Dieses philosophische Essay stellt sehr praxisnah die beiden wichtigsten ethischen Entwürfe der Neuzeit der Neuzeit dar, nämlich Kant und den Utilitarismus. Diese beiden Ansätze werden so gegenübergestellt, dass die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede deutlich werden.
Im Latein schlägt man sich ein Schülerleben lang mit dem AcI herum, im Philosophie- und Ethikunterricht mit der Frage, wer nun bei ethischen bzw. moralischen Fragen Recht hat: der Philosoph aus Königsberg oder die englischen Utilitaristen? Anders als den AcI kann man sich diese Frage ein Leben lang in immer wieder neuen Facetten stellen. Deshalb sei sie hier vertiefend und abschließend (?) erörtert.
Wenn man sich heute die Wissenschaften und besonders die Naturwissenschaft anschaut, hat man den Eindruck, alle entwickeln sich weiter – außer die Philosophie und Ethik. Oder warum spielen denn noch immer zwei Theorieansätze eine tragende Rolle in fast allen ethischen Diskussionen, die beide über 200 Jahre alt sind? Dabei sprach schon Kant davon, dass die Philosophie (und Ethik) nicht immer bloß ein Herumtappen sein darf, indem sie eine Art Spiegelgefecht mit Begriffen durchführe, sondern eben und auch Fortschritte erzielen müsse wie alle anderen Wissenschaften (seine eigene Philosophie betrachtete er freilich als einen solchen Fortschritt).
Klar gibt es neben dem Utilitarismus und der Kantschen Pflichtenethik noch andere Ansätze, aber spielen sie in den konkreten Fragen des Alltags wirklich eine Rolle? Eher nein, oder wer hat schon Mitleid mit den Lebewesen auf Grund der Mitleidsethik von Schopenhauer? Wer glaubt wirklich an das Recht des Stärkeren oder gar an die Ankunft eines Übermenschen, nur weil Nietzsche im Zarathustra diesen ankündigte? Auch die Diskursethik von J. Habermas ist in der Praxis kaum anwendbar, denn wer saß schon wirklich an einem Tisch und diskutiere völlig herrschaftsfrei mit anderen Teilnehmern? Nein, die moderne Ethik ist noch immer bestimmt von Kant, den Utilitaristen und dessen Weiterentwicklungen z.B. durch P. Singer mit seiner Kritik an der Sonderstellung des Menschen und seiner Vorstellung, allen Lebewesen Interessen zuzuschreiben, sofern sie empfindungsfähig seien.
Auch das Wiederaufleben der Ethik des Aristoteles brachte keinen echten Fortschritt in der Ethik, auch wenn man immer noch von ihm viel lernen kann: dass Tugenden in der Praxis umgesetzt werden müssen oder dass alle Menschen nach Glück streben. Aber spielt Aristoteles in den Fragen, ob eine Frau abtreiben darf, ob „überflüssige“ Embryonen vernichtet werden dürfen oder ob das Strafrecht in voller Höhe auch auf Jugendliche angewendet werden darf, wirklich eine Rolle? Diese Bereiche des modernen Lebens werden ausschließlich von utilitaristischen Positionen belegt, die nur von Kantschen Erwägungen torpediert werden.
Beiden Positionen ist gemein, dass sie völlig ohne einen Rückgriff auf Gott oder eine Metaphysik welcher Art auch immer auskommen. Das scheint sie für die pluralistische und säkulare Gesellschaft besonders geeignet zu machen, denn eine Moral und ein Nachdenken darüber (= Ethik) muss es auch in Gesellschaften geben, in der viele Menschen nicht mehr gläubig und religiös (ein)gebunden sind.
Deshalb kann es auch nicht ausbleiben, sich mit beiden Richtungen eingehend zu beschäftigen, indem die Grundprinzipien zunächst dargestellt und anhand von Beispielen erläutert werden, um schließlich in einem direkten Vergleich zu versuchen, mittels eines Abwägens von Stärken und Schwächen beider Richtungen sich doch für eine zu entscheiden bzw. einer von beiden den Vortritt zu lassen. Welche wird es sein? Aus welchen Gründen?
Zunächst sei ein Blick auf die Entstehung beider Richtungen geworfen. The Wonder Boy J. Bentham (1748 – 1832) ist der Begründer des Utilitarismus. Diese Bezeichnung leitet sich vom lateinischen utile, der Nutzen ab. Bereits mit 14 Jahren sahen es die Eltern von Bentham als besonders nutzenvoll an, ihren Sohn in Oxford die Rechte studieren zu lassen. Er seinerseits nahm sich mit der Zeit der Rechte der ausgebeuteten Industriearbeiter an, die in den Zentren des entstehenden Kapitalismus in Manchester und Sheffield usw. wie Pilze aus dem Boden schossen. Nicht grundlos forderte er, eine moderne Ethik müsse versuchen, die größte Menge an Glück für die größte Anzahl an Menschen anzustreben („greatest happines for the greatest number“). Dazu entwickelte er eine einfache Lust-und-Schmerz-Lehre, die grob gesprochen besagt, der Mensch strebe stets nach Lust und vermeide stets Unlust, vor allem in Form von Schmerz.
