-Modells sollen nun die für die Arbeit zu untersuchenden Hypothesen für das Wahlverhalten von Männern und Frauen formuliert werden.
3. Fragestellung und Formulierung der Hypothesen
In der bisherigen Wahlforschung wurde der Frage nach den Gründen für geschlechtsspezifisches Wahlverhalten nur selten nachgegangen. Anfang der siebziger Jahre wurden die statistischen Unterschiede im Wahlverhalten zunächst mit geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern[6] begründet. Neuere Studien untersuchen in erster Linie den Einfluss des sozialen Umfelds, also der Familie, des Freundes- oder Kollegenkreises (vgl. Eith 1991: 173). Das Erklärungspotential des Michigan-Modells wurde in diesem Zusammenhang bisher noch nicht untersucht. Um diese Forschungslücke zu schließen, muss die Frage nach einem identischen Wahlverhalten von Männern und Frauen erneut gestellt werden. Im Erkenntnisinteresse steht dabei die (unterschiedliche) Bedeutung der Parteibindung sowie der Sachthemen- und Kandidatenorientierung für die Wahlentscheidung von Männern und Frauen. Bei der Auswertung der Literatur zum geschlechtsspezifischen Wahlverhalten lassen sich bis 1990 folgende Befunde konstatieren (vgl. Molitor 1992).
1. Die Wahlbeteiligung von Frauen ist niedriger als die der Männer.[7]
2. Während sich die geschlechtsspezifischen Stimmergebnissen bei großen Volksparteien kaum noch unterscheiden, verzeichnen kleinere Parteien deutliche Männer- oder Frauenüberschüsse.
3. Es besitzen grundsätzlich mehr Männer eine Parteibindung als Frauen.
4. Die Parteibindung der Männer ist häufig stärker ausgeprägt als die der Frauen.
In den folgenden Kapiteln werden die Befunde von Ute Molitor wieder aufgenommen und für den Zeitraum von 1990 bis 2002 für die alten und neuen Bundesländer überprüft. Darüber hinaus lassen sich basierend auf den bisherigen Forschungsergebnissen zwei Hypothesen für das Wahlverhalten von Männern und Frauen formulieren:
1. Männer treffen ihre Wahlentscheidung aufgrund ihrer Parteineigung. Kandidaten- und Issueorientierung spielen eine untergeordnete Rolle.
2. Frauen messen kurzfristigen Einflussfaktoren, also Kandidaten und Sachfragen, eine größere Bedeutung bei als Männer. Die Parteineigung verliert dagegen an Erklärungspotential.
Da davon ausgegangen wird, dass das gesamte Michigan-Modell nicht an Erklärungskraft verliert, scheint bei den Frauen eine Verschiebung der Einflussfaktoren zugunsten der Issue- und Kandidatenorientierung stattzufinden. Das Männer ihre Wahlentscheidung in erster Linie entsprechend ihrer Parteineigung treffen, basiert auf dem Befund, wonach Männer häufig eine stark ausgeprägte Parteibindung besitzen. Die Vermutung, dass die Bewertung der Kanzlerkandidaten und Sachfragen bei Frauen einen größeren Einfluss gewinnt, ist mit der weniger intensiv ausgeprägten Parteineigung begründet.
Im nachfolgenden empirischen Teil dieser Arbeit wird versucht, die dargelegten Befunde und Hypothesen schrittweise zu überprüfen.
III. Empirischer Teil
1. Datenbasis und Operationalisierung der Thesen
1.1. Datenbasis
Zur Beschreibung der objektiven Entwicklungstendenzen des geschlechtsspezifischen Wahlverhaltens wird auf die Methode der quantitativen empirischen Datenanalyse zurückgegriffen. Als Datenbasis werden die aggregierten Umfragedaten des Politbarometers von 1990 bis 1998 sowie der Bundestagswahlstudie 2002 verwendet (vgl. Tabelle 1). Beim Politbarometer handelt es sich um die monatlichen Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen (Mannheim) für das ZDF, die seit Herbst 1977 durchgeführt und im Frühjahr 1990 auf Ostdeutschland ausgedehnt wurden. Die Aggregation zu Monatswerten erfolgte bei repräsentativer Gewichtung, getrennt für alte und neue Bundesländer und bei Ausschluss fehlender Werte. Die Bundestagswahlstudie 2002, erhoben durch das Meinungsforschungsinstitut Inra (Mölln), enthält Informationen zum Wählerverhalten im vereinigten Deutschland.
Bei allen verwendeten Umfragedaten handelt es sich um Individualdaten. Sie geben Auskunft über politische Partizipation und Einstellungen sowie Verhaltens- und Einstellungsbegründungen der Individuen einer Grundgesamtheit. In der Wahlforschung ermöglichen Individualdaten in den meisten Fällen generalisierbare Aussagen, das heißt, ausgehend von repräsentativen Zufallstichproben können Rückschlüsse auf das Wahlverhalten von Frauen und Männern insgesamt gezogen werden.
In dieser Arbeit dienen ausschließlich die Befragungsmonate unmittelbar vor der Wahl als Untersuchungszeitraum. Diese Einschränkung ist notwendig, da in den meisten Nachwahlbefragungen keine Erhebungen zur Einschätzung der Kandidaten und aktuellen Sachfragen durchgeführt wurden.
1.2. Operationalisierung der Thesen
Um die formulierten Thesen zu überprüfen, wurden den Datensätzen die abhängige Variable Wahlentscheidung (Zweitstimme) sowie Perzeptionsdaten zu Parteineigung, Kandidaten und Sachfragen entnommen. Im Einzelnen handelt es sich dabei um auf die „Sonntagsfrage“ angegebene Wahlabsicht, die Frage nach der Parteineigung und deren Intensität, die elfstufige (von -5 bis +5) Kandidatensympathieskala, die Frage nach dem wichtigsten Problem in Deutschland sowie um die Zuschreibung der jeweiligen Parteilösungskompetenz.
