Die Arbeit hat die beiden sogenannten „Blumenstücke“ „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ und „Der Traum im Traum“ aus Jean Pauls Roman „Siebenkäs“ zum Gegenstand. Nach einem kurzen Bericht über die Entstehungsumstände der beiden Träume wird in einer erzähltechnischen Analyse deren Form und Inhalt näher bestimmt und anschließend auf die Frage eingegangen, welche Funktion ihnen im Kontext des Romans zukommt.
Inhaltsverzeichnis
1. Zur Thematik
2. Zur Entstehungsgeschichte
2. 1. Die Genese der Christusrede
2. 2. Die Genese des Marientraums
3. Erzählanalyse
3. 1. „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“
3. 2. „Der Traum im Traum“
4. Die Funktion der Träume im Roman „Siebenkäs“
4. 1. Die Träume als Teil des Werks ― Hölle und Himmel der Romanfiguren
4. 2. Die Träume als Mittel zur Digression: „Ich wünschte, ich schweifte gelegentlich ein wenig aus [...].“
5. Schlussbemerkung
6. Anhang
6. 1. Literaturverzeichnis
6. 2. Textbeispiele
„Todtenpredigt Shakespear“
„Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Got sei.“
„Erstes Blumenstück: Rede des toten Christus vom
Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“
„Zweites Blumenstück: Der Traum im Traum“
1. Zur Thematik
Meine Arbeit hat die beiden sogenannten „Blumenstücke“ „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ und „Der Traum im Traum“ aus Jean Pauls Roman „Siebenkäs“ zum Gegenstand. Nach einem kurzen Bericht über die Entstehungsumstände der beiden Träume möchte ich in einer erzähltechnischen Analyse deren Form und Inhalt näher bestimmen und anschließend auf die Frage eingehen, welche Funktion ihnen im Kontext des Romans zukommt.
Die Forschungsliteratur, die sich mit der „Christusrede“ beschäftigt, ist recht umfangreich. In meiner Arbeit möchte ich im Besonderen auf die Ergebnisse von Carl Pietzcker, der das Werk ausführlich aus der Sicht der Psychoanalytischen Literaturwissenschaft untersucht[1], Gert Ueding, der ein Kapitel seiner Jean-Paul-Biographie speziell dessen Traumliteratur, u. a. der Christusrede, widmet[2], Ralf Goebel, der in seinem Buch auf die philosophischen Erkenntnisse zu Jean Pauls Zeit eingeht und im Hinblick auf diese wichtige interpretatorische Aspekte des
Traumes aufzeigt[3], Redmer Baierl, der den „Experimentalnihilismus“ der Christusrede untersucht und wichtige Hinweise gibt, was die Beziehung zwischen ihr und dem Roman betrifft[4], sowie Herbert Kaiser eingehen, welcher den Zustand der Leere und des Schreckens, den der von Christus verkündete Atheismus nach sich zieht, analysiert.[5]
Der „Marientraum“ fand bisher kaum Eingang in die Untersuchungen zum Jean Paulschen Werk. Er wird in den meisten Fällen nur flüchtig am Rande gestreift; einzig Herbert Kaiser ist hier mit seiner kurzen, nicht ins Detail gehenden Interpretation zu erwähnen.[6] Die Missachtung des „Zweiten Blumenstückes“ geht so weit, dass es von Friedrich Burschell in der von ihm vorgelegten Ausgabe des „Siebenkäs“ aus dem Jahre 1957[7] gänzlich gestrichen wurde. Als, wie ich denke, zweifelhafte Begründung gibt er hierbei an, es sei „mit dem Roman nicht zusammenhängend“ und „reichlich vage“.[8]
2. Zur Entstehungsgeschichte
Die beiden „Blumenstücke“[9] sind Teile von Jean Pauls Roman „Blumen-, Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel“, welcher in den Jahren 1796/97 erschien. Dieser satirische Roman entstand zwischen August 1795 und Juni 1796 und gilt als der „erste[n] realistisch-psychologische[n] Eheroman der deutschen Literatur“.[10] Die Traumstücke befinden sich zwischen dem zweiten und dritten Bändchen der insgesamt vier des Werks. Inhaltlich ist dort der Gipfel der totalen Zerrüttung der Ehe von Siebenkäs und Lenette erreicht. An dieser Stelle befinden sie sich aber erst seit der zweiten Auflage aus dem Jahre 1818. In der Ersten wurden sie vom Autor noch an den Anfang des Romans, also vor das erste Bändchen, gestellt; die spätere, endgültige Positionierung ist daher keinesfalls fest eingeplant. Für die Interpretation der beiden Texte ergibt sich somit der Hinweis, dass sie nicht unbedingt auf das unmittelbar davor oder danach stehende Romangeschehen bezogen werden dürfen. Vielmehr muss die Deutung in Bezug auf den Romankontext in Hinblick auf das ganze Werk geschehen. Doch auch eine Interpretation, die nur in Bezug auf den Siebenkäs erfolgt, wäre problematisch, da Jean Paul die ersten Fassungen der beiden Blumenstücke bereits geschrieben hatte, bevor er den Roman im August 1795 zu verfassen begann.
