Führen Volksabstimmungen, wie wir sie momentan in Deutschland finden, tatsächlich zu mehr Demokratie? Wäre also mehr direkte Bürgerbeteiligung für die Krise der repräsentativen Demokratie eine Lösung? Mit diesem Thema möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen, um herauszufinden, ob Volksabstimmungen zu mehr oder weniger Demokratie führen.
Ob Paris, Madrid, London oder Stuttgart, in den letzten Jahren gab es eine ganze Welle an Protestbewegungen. So unterschiedlich die Anlässe auch waren, so haben sie doch alle gemeinsam, dass sich Bürgerinnen und Bürger von den politischen Eliten übergangen und nicht ernst genommen fühlen. Colin Crouch würde dies vermutlich als Reaktion der Bürger auf die Auswirkungen der sogenannte Postdemokratie interpretieren, in der die "reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht" wird. Um dem entgegenzuwirken, wird der Ruf nach mehr unmittelbarer Demokratie beispielsweise in Form von Volksabstimmungen immer lauter.
THESEN
1) Volksabstimmungen, wie wir sie momentan in Deutschland finden, führen zu weniger Demokratie.
2) Die Herausforderungen und Gefahren (Terrorismus, Klimawandel,…) vor denen unsere heutige Gesellschaft steht, können nicht durch direkte Demokratie bewältigt werden.
3) Postdemokratie sollte nicht als Bedrohung, sondern Weiterentwicklung der Demokratie begriffen werden.
4) Der Dialog zwischen Bürgern und Politikern muss verbessert werden, um politische Entscheidungen zu legitimieren und Rückhalt in der Bevölkerung zu finden.
5) Deutschland braucht eine gerechtere Form der Volksabstimmung.
Ausarbeitung der 1. These:
Volksabstimmungen, wie wir sie momentan in Deutschland finden, führen zu weniger Demokratie.
Ob Paris, Madrid, London oder Stuttgart, in den letzten Jahren gab es eine ganze Welle an Protestbewegungen. So unterschiedlich die Anlässe auch waren, so haben sie doch alle gemeinsam, dass sich Bürgerinnen und Bürger von den politischen Eliten übergangen und nicht ernst genommen fühlen. Colin Crouch würde dies vermutlich als Reaktion der Bürger auf die Auswirkungen der sogenannte Postdemokratie interpretieren, in der die „reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht“ (Crouch 2008, 10) wird. Um dem entgegenzuwirken, wird der Ruf nach mehr unmittelbarer Demokratie beispielsweise in Form von Volksabstimmungen immer lauter. Doch führen Volksabstimmungen, wie wir sie momentan in Deutschland finden, tatsächlich zu mehr Demokratie? Wäre also mehr direkte Bürgerbeteiligung für die Krise der repräsentativen Demokratie eine Lösung? Mit diesem Thema möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen, um herauszufinden, ob Volksabstimmungen zu mehr oder weniger Demokratie führen.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Volksabstimmungen bei Bürgerinnen und Bürgern hoch anerkannt sind und als äußerst gerechte Form der Demokratie bewertet werden. Direktdemokratisch getroffene Entscheidungen genießen hohes Ansehen in der Bevölkerung, ganz im Gegensatz zu Regierungs- oder Parlamentsbeschlüssen, denn „Parteien und Parlamenten werden sehr niedrige Vertrauenswerte attestiert“ (Merkel 2011, 3). Folglich stärken Volksabstimmungen die Legitimation politischer Entscheidungen und stärken so das Vertrauen in die Demokratie insgesamt. Dies wäre somit eine Möglichkeit Politikverdrossenheit zu mindern und die Demokratie zu beleben (Schäfer 2011, 53).
Zudem wirken Volksabstimmungen der Entfernung von Bürgern und Politik entgegen. Politiker können sich bei ihren Entscheidungen an Volksabstimmungen orientieren und umgekehrt haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit Einfluss auf die Politik zu nehmen, Themenschwerpunkte zu setzen oder Druck auszuüben.
Diesen Vorteilen stehen jedoch auch einige gewichtige Nachteile gegenüber. Zunächst ist hierbei das Problem der Wahlbeteiligung anzuführen. Empirisch nachweisbar ist hierbei, dass die Teilnahme an Volksabstimmungen auf allen Ebenen hinter der Beteiligung an allgemeinen Wahlen zurück bleibt (Merkel 2011, 3). Dies ist insbesondere bei nationalen Wahlen der Fall. Eine Beteiligung an Volksabstimmungen von über 50% ist äußerst ungewöhnlich und bildet die Ausnahme. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass je komplexer die abzustimmende Materie ist und je häufiger Abstimmungen stattfinden, desto geringer ist die Beteiligung an der Abstimmung (Merkel 2011, 3). Diese Tatsachen sprechen eindeutig gegen Volksabstimmungen und vor allem gegen häufigere Volksabstimmungen, da zu wenige Bürgerinnen und Bürger im Verhältnis zur wahlberechtigten Bevölkerung abstimmen.
Ein weiteres wichtiges Argument gegen Volksabstimmungen ist deren hohe soziale Selektivität. „Nicht das Volk in seiner Gesamtheit, sondern die höheren und mittleren Schichten, die Gebildeten und überproportional die Männer stimmen typischerweise bei Referenden ab“ (Merkel 2011, 3). Wie oben bereits erwähnt, stimmen dabei weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten bei Volksabstimmungen ab, was im Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen zu einer noch größeren sozialen Schieflage führt. Somit kommt man zu der Schlussfolgerung, dass Volksabstimmungen die Überrepräsentation der wohlhabenderen Schichten und der politisierten Mittelschicht noch verstärken. Diese sind jedoch bereits in den traditionellen Institutionen der repräsentativen Demokratie überproportional vertreten (Merkel 2011, 3).