Nach dem Michigan-Modell ist die Parteibindung eine langfristig stabile Einstellung. Da es jedoch keine Paneluntersuchung gibt, die von Wahl zu Wahl dieselben Männer und Frauen befragt, kann diese Annahme nicht empirisch geprüft werden. Bei dieser Untersuchung muss deshalb auf die Wahlstudien zu den einzelnen Bundestagswahlen zurückgegriffen werden. In denen werden die Befragten zwar nach ihrer langfristigen Parteineigung gefragt, jedoch findet diese Aussage immer zu einem bestimmten Zeitpunkt statt. Wie langfristig die Angabe der Personen wirklich ist, lässt sich deshalb nicht überprüfen.
Die Untersuchung der Hypothesen erfolgt getrennt nach Ost- und Westdeutschland. Diese Trennung ist notwendig, da sich die Parteienlandschaft in der alten Bundesrepublik nach wie vor von der in den neuen Bundesländern unterscheidet. Während sich im Westen seit Beginn der achtziger Jahre ein bipolares Vierparteiensystem bestehend aus CDU/CSU und FDP versus SPD und Grüne entwickelt hat, konnte sich im Osten die stark links gerichtete PDS neben den beiden großen Volksparteien als „dritte Kraft“ in der Parteienlandschaft etablieren.[8]
Darüber hinaus kommen Wahlforscher zu dem Befund, dass auch zukünftig von einem unterschiedlichen Wahlverhalten der ostdeutschen Bürger im Vergleich zu ihren westdeutschen Mitbürgern ausgegangen werden kann (vgl. Pickel/Pollack 2000: 96ff.). Diese Prognose wird unter anderem mit der mäßig ausgeprägten Parteibindung der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger, der noch existierenden sozialstrukturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sowie der differierenden politischen Einstellungen z.B. zur Bewertung der Idee der Demokratie oder zur perzipierten Wirtschaftslage begründet.
Im nächsten Kapitel folgt ein kurzer historischer Überblick über die Entwicklungen im Wahlverhalten von Männern und Frauen bis 1987. Anschließend werden eigene Berechnungen für den Zeitraum von 1990 bis 2002 ausgewertet.
2. Historischer Überblick: Entwicklungen im Wahlverhalten von Frauen und Männer im Zeitraum von 1953 -1987
2.1. Entwicklung der Wahlbeteiligung
Die geschlechtspezifischen Ergebnisse zur Wahlbeteiligung seit 1953 belegen, dass Frauen im Vergleich zu Männern bis 1987 regelmäßig eine niedrigere Wahlbeteiligung aufwiesen (vgl. Tabelle 2). In den fünfziger Jahren lag die Differenz der geschlechtsspezifischen Wahlbeteiligungsquoten über drei Prozentpunkten. Seit der Bundestagswahl 1972 hat sie sich auf etwa einen Prozentpunkt verringert. „Verursacht haben diesen Angleichungsprozess nicht zuletzt die jungen Frauen der sechziger Jahre. Bereits bei den Bundestagswahlen 1965 und 1969 lag die Wahlbeteiligung der damals 21- bis 30jährigen über derjenigen der gleichaltrigen Männer“ (Eith 1991: 169). Auch 1987 sind die Wahlbeteiligungsquoten gerade dieser Frauengeneration noch deutlich höher als die der gleichaltrigen Männer. Basierend auf diesen Befunden verweisen Wahlforscher auf die Existenz von Generationseffekten (vgl. Eith 1991: 1969). Begründet wird diese These mit der Tatsache, dass 1987 die 18- bis 30jährigen Frauen wieder deutlich unterdurchschnittlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Infolgedessen sinkt auch die Wahlbeteiligung der Frauen seit Anfang der 80er Jahre wieder kontinuierlich und blieb bis zur deutschen Wiedervereinigung nur knapp über der 80-Prozentmarke.
Die Ursache für die niedrigere Wahlbeteiligung von Frauen bei Bundestagswahlen konnte bisher noch nicht geklärt werden. Anfangs gingen Wahlforscher davon aus, dass das geringere politische Interesse vor allem junger Frauen ausschlaggebend für die Wahlenthaltung sei. Bei genauer Untersuchung erwies sich diese Variable jedoch nur als bedingt geeignet. So unterschieden sich junge Männer und Frauen in den 60er und 70er Jahren laut Allensbacher Umfragedaten wesentlich stärker in ihrem politischen Interesse als in den 80er Jahren, doch ihre Wahlbeteiligung war in diesem Zeitraum nahezu gleich hoch. Demnach lag die Vermutung nahe, „dass sich das Antwortverhalten der Männer an antizipierten Rollenerwartung orientiert“ (Hoecker 1995: 57). Anders ausgedrückt: Von Männern wurde erwartet sich für Politik zu interessieren und an der Wahl teilzunehmen.
Festzuhalten bleibt, dass es im Hinblick auf die geringere Wahlbeteiligung von Frauen im Vergleich zu Männern an zuverlässigen Erklärungsansätzen fehlt. Weiterführen könnte hier das Konzept der (politischen) Generationen (vgl. Eith 1991: 1969). Demzufolge wäre hier zu fragen, welche gemeinsamen Erfahrungen die jungen Frauen der Jahrgänge 1962 und 1972 geprägt haben, in deren Konsequenz sich der Stellenwert der Wahlbeteiligung vermindert hat. Relevante Indikatoren sind die Ausbildungs- und Berufssituation junger Frauen im Vergleich zu denen junger Männern in den 80er Jahren (vgl. Hoecker 1995: 58). So hatten Frauen – trotz durchschnittlich besserer Schulabschlüsse – schlechtere Chancen einen Ausbildungsplatz zu erhalten und einen durchaus schwierigeren Einstieg ins Berufsleben. „Diese Erfahrungen könnten zu einer stärkeren Orientierung an Familie und Privatleben und damit verbunden zu einer geringeren Partizipationsbereitschaft geführt haben“ (Hoecker 1995: 59).