2.1. Die Genese der Christusrede
Der Entstehungsprozess der „Christusrede“ kann durch Jean Pauls hinterlassene Schriften recht detailliert nachvollzogen werden. Vier Fassungen sind bekannt.
Die Urfassung des Ersten Blumenstückes stammt vom 3. August 1789 und „findet sich auf einem tagebuchartigen Blatt“[11]:
Schild(erung) des Atheismus. Er predigt, es ist kein Got
Wie ich zu Nachts d(en) Geist in der Kirche predigen hörte – von der Eitelkeit aller Dinge – wie ich einen Freund sah darunter – wie d(ie) bös(en) und d(ie) gut(en) aussahen – eine nach d(en) bösen in d(er) Luft schnappende und sich auf und zuschliessende hand – an der Wand das gehende Rad der Zeit – ein (nachtr. heftig) zitterndes Gerip – (oder so: die Todten aufgedekt und die guten schlafend mit Träumen des Himmels; die bösen aufgewacht.[13][12]
Es handelt sich hier um ein Fragment, das als real geträumter Traum recht plausibel ist. Auch Schreinert vermutet, dass „diesen Traumdichtungsentwürfen wirkliche Träume des Dichters zugrunde [liegen]“.[14] Dafür sprechen die traumtypischen unkonkreten Bilder, die Jean Paul hier entwirft. Sie wirken wie Erinnerungsfetzen, die uns zusammen mit den Abkürzungen, die er benutzt, suggerieren, dass es sich eventuell um ein schnell niedergeschriebenes „Traumprotokoll“ handelt.
Die zweite Fassung ist eine Niederschrift unbekannten Datums mit dem Titel „Todtenpredigt Shakespear“.[15] Sie ist die Vorstufe zu „Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Got sei“[16], welche als „1. Ernsthafter Zwischenakt“ in Jean Pauls „Abrakadabra oder die Baierische Kreuzerkomödie“ einging. In der „Todtenpredigt Shakespear“ hat der Dichter die Figur des „Geistes“ in die des „Shakespeare“ umgewandelt.