Dieser gegenüber den vorangegangene hochkomplexen Ethiken aus der Antike und dem Mittelalter erfrischende und eingängige Ansatz leuchtet zunächst mal jedem von uns ein. Jeder von uns möchte ein lustvolles Leben in Freude, Wohlstand, Glück und mit hohen Nutzen. Eine andere ethische Frage ist freilich die, ob wir das für alle wollen können. Aber eine Ethik ohne Universalisierung, sprich, dass sie alle betrifft, gibt es nicht. Also: eine Ethik muss generalisierbar sein, sie muss auf so viele wie mögliche Betroffene anwendbar sein, sonst verdient sie ihren Namen nicht. Und genau das erfüllte Bentham mit seiner Lust-Unlust-Lehre. Man könnte nun fragen, und was ist mit dem Masochisten? Er ist auch keine Ausnahme, denn bei ihm besteht die Lust gerade darin, Schmerz zu empfinden. Schön für ihn, wenn er noch sein Gegenstück, den Sadisten findet. Ein treffliches Lust-Pärchen! Insofern können alle Menschen diesem quantitativen Utilitarismus von Bentham gut zustimmen, auch wenn die inhaltliche Ausgestaltung der Lust freilich bei ganz verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich aussehen kann.
Bentham ging nun soweit, jeder Lustempfindung bestimmte Punkte zu zuzuerkennen, d.h. er quantifizierte sie. Ein Kinobesuch bekäme dann zwar Nutzenpunkte, aber das Bestehen des Abiturs sicherlich wesentlich mehr. Insofern muss man auch manchmal auf einen Kinobesuch verzichten, vor allem wenn er aus Hollywood stammt. In der Quantifizierung steckt nun zugleich die Stärke und die Schwäche, was der zweite große Utilitarist, J. St. Mill, zuerst erkannte. Er unterschied folglich zwischen bestimmten Qualitäten von Handlungen: man kann eben doch nicht alles miteinander verrechnen, denn wie soll der Genuss eines alkoholischen Kaltgetränks mit der Rettung von Robbenbabys verrechnet werden?! Deshalb wird Mill auch der Satz zugeschrieben, es sei besser, ein unglücklicher Sokrates zu sein als ein glückliches Schwein, denn derjenige, der moralisch handelt und den Nutzen vieler im Blick hat, ist in dieser Welt nicht immer der Glücklichste und umgekehrt gibt es höhere Lüste wie die Lektüre eines gutes Buches, die weit über die Zufriedenheit durch Essen, Trinken und sich im Schlamm wühlen hinausgehen.
Sehnen sich deshalb die Menschen in den verschiedenen Religionen und Kulturen nach einer höheren Gerechtigkeit? Das soll hier nicht Gegenstand unserer Betrachtung sein. Vielmehr wollen wir noch einen Blick auf die aus den Lehren von Bentham und Mill, also den beiden klassischen Vertretern des Utilitarismus, hervorgehenden Prinzipien werfen. Es sind vier an der Zahl: zunächst ist da das Konsequenzprinzip , wonach ausschließlich die Folgen (Konsequenzen) einer Handlung wichtig sind, also nicht die Motive eines Handelns ins Auge gefasst werden. Zum zweiten gilt das hedonistische Prinzip , wonach allen Menschen gemein ist, nach Glück zu streben. Zum dritten das universalistische Prinzip , danach geht es bei moralischen Handeln immer darum, die Folgen für alle Beteiligten oder Betroffenen zu betrachten – wenn das möglich ist. Und, wie schon der Name sagt, das Utilitätsprinzip , wonach der Nutzen der alleinige Maßstab einer Handlung ist.
Betrachten wir an dieser Stelle ein konkretes Beispiel: Viele Jugendliche neigen dazu, Musik aus dem Internet herunterzuladen, sehen darin ihren eigenen Vorteil, vor allem dann, wenn sie auch andere Lieder anderen usern der Plattform kostenlos zur Verfügung stellen. Scheinbar hat also jeder nur Vorteile davon. Betroffene sind aber in diesem Fall nicht nur die Tauschenden, sondern eben auch die Musikproduzenten sowie freilich die Künstler, die beide auf die Einnahmen aus dem Liedgut angewiesen sind. Während es bei den Musikproduzenten um Gewinnmaximierung geht, handelt es sich bei den Künstlern oft um existentielle Einnehmen. Diese beiden haben also durch das kostenlose Downloaden massive Nachteile, die in diesem Fall sogar sehr gut in Form von Geld quantifiziert werden können. Legt man also alle vier Prinzipien an alle vier Betroffenen an und überdenkt dabei auch die langfristigen Konsequenzen wie z.B. das Aussterben innovativer Künstler auf Grund von Nichteinnahmen, so haben auch die user – denkt man es zu Ende – bald nichts mehr Lohnendes zum Downloaden, weil es nur noch Mainstreambands und wenig bis keine Alternativen gibt. Insofern muss vor dem Hintergrund der Anwendung der vier Prinzipien ganz klar entschieden werden, dass diese Handlung keine moralische ist – und deshalb hat sie der Gesetzgeber auch verboten (nicht umgekehrt).