Da Männern und Frauen sich zeitweise unterschiedlich stark an Bundestagswahlen beteiligt haben, soll nun untersucht werden, ob es in der Zeit von 1953 bis 1987 auch Differenzen bei der Zweitstimmenvergabe gab.
2.2. Zweitstimmen nach Geschlecht und Partei (1953-1987)
Die Analyse der nach Geschlecht ausgezählten Bundestagswahlergebnisse seit 1953 offenbart ein vielschichtiges Muster von Konstanten und Brüchen (vgl. Eith 1991: 169 ff./ Ute Molitor 1992 ff./ Emmer/Jung/Roth 1994:55 ff.). Allerdings, darin sind sich die Wahlforscher einig, besitzt das unterschiedliche Wahlverhalten von Männern und Frauen in Deutschland eine Tradition, die bis in die Weimarer Republik zurückreicht.
Seit der Einführung des Frauenwahlrechts[9] im Jahre 1918 erhielten konservative und christliche Parteien einen überproportionalen Anteil weiblicher Wählerstimmen. „Diese unterschiedlichen Parteipräferenzen fanden auch in den ersten Bundestagswahlen nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland ihren Niederschlag“ (Emmer/Jung/Roth 1994: 55). So wurde in den fünfziger und sechziger Jahren die CDU/CSU von Frauen viel häufiger gewählt als von Männern (vgl. Tabelle 3). Es ergaben sich Differenzen von acht bis 10 Prozentpunkten zwischen Männer- und Frauenstimmen.
Die SPD wies dagegen stets ein Frauendefizit auf. Am deutlichsten wurde dieser Unterschied bei den Bundestagswahlen 1965 und 1969. Bei der Bundestagswahl 1965 betrug die Differenz zwischen den Stimmanteilen für die SPD bei Männern und Frauen 7,7 Prozentpunkte, 1969 erhielt die CDU/CSU von Frauen zehn Prozentpunkte mehr als von Männern. Demnach fand die erste Regierungsübernahme der SPD im Jahre 1969 gegen den Willen der Mehrheit der Wählerinnen statt, denn 50,6 Prozent von ihnen hatten für die CDU/CSU gestimmt.
Der konservative Wahltrend der Frauen wird in der Literatur häufig mit deren religiösen Bindung an die Kirche begründet. Dabei konnte mit den ersten Umfragen zur Kirchgangshäufigkeit – ein Indikator der Kirchenbindung – in der Tat deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern belegt werden. Demnach gehörten 65 Prozent der katholischen Frauen zu der Gruppe der regelmäßigen Kirchgänger, bei den katholischen Männern dagegen nur 55 Prozent. Die Frage nach der Parteipräferenz ergab, dass etwa die Hälfte der regelmäßigen Kirchgänger die CDU/CSU bevorzugten und nur etwa ein Zehntel die SPD. Da Frauen den größeren Teil der regelmäßigen Kirchgänger stellten, erhielt die CDU/CSU aus dieser für sie wichtigen Gruppe auch mehr weibliche als männliche Stimmen (vgl. Molitor 1992: 34).
Die Bundestagswahl 1972 markiert einen Wendepunkt im unterschiedlichen Wahlverhalten von Männer und Frauen. Die Unterschiede der geschlechtsspezifischen Stimmergebnisse haben sich bei CDU/CSU und SPD deutlich verringert. Der Frauenüberschuss der CDU/CSU schmolz auf drei Prozentpunkte, das Frauendefizit der SPD sank auf nur noch 1,2 Prozentpunkte. Wahlforscher sind sich einig, „dass sich das “Frauendefizit“ in der SPD-Wählerschaft mit ziemlicher Sicherheit durch den überwiegend weiblichen Zustrom zur SPD aus der Gruppe der ehemaligen Nichtwähler verringert hat“ (Molitor 1992: 43). Weitere Berechnungen haben ergeben, dass 1972 die CDU/CSU durch zuströmende ehemalige NPD-Wähler “männlicher“ geworden ist (vgl. Molitor 1992: 45).
Bei der Bundestagswahl 1980 haben sich die Vorzeichen beim geschlechtsspezifischen Wahlverhalten erstmals umgekehrt, das heißt, die Union war jetzt bei Männern etwas erfolgreicher als bei den Frauen, die wiederum geringfügig häufiger die SPD wählten. Seither gilt jedoch wieder das gleiche Prinzip: Frauen unterstützen häufiger die Union während die SPD bei Männern etwas besser abschneidet.
Neben der skizzierten Entwicklung für die großen Volksparteien bietet der Blick auf das Verhältnis von Frauen- und Männerstimmen bei den kleineren Parteien interessante Ergebnisse. So haben die Grünen und - mit Ausnahme von 1980 - die FDP im Zeitraum von 1980 bis 1987 stets etwas höhere Stimmanteile von Männern erhalten als von Frauen. Mit Blick auf die sonstigen Parteien kann für die Bundesrepublik Deutschland – wie schon für die Weimarer Zeit – eine deutliche Zurückhaltung der Frauen gegenüber rechtsextremistischen Parteien konstatiert werden (vgl. Hoecker 1995: 70).