Die bereits erwähnte dritte Fassung entstand im Sommer 1790[17] und gleicht, was Länge, Aufbau und Motive betrifft, der Endfassung bereits sehr. Ein großer Unter-schied hingegen besteht noch: In „Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zu-hörern in der Kirche, daß kein Got sei“ ist „die Zweiteilung des Ganzen [noch nicht] herbeigeführt [...]; sie hält noch ganz an der alleinigen Situation der Totenkirche und der Predigt vor den Toten fest [...].“[18] Diese ausgearbeitete Version ging in Jean Pauls „Kreuzerkomödie“ (s. o.) ein; das Werk wurde aber nicht gedruckt. Nach einem weiteren Zwischenschritt, in welchem er Shakespeare durch einen Engel ersetzte[19], erschien es dann in seiner entgültigen, nochmals umgearbeiteten Fassung im Roman „Siebenkäs“. In dieser Version wurde von Jean Paul u. a. der bedeutende Schritt vollzogen, Christus selbst den Atheismus verkünden zu lassen.[20]
2.2. Die Genese des Marientraums
Das Zweite Blumenstück hat eine weniger weit zurückreichende Entstehungs-geschichte als die Christusrede. Laut Schreinert hat Jean Paul die Dichtung für die Fürstin Lignowsky[21] am Morgen des 18. Juni 1795 niedergeschrieben.[22] Am Vortag hatte er deren Bekanntschaft gemacht. „Das Thema der Dichtung lag nahe: die Fürstin war von Wien nach Bayreuth gereist, um ihren Sohn wiederzusehen, der dort von [Hofrat] Schäfer erzogen wurde.“[23] Es bedurfte nur einem „Entwurf“, bevor er – noch am selben Tage - die entgültige Version niederschreiben konnte, welche dann auch „ohne weitere Zwischenstufen“[24] Eingang in den „Siebenkäs“ fand.
Die Entwicklungsgeschichte der beiden Blumenstücke zeigt uns die Problematik auf, die sich bei der Fragestellung nach der Funktion der Träume im Roman Siebenkäs ergibt. Beide Texte sind weitgehend vor Beginn der Arbeit am „Siebenkäs“ verfasst worden. Besonders die aufschlussreichen Erstfassungen der Christusrede, die uns aus dem Nachlass des Dichters erhalten geblieben sind, geben ein detailreiches Bild von den Wandlungen und Festigungen des Werks bis hin zur „Endfassung“. Wie Jean Paul diese durch Verweise und Anspielungen dennoch in den Roman eingebaut und somit „rückwirkend“ integriert hat, versuche ich im weiteren Verlauf zu zeigen. Außerdem möchte ich auch darauf zu sprechen kommen, warum es für Jean Paul in seinem Werk und speziell im „Siebenkäs“ ein wichtiges Element ist, disparate Teile nicht miteinander in Beziehung zu setzen und sie ganz bewusst mit ihren Bruchstellen nebeneinander zu stellen.
3. Erzählanalyse
3. 1. „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“
Im Roman „Siebenkäs“ haben wir es mit einem auktorialen Erzähler zu tun, der sehr nahe an seinem Protagonisten steht:
Ich müßte mich schämen, einen Armenadvokaten, der selber einen bedürfe, mit meinen kostbaren historischen Farbestoffen abzufärben, wenn hier der Fall wirklich so wäre; aber ich habe die Vormundschaft-Rechnungen meines Helden unter den Händen gehabt[...].(S. 24)[25]
Der Erzähler hat also persönlich Einblick in die finanziellen Verhältnisse „seines“ Helden und er ist sich seiner eigenen Tätigkeit als verantwortungsvoller Geschichtenschreiber hochbewusst; auch zeigt er ganz offen seine Sympathie und sein Mitgefühl für die Protagonisten, wenn er z. B. schreibt: „Ich sehe [...] jetzo das geliebte Paar am Altargeländer knieen und könnte dasselbe wieder mit meinen
Wünschen, wie mit Blumen, bewerfen [...].“ (S. 28) Ebenso versucht er die Interessen der Leserschaft zu berücksichtigen, wenn er an anderer Stelle zu wissen glaubt, dass es „meinen Leserinnen nicht unangenehm zu erfahren sein [wird], daß der Bräutigam jetzo einen leberfarbenen Ehren-Frack antat [...].“ (S. 28).
