Das Prostorečie gehört zu den relativ wenig erforschten Varietäten des russischen Substandards. Das hängt zu einem großen Teil mit der Ideologie der Sowjetzeit zusammen – denn die Erscheinung einer sprachlichen Varietät, die an sogenannte niedrigere Schichten gekoppelt sein müsste, widersprach der Vorstellung von der Homogenität der sowjetischen Gesellschaft.
Erst in den letzten Jahrzehnten begann man sich damit verstärkt zu beschäftigen, doch gibt es immer noch viele Fragen zu klären, wie es aus der vorliegenden Arbeit ersichtlich wird. Diese soll einen Überblick über das Thema und den bis heute erreichten Forschungsstand bieten.
Das erste Kapitel beschäftigt sich dabei mit der diachronen Betrachtung des Begriffs „Prostorečie“; im zweiten wird diese Varietät vom heutigen Standpunkt aus betrachtet. Das dritte Kapitel zeigt schließlich die verschiedenen, typischen für das Prostorečie Abweichungen von der Standardsprache – und zwar in den Bereichen der Phonetik, Morphologie, Lexik und Syntax. Ein Kriterium für die Auswahl der verwendeten Quellenwerke war ihre Aktualität – so findet sich kein Artikel im Literaturverzeichnis, das älter als 23 Jahre ist.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Historischer Abriss der Entstehung und Bedeutung des Begriffs „Prostorečie“
2. Prostorečie aus heutiger Sicht
2.1 Definition des Prostorečie und seine Einordnung ins Sprachsystem
2.2 Der Prostorečie-Sprecher
3. Merkmale des Prostorečie
3.1 Phonetik
3.2 Morphologie
3.3 Lexik
3.4 Syntax
4. Zusammenfassung und Ausblick
5. Literaturverzeichnis
0. Einleitung
Das Prostorečie gehört zu den relativ wenig erforschten Varietäten des russischen Substandards. Das hängt zu einem großen Teil mit der Ideologie der Sowjetzeit zusammen – denn die Erscheinung einer sprachlichen Varietät, die an sogenannte niedrigere Schichten gekoppelt sein müsste, widersprach der Vorstellung von der Homogenität der sowjetischen Gesellschaft. Erst in den letzten Jahrzehnten begann man sich damit verstärkt zu beschäftigen, doch gibt es immer noch viele Fragen zu klären, wie es aus der vorliegenden Arbeit ersichtlich wird.
Diese soll einen Überblick über das Thema und den bis heute erreichten Forschungsstand bieten, wenngleich sie natürlich aufgrund ihres Umfangs als Proseminararbeit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das erste Kapitel beschäftigt sich dabei mit der diachronen Betrachtung des Begriffs „Prostorečie“; im zweiten wird diese Varietät vom heutigen Standpunkt aus betrachtet. Das dritte Kapitel zeigt schließlich die verschiedenen, typischen für das Prostorečie Abweichungen von der Standardsprache – und zwar in den Bereichen der Phonetik, Morphologie, Lexik und Syntax.
Ein Kriterium für die Auswahl der verwendeten Quellenwerke war für mich neben ihrer Erreichbarkeit in Wien auch ihre Aktualität – so findet sich kein Artikel im Literaturverzeichnis, das älter als 23 Jahre ist. Da die Sprache – und ganz besonders die mündliche – ein lebendiges und einem ständigen Wandel unterworfenes System ist, sollte man bei linguistischen Untersuchungen dieser Art insbesondere darauf achten, nicht allzu überholte Quellen heranzuziehen.