Die Angleichung des Frauenwahlverhaltens mit Beginn der siebziger Jahre wurde in der Literatur verschieden interpretiert (vgl. Liepelt/Riemenschnitter 1973, Schultze 1983, Hofman-Göttig 1986). Eine eher negative Deutung sieht die Veränderung des Frauenwahlverhaltens auf der Grundlage einer traditionell höheren Autoritätsfixierung von Frauen. Demnach hätten in der Zeit von 1949 bis 1965 Frauen deshalb verstärkt die CDU/CSU gewählt, weil diese an der Regierung war. Dieser Regierungsbonus sei mit dem Regierungswechsel von 1969 dann auf die SPD übertragen worden. „Damit wären bei angenommen unveränderter Autoritätsfixierung von Frauen die großen SPD-Gewinne, insbesondere zwischen 1969 und 1972, im wesentlichen durch die Regierungsbeteiligung der SPD zu erklären“ (Bürklin 1988: 89).
In einer eher positiven Interpretation wurde die Angleichung des Wahlverhaltens als fortschreitende Emanzipation, als neue soziale Integration der Frau gewertet. Durch die verbesserte Ausbildung der Frauen, die gestiegene Chance beruflicher Sicherheit und damit verbundene Unabhängigkeit hätte die Autoritätsfixierung abgenommen. Gleichzeitig sei die „Bereitschaft zur Wahl einer auf gesellschaftspolitische Veränderungen orientierte Partei“ gestiegen (Bürklin 1988: 89).
Im Gegensatz zur Hypothese der Autoritätsfixierung konnte die Hypothese der fortschreitenden Emanzipation empirisch belegt werden. Demnach sind Anfang der siebziger vor allem die jüngeren, evangelischen, höher gebildeten städtischen Frauen, die erwerbstätig waren und durchschnittlich weniger Kinder hatten, zur SPD übergewechselt. Folglich haben sich immer mehr Frauen aus dem traditionellen Einfluss der Kirche gelöst und neue Rollenerwartungen im Berufsleben übernommen.
Festzuhalten bleibt, „dass die Angleichung des Frauen- und Männerwahlverhaltens gewissermaßen von beiden Seiten erfolgt ist, dass es sich also nicht um eine einseitige Anpassung der Frauen an die Männer (oder umgekehrt) handelte“ (Hoecker 1995: 64).
2.3. Zusammenfassung
Die dargelegten Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik zeigen, dass es bis 1987 Wandlungen und Kontinuitäten im geschlechtsspezifischen Wahlverhalten gab. Allerdings hat das Merkmal Geschlecht in den siebziger und achtziger Jahre deutlich an Trennschärfe in Bezug auf das Wahlverhalten verloren (vgl. Eith 1991: 170). Dennoch bleibt selbst nach der vollzogenen Homogenisierung des Wahlverhaltens die Frage nach den Bestimmungsgründen für die Wahlentscheidung von Männern und Frauen offen. Um dieser Frage nachzugehen, wird im folgenden Abschnitt zunächst überprüft, ob das Merkmal Geschlecht seit 1990, also mit dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zur Bundesrepublik Deutschland, wieder an Bedeutung gewonnen hat.
3. Entwicklung im Wahlverhalten von Männer und Frauen seit 1990
Die Untersuchung erfolgt nach getrennten Elektoraten und umfasst den Zeitraum von 1990 bis 2002. Das Interesse gilt der Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung der Bürger/Innen in Ost- und Westdeutschland. Dafür werden die Umfragedaten des Politbarometers, der Wahlstudie 2002, der Forschungsgruppe Wahlen sowie der Repräsentative Wahlforschung verwendet.[10] Da sich die verfügbare Datenbasis, in diesem Fall das Politbarometer 1994 und 1998, ausschließlich aus Vorwahlumfragen zusammensetzt, kann auf eine Frage nach der Wahlentscheidung nicht zurückgegriffen werden. Sie wird durch die allgemeine Sonntagsfrage ersetzt, die die Zweitstimmenpräferenz also die Parteipräferenz der Wähler/Innen ermittelt.[11] Um die unterschiedliche Wahlbeteiligungsrate der Geschlechter zu erfassen, wird auf die Frage nach der Wahlabsicht, das heißt, die Absicht an der kommenden Bundestagswahl teilzunehmen, zurückgegriffen.
3.1. Wahlbeteiligung und Zweitstimmenvergabe nach Geschlecht
3.1.1. Westdeutschland
Die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 und die sich daran anschließende erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 führten zu „einem massiven Kontinuitätsbruch in der jungen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ (Kaase/Bauer-Kaase 1994: 85). Nur wenige Wahlforscher hätten allerdings angesichts dieses historischen Ereignisses geglaubt, dass die Wahlbeteiligung weiter zurückgehen würde. Trotz der symbolischen Bedeutung der gelegentlich als “Vereinigungswahl“ bezeichneten Bundestagswahl, verringerte sich die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 1987 noch einmal um 5,7 Prozentpunkte auf 77,8 Prozent und damit fast bis auf den Wert der ersten deutschen Bundestagswahl 1949 (vgl. Tabelle 4). Seit 1994 liegt die Beteiligungsrate jedoch wieder knapp über der 80-Prozentmarke.
Vergleicht man die Entwicklung der Wahlabsicht von 1990 bis 2002, dann fällt auf, dass insgesamt mehr männliche als weibliche Befragte an der Wahl teilnehmen wollen (vgl. Abb. 1a). Während 1990 und 1998 rund 90 Prozent der Männer und Frauen beabsichtigten an der Wahl teilzunehmen, sind bei den Bundestagswahlen 1994 und 2002 deutliche Unterschiede zu erkennen. Die Werte der weiblichen Befragten liegen knapp fünf Prozent unter denen der männlichen Befragten. Darüber hinaus zählen Frauen häufiger zu der Gruppe, die sich nicht sicher ist, ob sie an der Wahl teilnehmen wird oder nicht. So lag dieser Anteil bei der Bundestagswahl 2002 bei knapp 20 Prozent, bei den Männern dagegen nur bei zehn Prozent. Aus diesen Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass wie bereits in den Jahren zuvor insgesamt mehr Männer als Frauen ihr Wahlrecht wahrnehmen.