Dieser über alles Wissen und alle Souveränität verfügende Erzähler nimmt sich im „Ersten Blumenstück“ nun die Freiheit, seinen eigenen Traum und die damit verknüpfte Botschaft dem Leser kundzutun. Er schaltet sich dort – wiederum auktorial – ein und legt sogar seine Absichten dar, warum er es tut: „Das Ziel dieser Dichtung ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit.“ (S. 247) In diesem Vorbericht kommentiert er die folgende Erzählung und schickt die eigentliche Botschaft des Traumes voraus: „[...] das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen“. Weiter heißt es: „Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner“(S. 247). Er richtet sich explizit gegen „einige lesende oder gelesene Magister“, die „das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre“ (S. 248). Er fährt fort mit einer Einleitung, die den Leser in die Thematik des Traumes und der Totenmesse einführt. Eine Schauergeschichte, die er in der Kindheit hörte, erzählt von diesen nächtlichen Vorgänge in der Kirche. Diese Gruselerzählung werde im Traume unbewusst „verarbeitet“. Wie ein Vorwort zu einem Jean Paul noch unbekannten, weil lange nach seinem Tode verfassten Werk, nämlich der „Traumdeutung“ von Sigmund Freud, wirkt diese Passage:
Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Träume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese flatternden Funken nicht! – Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit! (S. 247)
Nun beginnt die eigentliche Traumerzählung mit einer Rahmengeschichte: Der Ich-Erzähler des Blumenstücks träumt, er erwache auf einem Friedhof. Die anschließende Binnengeschichte ist der Traum. Das Erzählverhalten ist überwiegend neutral; auktoriale Züge zeigen sich z. B. an der Stelle: „Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder [...].“ (S. 250) Der Standort des Erzählers ist sehr nahe am Geschehen; die Perspektive beschränkt sich allerdings auf die Außensicht der Personen. Auch das erzählende Ich schildert von sich selbst keine Emotionen oder Gedanken, was sehr traumtypisch wirkt, da man im Traum tatsächlich die Erfahrung macht, alles unkritisch und wie selbstverständlich geschehen zu lassen. Die Haltung ist zu Beginn zugunsten des Ich-Erzählers gewichtet – alles, was er auf dem Gottesacker beobachtet, wird von ihm wiedergegeben. Sobald er allerdings in die Kirche eintritt, ändert sich dies: Was er tut oder wo er sich genau befindet wird nicht mehr erwähnt. Auch während der Rede Christi und des Auseinanderbrechens und Niedersinkens der Erde scheint es so, als befände er sich außerhalb seines eigenen Blickwinkels. Die Haltung ist hier eindeutig zugunsten der Toten und dann Christi gewichtet. Das Personalpronomen „ich“ wird nicht benutzt, bis Christus den „Sterblichen neben ihm“ (vgl. S. 252) anspricht und dieser daraufhin niederfällt. Wenn die erlebende Ich-Figur der Erzählung im Verlaufe dieses Traumes aus dem Blickfeld des erzählenden Ichs gerät, spiegelt das dessen Hilflosig- und Ohnmächtigkeit in Anbetracht der Geschehnisse wieder. Auch sprachlich zeigt sich das emotionale Niedersinken des erlebenden Ichs: Das erzählende Ich spaltet sich von seinem erlebenden Ich ab und scheint sich selbst nur noch von weitem als anonymer „Statist“ wahrnehmen zu können, wenn es heißt:
Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. – [...]. Nur ein Todter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen [...]. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr [...]. (S. 249, Hervorhebungen von mir)
Von hier an ist nur noch das Handeln der Toten und später vom herabsinkenden Christus[26] Gegenstand der Erzählung. Wenn dieser dann gegen Ende seiner Rede das erlebende Ich anspricht mit: „Ist das neben mir noch ein Mensch?“ (S. 251) und ihn auch auffordert: „[...] bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.“ (S. 252), wirkt es, als ob dieses aus seiner Lethargie erwache. Erst hier scheint es, allein durch die Anrede und Aufforderung, wieder auf sich selbst aufmerksam geworden zu sein. Es schildert seine eigenen Wahrnehmungen: „Und als ich niederfiel [...] sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit [...].“ (S. 252)