1. Historischer Abriss der Entstehung und Bedeutung des Begriffs „Prostorečie“
Zum Zeitpunkt der Christianisierung (998) gab es wahrscheinlich kein allgemeines, überregionales Altrussisch, sondern nur zahlreiche Dialekte. Das erleichterte natürlich die Übernahme, Durchsetzung und allgemeine Verbreitung des (Alt)Kirchenslawischen als Schriftsprache. Andererseits dürfte sich wiederum die Existenz des Kirchenslawischen als jener Sprachform, der das höchste soziale Prestige zukam, negativ auf die Herausbildung einer gemeinrussischen und einheitlichen Verkehrssprache ausgewirkt haben; nicht einmal in der Zeit der Moskauer Rus´ scheint es sie gegeben zu haben.[1]
Der endgültige Zusammenfluss verschiedener einzelner bis dahin vorherrschender Stadtdialekte zu einer relativ homogenen überregionalen Umgangssprache müsste erst in der zweiten Hälfte des 17 Jh. erfolgt sein. Es war aber wohl zu spät (oder in gewisser Weise zu früh) als dass diese Umgangssprache das Kirchenslawische als Schriftsprache verdrängen könnte. Protopop AVVAKUM (Diakon, 1620 – 1684) schreibt in seiner Autobiografie daher eine folgende Aufforderung:
...и вы, господа ради, чтущии и слышащии, не позазрите просторечию нашему, понеже люблю свой русской природной язык...[2]
Das Interessante an dieser Stelle ist, dass hier das Wort Prostorečie zum ersten Mal belegt ist und ziemlich eindeutig den Gebrauch dessen bezeichnet, was AVVAKUM „русской природной язык“ nennt. Also stand Prostorečie ursprünglich für die damalige „normale“, deutlich vom Kirchenslawischen unterschiedene Umgangssprache. Auf dieselbe Art und Weise verwendet auch Lomonosow dieses Wort in seiner „Rossijskaja grammatika“ von 1775.
Somit war Prostorečie bis etwa Mitte des 18 Jh. ein Name für jenes „einfache“ Russisch, das in mehr oder weniger einheitlicher Form von solchen Bevölkerungsschichten gesprochen wurde, die zur „normalen“ mündlichen Kommunikation keinen klar als solchen erkennbaren, regional begrenzten Dialekt mehr benutzten.
Das Prostorečie hatte damals also eine Funktion als „общая разговорная речь“ und einen relativ hohen Stellenwert im sozial-kommunikativen System. Doch diesen Stellenwert verlor es schon wenig später, und zwar mit der Herausbildung jener neuen Varietät, die üblicherweise „современный русский язык“genannt wird.
Die Auslöser für diese Herausbildung waren zu einem großen Ausmaß die Petrinischen Reformen im 18 Jh., die zu einer Westeuropäisierung der Aristokratie führten. Sie bildeten für sich nach dem Vorbild der westlichen Kultursprachen eine neue Umgangssprache heraus, die nach ihren Vorstellungen dem Französischen an Glanz, Biegsamkeit und Eleganz in nichts nachstehen sollte. Prostorečie konnte eigentlich nur das Rohmaterial zu dieser Sprache bilden.
Zur Schaffung der neuen „modernen“ Umgangssprache sollte die alte in wesentlichen Teilen verändert, ergänzt und nach dem westlichen Geschmack zurechtgestutzt werden. Das geschah durch einfache Entlehnungen aus den westlichen Hochsprachen, Lehnübersetzungen aus diesen oder Anleihen beim Kirchenslawischen.
Diese neue Umgangssprache wurde noch in der ersten Hälfte des 19. Jh. zur beispielhaften oder Standardform des Russischsprechens, wenngleich sie zunächst nur von einer sehr dünnen gesellschaftlichen Oberschicht beherrscht und gebraucht wurde. Das viel weiter verbreitete Prostorečie konnte diesen Status auch deshalb nicht erreichen, weil sein soziales Prestige nicht besser war als das von seinen eigentlichen Sprechern. So heißt es bei Dahl um 1880 – Prostorečie ist „простой, простонародный говор, язык“. „Простой народ“ bedeutet „крестьянство“. Also sah man in höheren Kreisen im Prostorečie nichts anderes als eine Art des Russisch-Sprechens, die genau so „grob, derb, unkultiviert“ war wie der als „простой народ“ bezeichnete Teil der Bevölkerung selber.
Nach der Oktoberrevolution ist der Begriff „Prostorečie“ wesentlich schwerer zu erfassen, was damit zusammenhängt, dass eigentliche soziolinguistische Untersuchungen zu dem Thema in der Sowjetunion aufgrund der sowjetischen Ideologie, nach der es keine Gesellschaftsschichten gibt, sehr selten sind. Das nächste Kapitel beschäftigt sich schließlich mit der synchronen Darstellung des Begriffs.