Die Prognose, dass „eine neue Welle unterschiedlichen Wahlverhaltens von Männern und Frauen nicht ganz unwahrscheinlich ist“ (Falter/Schuhmann 1987: 137), kann für die alten Bundesländer zum Teil bestätigt werden. Zwar sind die Differenzen der Stimmenanteile bei den großen Parteien immer noch geringfügig, dafür hat sich das Wahlverhalten der Geschlechter weitgehend vom Weimarer Muster gelöst (vgl. Tabelle 5). So wird die CDU/CSU nicht mehr in erster Linie von Frauen gewählt, sondern erhält zum Teil auch mehr Stimmen von Männern. Das gleiche gilt für die SPD. Die Sozialdemokraten konnten 1990 und 1998 mehr Männer gewinnen, 1994 und 2002 ist jedoch ein Frauenüberschuss zu verzeichnen. Dabei fallen die Differenzen der Wahlstimmen 2002 am größten aus, das heißt, die SPD konnte ihren Vorsprung bei den Frauen mit 3,1 Prozentpunkten deutlich ausbauen.
Auffällig sind die relativ großen Unterschiede zwischen den Stimmenanteilen der Männer und Frauen bei kleineren Parteien. So liegen bei den Grünen die Stimmenanteile der Frauen deutlich über denen der Männer. Diese wiederum geben ihre Stimme häufiger der FDP. Nach einem kurzen Anstieg der Prozentpunktdifferenzen Anfang der 90er Jahre trat 1998 eine deutliche Zäsur ein, die bislang messbaren Unterschiede bei kleineren Parteien nivellierten zusehends. 2002 waren die Grünen bei Frauen nur noch um 0,8 Prozentpunkte erfolgreicher als bei Männern. Die FDP wird jedoch weiterhin von mehr Männern als Frauen gewählt.
3.1.2. Ostdeutschland
Die Wahlbeteiligung in den neuen Bundesländern ist deutlichen Schwankungen unterlegen. So wurde bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990, der durchaus eine historische Bedeutung zukam, nur eine Wahlbeteiligung von 74,5 Prozent erreicht (vgl. Tabelle 4). Bei der Bundestagswahl 1994 sank sie auf nur noch 72,6 Prozent. Damals ging man in den neuen Bundesländern von einer „tendenziell rückläufigen Wahlbeteiligung auf allen politischen Ebenen“ aus (vgl. Emmert/Jung/Roth 1994: 50). Doch mit dem Anstieg der Wahlbeteiligung auf 80 Prozent bei der Bundestagswahl 1998, der bisher höchste Stand seit der deutschen Wiedervereinigung, waren diese Vermutungen zumindest vorerst widerlegt, denn vier Jahre später sank die Wahlbeteiligung bereits wieder um 7,2 Prozentpunkte.
Die Frage nach der Wahlabsicht führt zu ähnlichen Ergebnissen wie im Westen. So fällt die Bereitschaft der Frauen an der Wahl teilzunehmen insgesamt niedriger aus als die der Männer (vgl. Abb. 1b). Während die geschlechtsspezifische Differenz 1990 und 1994 nur knapp über drei Prozent betrug, ist bei der Bundestagswahl 1998 ein weitaus größerer Abstand zu verzeichnen. So beabsichtigten 90 Prozent der Männer an der Wahl teilzunehmen, bei den Frauen dagegen nur 80,4 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2002 gaben dagegen erstmals mehr Frauen als Männer an, wählen zu wollen. Auffällig ist, dass die Wahlabsicht der Männer die größten Schwankungen aufweist. Sie reicht von 68,7 Prozent (2002) bis 90 Prozent (1998), die der Frauen liegt konstant zwischen 70 und 80 Prozent. Der Anteil der unentschlossenen Wähler in den neuen Bundesländern ist 1990 und 1994 bei beiden Geschlechtern etwa gleich groß. Bei der Bundestagswahl 1998 zählen fast 13 Prozent der Frauen zu dieser Gruppe, bei den Männern nur knapp sechs Prozent. Bei der Bundestagswahl 2002 ist es umgekehrt. Rund 26 Prozent der männlichen Befragten zählen zu den Unentschlossenen, bei den weiblichen Befragten sind es 21 Prozent.
Anders als in den alten Bundesländern fallen die geschlechtsspezifischen Differenzen bei der Zweitstimmenvergabe 1990 und 1994 nur geringfügig aus (vgl. Tabelle 5). Allerdings kommt man bei der Unterscheidung in Ost- und Westdeutschland zu dem Ergebnis, dass sich die Parteipräferenzen der Wähler/Innen in den neuen Bundesländern von denen im Westen unterscheiden. So erhält die Union vor allem die Zweitstimmen der Frauen, während die Männer eher SPD wählen.
Die Bundestagswahl 2002 scheint einen Wendepunkt im nahezu identischen Wahlverhalten von Männern und Frauen zu markieren. Die Prozentpunktdifferenzen werden erstmals wieder deutlich größer. Während die CDU mit einem Überschuss von 2,2 Prozentpunkten eindeutig von den Stimmen der Männer profitierte, konnte die SPD mit einem Vorsprung von 5,3 Prozentpunkten vor allem auf die Stimmen der Frauen zählen. Von einem identischen Wahlverhalten kann bei der Bundestagswahl 2002 folglich keine Rede sein. Die PDS als drittstärkste Partei nach CDU und SPD ist bei Männern als auch Frauen ähnlich erfolgreich. Allerdings profitiert sie – wenn auch nur minimal – eher von den Stimmen der Männer als von denen der Frauen.
Mit Blick auf die Prozentpunktdifferenzen der kleineren Parteien wird deutlich, dass diese im Gegensatz zu den alten Bundesländern im Osten nur minimale Überschüsse bei den Wählern oder Wählerinnen erzielen. Allerdings gilt auch hier: Während die FDP eher auf die Stimmen der Männer zählen kann, finden die Grünen in der weiblichen Wählerschaft mehr Zuspruch.