Kurz vor der endgültigen Apokalypse, „die letzte Stunde der Zeit [sollte] schlagen“(S. 252), erwacht der Ich-Erzähler und befindet sich somit wieder in der Rahmengeschichte. Seine Schilderung des Glückes, das er empfindet, weil er „wieder Gott anbeten konnte“ (S. 252), ist von einem sehr personalen Erzählverhalten geprägt. Er lässt den Leser in sein Innenleben blicken, wenn er sagt: „Meine Seele weinte vor Freude [...]“ oder „[...] eine frohe vergängliche Welt [...] lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater [...].“ (S. 252)
Die Erzählzeit ist das Präteritum. Die Zeit, die die Rahmenerzählung umfasst und in welcher der Traum geträumt wird, ersteckt sich über wenige Stunden. Der Erzähler entschläft „an einem Sommerabende vor der Sonne“ (S. 249) und erwacht, als die Sonne „tief hinter den vollen purpurnen Kornähren“ (S. 252) untergeht. Die Zeit, welche die Erlebnisse im Traum umfasst, ist noch ungenauer anzugeben. In der früheren Fassung „Des todten Shakespear’s Klage“ spielt sich das Traumgeschehen in genau einer Stunde ab. Diese Zeitspanne wird durch die Glockenschläge, welche den Traum sowohl „einläuten“ als auch „ausläuten“[27], explizit eingegrenzt. In der „Rede des todten Christus“ haben sich nur die „abrollenden Räder der Turmuhr, die elf schlug“ (S. 249) erhalten, welche ihn zu Beginn des Traumes erwecken. Die Schläge, die den Traum „nach hinten hin“ begrenzen, sind zwar noch vorhanden, aber haben keine temporale Funktion mehr, da sie nun „die letzte Stunde der Zeit schlagen“ (S. 252). Wie viel Zeit die apokalyptischen Vorgänge, die im Träume beschrieben sind, beanspruchen, entzieht sich jeder Vorstellung und sind daher nicht fassbar.
3.2. „Der Traum im Traum“
Auch im „Zweiten Blumenstück“ bleibt der Er-Erzähler des Romans der Ich-Erzähler dieses weiteren Traumes. Er beginnt ebenfalls mit einer Rahmengeschichte: Eine idyllische Landschaft wird, dieses Mal ausführlicher, beschrieben, in der das erlebende Ich einschläft. Einige Elemente vom ersten Traum scheinen hier, in ihr positives Gegenstück verwandelt, wieder aufzutauchen: Der Regenbogen, der als „Ring der Ewigkeit“ (S. 253) beschrieben wird, erinnert stark an die „Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit“ (S. 252), welche im „Ersten Blumenstück“ die Welt zusammengequetscht hat. Gleichzeitig wird mit diesem „guten“ Regenbogen auf den versiegenden „Regenbogen aus Wesen“ (S. 250) aus der Christusrede verwiesen. Das „gebrochene[s] Gewitter“ (S. 253) könnte man als den verflogenen Alptraum der vorhergehenden Erzählung deuten; die Abendsonne, die „mit einem milden Lichte dem Gewitter nach[schaut]“ und „warm und lodernd durch die Augenlider drang“ (S. 253), ist die Fortsetzung des Sonnenmotivs, das bereits in der Rahmengeschichte, die das „Erste Blumenstück“ abschließt, ins positive Pendant zur „Sonnenfinsternis“ und zur nichtexistierenden bzw. sinkenden Sonne verändert wurde. Schon dort kann sich das erwachte Ich an einer glimmenden Sonne erfreuen (Vgl. S. 252). In der Rahmengeschichte des Marientraums wird der Entschlafende in einen „Nebel des Schlafs“ (S. 253) gehüllt, den schon bald „Lichtstreife“ und „ Schönheitlinien“ (S. 253) durchziehen. Auch im „Ersten Blumenstück“ war einer der ersten Eindrücke des Schlafenden „ein grauer schwüler Nebel“ (S. 249), was allerdings durchweg mit negativen Gefühlen verbunden ist. Hier wird der Nebel bald von den „hellen Bildern des Traums übermalt“ (S. 253), dort bleibt es finster; das „Netz des Nebels“ (S. 249) bemächtigt sich sogar des Körpers des Schlafenden und „rückt[en] [ihn] in den Tempel.“ (S. 249) Die Rahmengeschichte des „Zweiten Blumenstücks“ ist von einem personalen Erzählverhalten geprägt; durch die detailliert geschilderte Landschaft, in deren Zusammenhang auch die Seelenlandschaft beschrieben wird, bekommt der Leser eine Innensicht auf das erlebende Ich.