2. Prostorečie aus heutiger Sicht
2.1 Definition des Prostorečie und seine Einordnung ins Sprachsystem
Im „Лингвистический энциклопедический словарь“ aus dem Jahre 2002 findet man eine folgende Definition des Prostorečie:
Просторечие - одна из форм национального языка, наряду с диалектной, жаргонной речью и литературным языком; вместе с народными говорами и жаргонами составляет устную некодифицированную сферу общенациональной речевой коммуникации - народно-разговорный язык; имеет наддиалектный характер. Просторечие, в отличие от говоров и жаргонов, - обшепонятная для носителей национального языка речь.[3]
Diese Definition scheint nur auf den ersten Blick vollständig; in Wirklichkeit wirft sie Fragen auf – wer befindet sich nun unter den Sprechern des Prostorečie? Sind es gar alle aus der Bevölkerung, da es doch ein „gesamtnationales“ Phänomen ist? Ebenfalls unklar bleibt, ob das Prostorečie ein in sich abgeschlossenes System bildet. Man sieht sich also gezwungen, auch andere Publikationen zu diesem Thema zu konsultieren.
Dabei wird sogleich deutlich, dass eine endgültige und vollständige Definition des Prostorečie bis heute ein Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geblieben ist – beinahe jeder Wissenschaftler bringt seine eigene mehr oder weniger abgewandelte Definition vor, was natürlich ein einheitliches Herangehen an die Problematik dieses Sprachphänomens zusätzlich erschwert. Noch im Jahr 1982 meinte Raecke, dass eine eindeutige und vollständige Definition des Prostorečie in der Wissenschaft noch ausstehe, doch für einen Versuch, diese auszuarbeiten, sieht er die folgende Bedeutung des Begriffs als grundlegend für alle weiteren Überlegungen an:
[Prostorečie ist] ein vollständiges Gefüge von Traditionen des Sprechens, welches seinem historischen Wesen nach die unmittelbare, natürlich dem Wandel in der Zeit unterlegenen Fortsetzung der etwa in der 2. Hälfte des 17. Jh. entstandenen russischen überdialektalen Volkssprache ist, das sich von der gesprochenen Standardsprache sowohl positiv wie auch negativ (jeweils nicht im wertenden Sinne) unterscheidet [...]. Wegen dieser Abweichungen von der Standardsprache und seines geringeren sozialen Prestiges ist es als Substandardsprache anzusehen, die primär an die „bildungsfernen“ Bevölkerungsschichten gebunden sein dürfte. Von den Dialekten ist es dadurch unterschieden, dass es im gesamten russischen Sprachgebiet verbreitet, also nicht regional begrenzt ist.[4]
Das könnte auch die Grundlage für K'oster-Thomas Definition gewesen sein, die sie vierzehn Jahre später präsentiert und welche bereits ziemlich vollständig zu sein scheint, beantwortet sie doch auch die Frage nach der eigenen Systemhaftigkeit des Prostorečie, die es ihr zufolge nicht gibt:
Просторечие является социально обусловленной некодифицированной разновидностью русского этноязыка и представляет собой конгломерат различных языковых явлений - широко распространённых несоответствий нормам литературного языка - на всех языковых уровнях.
Просторечие не является особой лингвистической формацией. Оно обладает, однако, специфическим узусом функционирования языковых единиц, выявление своеобразия которых происходит контрастивно к литературному языку - стандарту.
Просторечие обнаруживается преимущественно в устной речи городских жителей, в которой отсутствует кодовое переключение с просторечия на литературный язык. Существенными являются экстралингвистические параметры: место рождения, возраст, образование, профессия, социальная среда, языковое окружение и под., также детерминанты: спонтанность, непринуждённость, непосредственность, неподготовленность речевого акта и др.[5]
Aber auch diese Definition wird bereits seitens einiger Wissenschafter als nicht mehr ganz korrekt angesehen. D'jačok etwa veröffentlicht 2003, nur sieben Jahre später, einen Aufsatz, in dem er behauptet, dass das Prostorečie eine nicht mehr nur rein städtische Erscheinung ist, sondern genauso auch am Land gesprochen wird.[6] Dies zeigt zumindest, dass Prostorečie als soziolinguistische Erscheinung mit jedem Wandel der Gesellschaftssituation sich zwangsläufig auch wandeln wird und selbst eine sehr präzise und vollständige Definition im Laufe der Jahre immer wieder überprüft und neu angepasst werden muss.
[...]
[1] Vgl. Raecke 1982, S. 159-167
[2] Zitiert nach Raecke 1982, S. 161
[3] Jarceva 2002, S. 402
[4] Raecke 1982, S. 167-168
[5] Zitiert nach: Dirisamer 1998, S. 23
[6] Vgl. D'jačok 2003, S. 3-4 und Kapitel 2.2
- Quote paper
- Uljana Vyshnyakov (Author), 2005, Das russische Prostorecie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47851
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