3.1.3. Zusammenfassung
Betrachtet man die dargelegten Befunde, kommt man zu dem Ergebnis, dass die Beteiligung der wahlberechtigten Bürger/Innen an Bundestagswahlen traditionell hoch ist und sich zum Teil deutlich positiv von anderen Wahlen[12] abhebt. Gleichwohl zeigt sich aber auch dort eine insgesamt abnehmende Bereitschaft in der Bevölkerung, ihr Wahlrecht auszuüben. Dabei liegt die Wahlbeteiligung in den neuen Bundesländern immer noch deutlich unter dem Niveau der alten Bundesländer.[13] Des Weiteren zeigen sich eindeutige Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Frage nach der Wahlabsicht. So fällt diese in beiden Elektoraten bei Frauen insgesamt niedriger aus als bei Männern, womit der Befund von Ute Molitor auch für die Zeit nach 1990 bestätigt werden kann.
Bei den geschlechtspezifischen Stimmergebnissen sind dagegen Veränderungen aufgetreten. So sind in Westdeutschland nicht nur bei kleineren Parteien deutliche Männer- und Frauenüberschüsse zu verzeichnen, sondern erstmals auch bei den großen Volksparteien. Allerdings ist aus den Ergebnissen kein allgemeiner Wahltrend abzulesen. Demnach erhalten CDU/CSU und SPD im Zeitraum von 1990 bis 2002 mal von Männern, mal von Frauen mehr Stimmen.
Auch in den neuen Bundesländern kann von einem identischen Wahlverhalten der Geschlechter nicht die Rede sein. Zwar treten bei kleineren Parteien nur marginale geschlechtspezifische Unterschiede bei der Zweitstimmenvergabe auf, dafür sind bei der Bundestagswahl 2002 insbesondere bei den großen Volksparteien deutliche Unterschiede auszumachen. Demnach haben Frauen überdurchschnittlich für die SPD gestimmt, während Männer eher für die Union votierten. Die insgesamt extrem hohen Schwankungen bei der Zweitstimmenvergabe für die „großen“ Parteien sind vermutlich auf die noch immer etwas geringere Bindekraft der Parteien in den neuen Bundesländern zurückzuführen.
Da die Fixierung auf entsprechende Prozentpunktdifferenzen als Indikator für unterschiedliches Wahlverhalten keinesfalls ausreichend ist, werden im folgenden Kapitel nun die Ausprägungen des Merkmals Parteiidentifikation untersucht. Es wird überprüft, ob Männer und Frauen in Ost- und Westdeutschland sich an eine Partei gebunden fühlen und – wenn ja - wie stark diese Bindung ausgeprägt ist. Anschließend wird der Zusammenhang mit der Wahlentscheidung gemessen und dessen Entwicklung seit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl analysiert.
3.2. Existenz und Intensität der Parteibindung
Als Messinstrument zur Erfassung der Parteiidentifikation wird für den Zeitraum von 1990 bis 2002 auf die direkte Frage nach der Parteinneigung zurückgegriffen. Mit einer Ausnahme: Während in den alten Bundesländern bereits seit den 70er Jahren die Frage nach der Parteineigung erhoben wird, wurde in den neuen Bundesländern für die Bundestagswahl 1990 die Parteibindung mit der Frage nach der Rangordnung der Parteien operationalisiert.[14] Die Verwendung von Rangordnungen hat den Nachteil, dass nicht entscheidbar ist, ob die gemessene Einstellung (Rangpräferenz) das Ergebnis lang- oder kurzfristiger Faktoren ist und wie änderungsresistent diese Konstrukte entsprechend sind (vgl. Bürklin/ Klein 1998: 69). Die Ergebnisse für die Bundestagswahl 1990 dienen deshalb nur als Schätzwerte.
3.2.1. Westdeutschland
Ute Molitor kommt zu den Befund, dass bis Ende der 70er Jahre Männer in den alten Bundesländern nicht nur häufiger eine Parteibindung aufweisen als Frauen, sondern auch, dass die Intensität dieser Bindung stärker ausgeprägt ist (vgl. Molitor 1992: 83ff.). Daraus lässt sich folgern, dass Parteien in erster Linie auf die Stimmen ihrer männlichen Anhängerschaft zählen konnten und weniger auf die der Frauen.
Für die Bundestagswahl 1990 trifft dieser Befund nicht mehr zu. So neigen 73,3 Prozent der befragten Männer und 76,9 Prozent der befragten Frauen einer Partei zu; der Unterschied zwischen den Geschlechtern, der bis in die frühen 70er Jahre charakteristisch war, ist damit verschwunden (vgl. Tabelle 6a). Die Verteilung der Parteianhänger differiert zwischen den Geschlechtern nur geringfügig. Es fällt jedoch auf, dass sich mehr Frauen (5,9 Prozent) mit den Grünen identifizieren als Männer (zwei Prozent). Alle anderen Parteien erzielen bei beiden Geschlechtern nahezu denselben Stimmenanteil, wobei die CDU/CSU mit 35,2 Prozent bei den Männern und 35,6 Prozent bei den Frauen die meisten Stimmenanteile erhält.
Nun ist zu fragen, ob sich auch die Intensität der Parteineigung zwischen den Geschlechtern angeglichen hat oder ob das alte Muster – höhere Intensität bei den Männern – noch gültig ist. Die Antwort ist eindeutig: Auch bei der Intensität der Parteineigung lassen sich für die Bundestagswahl 1990 kaum noch Unterschiede zwischen Männern und Frauen feststellen (vgl. Tabelle 7a). Die Mehrheit aller Befragten besitzt demzufolge eine sehr starke oder ziemlich starke Parteineigung. Dabei ist der Anteil derjenigen befragten Frauen (16,3 Prozent), die angeben eine sehr starke Parteineigung zu besitzen, sogar etwas höher als bei den Männern (12,4 Prozent).