Die Binnengeschichte hat den Traum von der „zweiten Welt“ (S. 253) zum Gegenstand. Der Ort wird nicht näher bestimmt und bleibt traumhaft-mystisch. Die eigentliche Binnengeschichte stellt der „Traum im Traum“ dar; daher möchte ich die vorliegende als zweite Rahmengeschichte bezeichnen. Der Träumende beschreibt eine betörend-mystische, nicht irdische Landschaft; das Erzählverhalten ist auch hier, wie im Traum des „Ersten Blumenstücks“, neutral und beschränkt sich auf die Außensicht. Ab der Stelle „Ich war der zweiten Welt unsichtbar; unsere Hülle ist dort nur ein kleiner Leichenschleier, nur eine nicht ganz gefallene Nebelflocke.“ (S. 253f.) scheint sich das erlebende Ich für den Leser geradezu unsichtbar zu machen, um dessen Aufmerksamkeit ganz auf die daraufhin eingeführte „Heilige Jungfrau neben ihrem Sohne“ (S. 254) zu richten. Er ist nur noch Beobachter und Erzähler der Geschehnisse und schildert in personalem Erzählverhalten die Empfindungen der Maria und deren Verlangen nach „meinen teuern Menschen“ (S. 254). Er hat Innensicht auf seine „neue“ Protagonistin, denn er weiß u. a. um ihre „Sehnsucht nach der alten geliebten Erde“, die „Mariens zarte Seele weicher“ (S. 254) macht. Die Position des erzählenden Ichs wird nicht angegeben; er scheint vielmehr in seiner unsichtbaren Gestalt seinen Standort frei wählen zu können und vermag daher auch die Gedankenwelt der „Heiligen Jungfrau“ zu durchdringen. Er wirkt wie ein personaler Er-Erzähler. In der Binnengeschichte vom Traum Marias ist sein Erzählverhalten hingegen auktorial geprägt: Er ist wertend und mitfühlend, wenn er die erste Frau, die Maria im Träume erblickt, dem Leser als „eine Unglückliche“ (S. 254) vorstellt und sie einfühlsam anspricht mit: „Du Arme! blicke nicht nach Abend an das überflorte Trauerhaus [...]!“ (S. 254) Obwohl bei diesen Aussagen auch denkbar wäre, dass es sich um einen inneren Monolog Marias handelt, denke ich dennoch, dass es sich um einen Erzählerkommentar handelt, da es im gleichen Stil gegen Ende des Marientraumes heißt: „Aber warum lächelst du auf einmal so selig, wie eine freudige Mutter, Maria?“ (S. 256) Hierbei und in den darauf folgenden Sätzen kann es sich nur um den Erzähler handeln, der Maria anspricht.
[...]
[1] Carl Pietzcker: Einführung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerks am Beispiel von Jean Pauls „Rede des toten Christus“, Würzburg 1983.
[2] Gert Ueding: Jean Paul, München 1993. Ich verweise hier auf Kapitel 10: Traumliteratur, S. 121-131.
[3] Ralf Goebel: Philosophische Dichtung – dichtende Philosophie. Eine Untersuchung zu Jean Pauls (Früh-) Werk unter Berücksichtigung der Schriften Johann Gottfried Herders und Friedrich Heinrich Jacobis, Frankfurt a.M. 2002.
[4] Redmer Baierl: Transzendenz, Weltvertrauen und Weltverfolgung bei Jean Paul, Würzburg 1992.
[5] Herbert Kaiser: Jean Paul lesen. Versuch über seine Anthropologie des Ich, Würzburg 1995.