Wie soeben ausgeführt gehen die unteren Schichten unterdurchschnittlich zu Referenden, während die besserverdienenden Schichten überdurchschnittlich häufig abstimmen. Dies hat zur Folge, dass die ohnehin wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft noch zusätzlich verstärkt wird. Dies bestätigen Erfahrungen in Kalifornien und der Schweiz. Dort zeigen Ergebnisse „häufig die Durchsetzung konservativer oder neoliberaler Fiskalpolitik mit negativen Verteilungskonsequenzen für die unteren Einkommensschichten“ (Merkel 2011, 3). Referenden bremsen im Allgemeinen den Ausbau des Sozialstaats bzw. beschleunigen sogar noch seinen Abbau und senken die Steuerlast der Besserverdienenden. Folglich ist dies sehr zum Nachteil der unteren Schichten, die der Hilfe des Sozialstaats am meisten bedürfen. Ein treffendes Beispiel hierfür ist das Scheitern der Hamburger Schulreform im Jahre 2010. Hierbei wurde mit 54 % der Abstimmenden gegen die Einführung einer sechsjährigen Primarschule, wie dies von der schwarz-grünen Koalition geplant wurde, gestimmt (Schäfer 2011, 57). Daran beteiligten sich nur 39% der Wahlberechtigten, dies ist etwa die Hälfte der durchschnittlichen Beteiligung an allgemeinen Wahlen. Das Scheitern der Schulreform ist in diesem Kontext besonders bemerkenswert, denn sie wäre insbesondere Schülern aus den unteren Schichten zugute gekommen.
Es wird auch immer wieder als Argument für Volksabstimmungen angeführt, dass diese den Diskurs über politische Fragen anregen. Obwohl es noch an systematischen Diskursanalysen mangelt, lässt sich doch festhalten, dass vor Abstimmungen zu hochpolitischen Fragen, wie beispielsweise UN- oder EU – Beitritte, tatsächlich intensivere Diskurse feststellbar sind. Das Problem dabei ist allerdings, dass diese die Ausnahme bilden. Größtenteils wird über Policy-Themen abgestimmt, denen kaum intensive Debatten vorausgehen. Referenden sind somit „viel seltener die Stunde des Diskurses oder gar der Deliberation, als ihre Befürworter glauben“ (Merkel 2011, 4). Bürgerinnen und Bürger stehen nicht in der Pflicht sich vor der Abstimmung umfassend zu informieren. Dies kann dazu führen, dass unüberlegt, kurzfristig und egoistisch abgestimmt wird, ohne über langfristige Konsequenzen oder Nachteile für Minderheiten nachzudenken. Ein typisches Beispiel hierfür ist der erfolgreiche Schweizer Volksentscheid von 2009 gegen den Bau von Minaretten (Winkler 2011, 48).
Es wird immer wieder kritisiert, dass der Einfluss von Interessengruppen auf die Politiker und deren Entscheidungen zu hoch ist. Dabei stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Einfluss von Interessengruppen bei Volksentscheiden geringer ist und deshalb als Vorteil für diese gewertet werden kann. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall. „Es sind die wirtschaftlichen und politischen Eliten, welche die Referendumskampagnen und ihre Ergebnisse maßgeblich bestimmen“ (Merkel 2011, 3). Dies fängt schon damit an, dass die Initiatoren von Volksabstimmungen hauptsächlich aus der politisierten Mittelschicht, aus Interessengruppen, NGO’s und aus Regierungen oder Parteien kommen. Dabei ist der Erfolg solcher Kampagnen maßgeblich von deren politischen, organisatorischen und finanziellen Ressourcen abhängig. Über diese Ressourcen verfügen in erster Linie politische Organisatoren und wirtschaftliche Interessengruppen (Merkel 2011, 3). Folglich beeinflussen auch hier Interessengruppen erheblich die politische Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger.
Betrachtet man nun die Vor- und Nachteile von Volksabstimmungen, so ist das Argument, dass sie das Vertrauen in die Demokratie stärken nicht zu unterschätzen. Gerade in unserer heutigen Gesellschaft, in der Politikverdrossenheit ein großes Problem darstellt, wäre es wichtig die Demokratie zu beleben und Menschen für sie zu begeistern. In einigen einfacheren Fragen sind sie deshalb durchaus ein wichtiger Bestandteil unserer Demokratie und stärken die Legitimation von politischen Entscheidungen. Die angeführten Nachteile sind jedoch so schwerwiegend, dass es verantwortungslos wäre, mehr direkte Demokratie in Form von Volksabstimmungen zu fordern. Die Mangelnde Beteiligung, die hohe soziale Selektivität, die die wachsende Ungleichheit in der Bevölkerung noch verstärkt, der geringe Diskurs und der hohe Einfluss von Interessengruppen sprechen eindeutig gegen mehr Volksabstimmungen. Sie stärken nicht das Volk als Ganzes, sondern verstärken die Ungleichheit zum deutlichen Nachteil für die unteren Schichten unserer Gesellschaft. Deren Interessen sind durch repräsentative Institutionen besser geschützt. Bei Volksabstimmungen kann es nur Sieger und Verlierer geben, in der repräsentativen Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, bleibt dagegen Raum für Kompromisse und Verhandlungen.
Es wird also deutlich: Volksabstimmungen, wie wir sie momentan in Deutschland finden, führen zu weniger Demokratie.
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- Quote paper
- Sarah Rettner (Author), 2012, Mehr Bürgerbeteiligung als Lösung für die Krise der repräsentativen Demokratie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/478249