Bei der Bundestagswahl 1994 ist der Anteil der Parteianhänger sowohl bei den Frauen (64,7 Prozent) als auch bei den Männer (65,7 Prozent) deutlich gesunken (vgl. Tabelle 6c). Auch bei der Betrachtung der Verteilung sind vier Jahre nach der deutsche Wiedervereinigung erstmals deutliche Unterschiede zu erkennen: Während die SPD vor allem bei den weiblichen Befragten Zustimmung findet (28 Prozent), gibt die Mehrheit der Männer (33,3 Prozent) an, den Unionsparteien zuzuneigen. Darüber hinaus können die Grünen ihren Vorsprung bei den Frauen auf 6,6 Prozent ausbauen und haben damit doppelt so viele weibliche Anhänger wie männliche. Die FDP wiederum sinkt in der Gunst aller Befragten unter die Zwei-Prozentmarke.
Hinsichtlich der Intensität der Parteineigung ist für beide Geschlechter festzustellen, dass der Anteil derjenigen mit einer sehr starken Bindung im Vergleich zu 1990 etwas gestiegen ist. Dabei fällt der Anteil der Männer mit 41,3 Prozent etwas höher aus als bei den Frauen (vgl. Tabelle 7b). Gleichzeitig ist der Anteil aller Befragten mit einer mäßigen Neigung leicht gesunken, wobei die Anzahl der Frauen mit mäßiger Bindung die der Männer übersteigt. Zählt man jedoch die Befragten mit sehr starker und ziemlicher starker Parteinneigung zusammen, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass fast zwei Drittel aller Frauen und Männer insgesamt eine stark ausgeprägte Parteibindung besitzen. Folglich sind für die Bundestagswahl 1994 keine auffälligen Unterschiede zwischen den Geschlechtern festzustellen.
Bei der Bundestagswahl 1998 musste die CDU/CSU im Westen der Republik herbe Verluste hinnehmen. Dennoch liegt sie bei der Frage nach der Parteineigung mit 28 Prozent in der Gunst der Frauen vorne. Die SPD rangiert bei den Frauen mit 27,2 Prozent auf dem zweiten Platz. Bei den Männern ist es umgekehrt: hier liegt die SPD mit 30,4 Prozent klar vor der CDU/CSU, die 26,3 Prozent der Stimmen erhält. Die Grünen können einige männliche Parteianhänger dazu gewinnen, verlieren jedoch gleichzeitig weibliche Anhänger, so dass der Frauüberschuss mit 0,3 Prozent nur noch minimal ausfällt. Auffällig ist der geringe Anteil an FDP-Anhänger/Innen. Dieser bleibt weiterhin unter der Zwei-Prozentmarke. Auch linke Parteien wie die PDS oder rechtsextreme Parteien wie die Republikaner können bei beiden Geschlechtergruppen nur wenige Stimmen auf sich vereinen.
Zur Intensität der Parteibindung lässt sich feststellen, dass sich der Anteil derjenigen, die angeben, einer Partei zuzuneigen, kaum verändert hat (vgl. Tabelle 6e). Er liegt wie auch 1994 nur knapp über zwei Drittel. Allerdings hat sich die Parteibindung bei Männern und Frauen gelockert (vgl. Tabelle 7d). So bekennt die Mehrheit der weiblichen Befragten (53,8 Prozent) sowie 42 Prozent der Männer, der von ihnen bevorzugten Partei nur mäßig zuzuneigen. Daraus ergibt sich die Vermutung, dass bei der Bundestagswahl 1998 der Einfluss der Parteineigung auf die Wahlentscheidung gesunken ist und kurzfristige Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben könnten.
[...]
[1] Ausführliche Informationen zu den drei wichtigsten Erklärungsansätzen des Wählerverhaltens können in Korte (2000: 87 -93) nachgelesen werden.
[2] Als Beispiel dient hier die Bundestagswahl 1998, wo erstmals ein Kanzler samt Bundesregierung durch eine Bundestagswahl abgelöst wurde. Die Wählerwanderungen hatten eine Dimension, wie sie zuletzt in den fünfziger Jahre messbar waren. Zu den Besonderheiten gehört auch, dass Gerhard Schröder bei der Kanzlerwahl zusätzlich Stimmen aus der Opposition erhielt. Die bisherigen Bundeskanzler konnten immer nur knapp ihre eigene Mehrheit vollständig hinter sich bringen (vgl. Korte, 2000: 90).
[3] Dazu zählen unter anderem die Erhebungen zur Parteineigung, zur Beliebtheit der Spitzenpolitiker (z.B. durch das Sympathie-Skalometer), zur Rangfolge der gegenwärtig wichtigsten Probleme samt den entsprechenden Kompetenzzuschreibungen, zur Zufriedenheit mit dem politischen System und der wirtschaftlichen Situation sowie die so genannte Sonntagsfrage nach der Wahlentscheidung („Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“).