[6] Ebda., S. 244.
[7] Jean Paul: Siebenkäs, hrsg. von Friedrich Burschell, Hamburg 1957 (= Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft).
[8] Ebda., S. 368.
[9] Vinçon erläutert, die Bezeichnung „Blumenstück“ sei, „neben der Bedeutung Blumenbild und dem Begriff Blütenlese, eine Jean Paulsche ‚Übersetzung’ für Florilegium [...].“ Hartmut Vinçon: Jean Paul Ein Klassiker? Bürgertum in der Opposition, Giessen 1978. Diese Anspielung deutete vielleicht auf eine Verbindung seines Erzählstils der Digression mit dem Prinzip einer Anthologie („Blütenlese“), verschiedenartigste Gedichte, Sprüche oder Prosastücke gesammelt zu veröffentlichen, hin.
[10] J. Kiermeier-Debre, J. Krogall: Blumen-, Frucht- und Dornenstükke, in: Kindlers neues Literaturlexikon, Bd. 8, hrsg. v. W. Jens, München 1990, S. 669. „Wie stets bei Jean Paul ist eine derartige Kategorisierung jedoch nur bedingt möglich.“ Ebda.
[11] Jean Paul: Sämtliche Werke, II, 3, hg. v. Eduard Berend, Weimar 1932. Lesarten und Entwürfe zur Bairischen Kreuzerkomödie, S. 400. Im Folgenden wird diese Quelle mit „Jean Paul: SW“ abgekürzt.
[12] Die Überschrift wurde nachträglich darüber gesetzt. S. ebda.
[13] Jean Paul: SW, II, 3, 400f. Die einfachen runden Klammern sind von Jean Paul gesetzt; bei den doppelten runden Klammern handelt es sich um Hinzufügungen vom Herausgeber.
[14] Ebda., S. L. Er schreibt hier von Entwürf en, da vorliegende Fassung „auf dem letzten Blatt einer Folge von drei Einzelquartblättern, die meist Themen für Traumdichtungen enthalten“ niedergeschrieben wurde. Ebda.
[15] Das komplette Textbeispiel s. S. 25.
[16] Das komplette Textbeispiel s. S. 25.
[17] S. Jean Paul: SW, I, 6, hrsg. v. Schreinert, (Einleitung) S. LI.
[18] Ebda., S. LII.
[19] „ Rede des Engels beim Weltgebäude “. Von dieser Idee zeugt nur diese erhaltene Überschrift aus Jean Pauls Notizen. Ebda., S. IX.
[20] Die Umarbeitung geschah im September-Oktober 1795. Ebda., S. LII.
[21] Vgl. Jean Pauls Fußnote zum Zweiten Blumenstück. SW, I, 6, hrsg. von K. Schreinert, S. 247.
[22] Jean Paul: SW, I, 6, hrsg. v. Schreinert (Einleitung), S. LV.
[23] Ebda., S. LIV.
[24] Ebda., S. LV.
[25] Im Folgenden beziehen sich Seitenangaben in Klammern auf Jean Paul: SW, I, 6 (Siebenkäs).
[26] „Und genau an dieser Stelle verliert der Traum seinen bisher plausiblen Charakter und verwandelt sich in eine Traum-Vision [...].“ Die Klagepredigt Christi bestehe nämlich „zum großen Teil – traumuntypisch – aus wörtlich gehörter und wiedergegebener Rede [...].“ Wilhelm Richard Berger: Der träumende Held. Untersuchungen zum Traum in der Literatur, Göttingen 2000, S. 80f..
[27] „Ich hörte die abrollenden Räder der Thurmuhr, da sie 11 Uhr schlug [...].“, „Mit einem schreklichen Schlage schien der Glockenhammer [...] die zwölfte Stunde zu schlagen [...].“ Jean Paul: SW, II, 3, S. 164 und S. 166.
- Quote paper
- Karin Pfundstein (Author), 2005, Die Funktion der Träume in Jean Pauls 'Siebenkäs', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48156
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