[4] Nachdem mit der Frage nach der Anhängerschaft die Gruppe der Parteigebundenen stets zu klein, mit der Frage danach, welche Partei am besten gefällt, häufig zu groß geschätzt wurde, sollte mit der neuen Formulierung der gemeinte Sachverhalt konkret angesprochen und ein valides Ergebnis erzielt werden. Die neu formulierte Frage hat den Wortlaut: „Viele Leute in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten politischen Partei zu, obwohl sie auch ab und zu einmal eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher?“ und falls der Befragte einer Partei zuneigt: „Wie stark oder wie schwach neigen Sie – alles zusammengenommen – dieser Partei zu: sehr stark, ziemlich stark, mäßig, ziemlich schwach oder sehr schwach?“
[5] Als Alternative zur Parteiidentifikationsfrage werden regelmäßig Sympathie-Skalometer für die politischen Parteien erhoben. Auf einer Skala von +5 (starke Zuneigung) bis -5 (starke Ablehnung) können die Befragten ihre Sympathien und Antipathien für politische Parteien abbilden. Das gemessene Konstrukt wird daher auch als „affektive Parteiorientierung“ bezeichnet. Als weitere Alternativen zur Messung der Parteiidentifikation wurden eine Sieben-Punkte-Skala und eine Rangordnung der Parteien vorgeschlagen. Allerdings ist mit keinem dieser drei Messinstrumente nachvollziehbar, ob die gemessene Einstellung zu Parteien das Ergebnis lang- oder kurzfristiger Faktoren ist und wie langzeitvariabel diese Konstrukte sind (vgl. Bürklin/Klein 1998: 67-69).
[6] Unterschiedliches Wahlverhalten wurde unter anderem darauf zurückgeführt, dass Frauen in der Politik wenig selbstbewusst seien. Darüber hinaus gingen Wissenschaftler von einer jeher konservativen Haltung der Frauen aus, die sich in einem Wohlwollen gegenüber starken Männern äußerte (vgl Eith 1991: 173).
[7] Die niedrigere Wahlbeteiligung und der geringere Anteil parteigebundener Frauen werden von Molitor auf ein geringeres politisches Interesse der Frauen zurückgeführt.
[8] Auch Ulrich von Alemann kommt zu dem Ergebnis, dass in der Bundesrepublik Deutschland zwei politische Kulturen mit unterschiedlichen Wertorientierungen und zwei Parteiensysteme mit verschiedenen Kräfteverhältnissen und Machterwerbschancen existieren. Außer der PDS kann sich keine Partei auf spezifische soziale Basen oder kulturelle Milieus stützen (vgl. von Alemann 1999: 53).
[9] Dem Frauenwahlrecht ging ein langer Kampf der Frauenbewegung voraus, der bereits im 17. Jahrhundert begann. Die erste „moderne“ Kämpferin für das Frauenwahlrecht war Olympe de Gouges, die für ihre im Laufe der französischen Revolution verfasste „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ geköpft wurde. Neuseeland war 1893 der erste neuzeitliche Staat, in dem Frauen dieses Bürgerrecht erkämpft hatten. Innerhalb der Vereinigten Staaten wurde das Frauenwahlrecht erstmals 1869 in Wyoming eingeführt. 1902 folgte Australien, 1906 dann Finnland als erstes europäisches Land. In Deutschland erlangten Frauen am 30. November 1918 mit der “Verordnung über die Wahlen zur verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung“ (Reichswahlgesetz) das aktive und passive Wahlrecht. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Frauenwahlrecht; http://www.meinhard.privat.t-online.de/frauen/wahl.html)
[10] Für die Ermittlung geschlechtspezifischer Differenzen bei der Wahlentscheidung werden die Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik herangezogen. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, das von den statistischen Landesämtern und vom Statistischen Bundesamt anlässlich allgemeiner Wahlen durchgeführt wird, um die Wahlbeteiligung und die Stimmenabgabe verschiedener Bevölkerungsgruppen (Alter, Geschlecht) zu untersuchen. Bei diesem Verfahren wird eine repräsentative Stichprobe von Wahlbezirken gezogen und nach den Merkmalen Geschlecht und Alter gesondert ausgezählt. Der Vorteil der Repräsentativen Wahlstatistik ist erstens, dass hier tatsächliches Wahlverhalten gemessen wird, und zweitens, dass die gefundenen Werte aufgrund der sehr großen Stichprobe sehr zuverlässig sind. Leider wurde diese geschlechtsspezifische Erhebung nur für die Bundestagswahlen 1990 und 2002 durchgeführt. 1994 und 1998 wurde sie auf Erlass des Bundestages ausgesetzt. Für die Bundestagswahlen 1994 und 1998 wird deshalb ersatzweise auf die Ergebnisse des Politbarometers zurückgegriffen. Nur durch diese Kombination ist eine kontinuierliche Datenanalyse, dass heißt die Analyse der geschlechtspezifischen Differenzen bei der Wahlentscheidung, möglich.
[11] Dies ist sicherlich keine ideale Lösung, denn Wahlentscheidung und Wahlabsicht können aus guten Gründen voneinander abweichen. Empirische Analysen haben jedoch gezeigt, dass die beiden Indikatoren relativ eng miteinander verbunden sind.
[12] Die Wahlbeteiligung an Bundestagswahlen liegt in den meisten Fällen höher als die bei Landtags- und Kommunalwahlen. Auch bei der Europawahl nehmen deutlich weniger Bundesbürger ihr Wahlrecht wahr.
[13] Eine mögliche Erklärung für diesen Sachverhalt bieten Gert Pickel und Dieter Walz. Sie kommen zu dem Befund, dass das Vertrauen in die mit der Tagespolitik enger verbundenen, politischen Institutionen in den neuen Bundesländern geringer ist als im Westen. Demnach kann insbesondere die negative Einstellung ostdeutscher Bürger/Innen zu Parteien und Politikern mit der zunehmenden Wahlenthaltung in Verbindung gebracht werden (vgl. Pickel/Walz 1998: 62ff.).
[14] Diese Rangordnung wird mit der folgenden Frage erhoben: „Und nun noch einmal zu den Parteien in Deutschland ganz allgemein: Wenn Sie einmal an die SPD, die CDU, die CSU, die FDP, die Grünen, die PDS und die Republikaner denken: Welche dieser Parteien gefällt Ihnen am besten?“
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- Ariane Peters (Author), 2005, Das Wahlverhalten von Männern und Frauen - Eine Langzeitstudie von Bundestagswahlen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48259
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