Hier zeigen sich auch schon die beiden Hauptprobleme des Utilitarismus: wer ist wirklich alles betroffen von einer Handlung und wie lange blickt man auf die Folgen? In diesem Fall sind sogar die nachfolgenden Generationen betroffen und nicht nur die einzelnen Downloader und die Folgen haben immer weitere Folgen – ein Problem, das schon seit Aristoteles bekannt ist: jede Ursache und Folge kann auf eine weitere rückverfolgt werden. Wo enden also die Folgen? Darauf kann der Utilitarismus bis heute keine Antwort geben. Und wer denkt nicht hier an den Flügelschlag eines Schmetterlings auf der Nordhalbkugel, der – betrachtet man die komplette Kausalkette – einen Wirbelsturm auf der Südhalbkugel auslöst.
Betrachten wir nun den Kantschen Imperativ als Gegenmodell. Als Kant einstmals auf einen seiner berühmten zeitlich streng terminierten Spaziergänge Sperlingsjunge aus dem Nest auf den Boden fallen sah und über das dahinterstehende Gesetz der Gravitation nachdachte, kam er auf den Gedanken, auch die Moral müsse, wenn sie Geltung haben wolle, ähnlich gesetzesartig und universalistisch funktionieren. Deshalb nannte er seinen Imperativ auch kategorisch: er soll genau so funktionieren wie ein Gesetz, ausnahmslos! Kant war also versucht, die Moral zu einer Wissenschaft zu erheben, in der Gesetze entdeckt und untersucht werden.
Das Gravitationsgesetz z.B. wird auch nicht immer wieder hinterfragt, sondern vielmehr wird es tausendfach bestätigt und viele Wissenschaftler beschäftigen sich vielmehr damit, zu ergründen, warum es genau so funktioniert wie bei dem Sperlingssturz. Und das beste dabei: jeder von uns kann es ebenfalls empirisch testen und bestätigen. Eine anspruchsvolle Ethik darf also keine Ausnahmen erlauben, darf nicht ständig in Frage gestellt werden, sondern muss vielmehr ausschließlich überprüft und begründet werden. Genau diesen Versuch unternahm der alte Königsberger in seiner Spätschrift die „Kritik der praktischen Vernunft“. Da war er im besten Philosophenalter: 60 Jahre!
Dabei ist ein Imperativ etwas, dem wir folgen sollen, nicht etwa bloß können oder dürfen. Das Sollen ist also eine Pflicht. Deshalb nennt man seine Ethik noch heute Pflichtenethik bzw. als Fachwort Deontologie. Er hatte für den Begriff der Pflicht, der uns heute so fernsteht und fremd ist, sehr lobende Worte: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem Gesetz“ (I. Kant, AA IV, 400) Mit dem Gesetz ist freilich das Sittengesetz gemeint.
Diese Pflichten untereilt Kant in solche, die der Mensch gegen sich selbst hat und solche, die er gegen andere hat. Von Anfang an ist also bei ihm das Ich, das Du und das Wir mit ins Auge gefasst. Der kategorische Imperativ betrifft also alle Menschen zu allen Zeiten – wie ein Gesetz auch nicht einfach heute außer Kraft gesetzt werden kann.
Bevor wir weiter gehen, muss man noch folgendes von Kants Lehre wissen. Kant behauptet in seiner Schrift „Kritik der reinen Vernunft“, dem wohl wichtigsten Buch der gesamten Philosophiegeschichte, es gebe zwei Welten: eine Welt, zu der der Mensch keinen erkenntnismäßigen Zugang hat und die er Welt der Dinge an sich oder noumenale Welt nennt, und eine Welt, wie sie uns erscheint. Die Dinge in der 1. Welt werden durch unsere Sinnlichkeit und unsere Vernunft verändert, d.h. alle Erkenntnisse sind Produkte von uns. Darin besteht seine berühmte – er nannte sie irrtümlich – kopernikanische Wende. Was ist gemeint? der Mensch richtet seine Erkenntnis nicht mehr nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände nach unserer Subjektivität. Alle Erkenntnis ist nicht objektiv, sondern wird aktiv vom Subjekt gemacht, wobei er auf Dinge aus einer uns erkenntnismäßigen nicht zugänglichen Welt zugreift. Wir können sozusagen nicht mehr einfach so über metaphysische Dinge sprechen, weil diese außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeit liegen. Damit beschneidet Kant die Philosophie um ihre drei wichtigsten Themen: Gott, Unsterblichkeit und Freiheit.
Was soll diese Erkenntnis Kants nun aber für die Ethik bringen? In dieser uns nicht zugänglichen Welt ist eben auch das Sittengesetz der Moral, das über den Kategorischen Imperativ auf unser Handeln wirkt. Aber das ist eigentlich schon zu viel gesagt, denn gemeint ist weniger unser konkretes Handeln als vielmehr die Maxime, an die wir innerlich vor dem Handeln denken. Das Sittengesetz ist seinerseits etwas ganz Allgemeines, das so wirkt wie das Gravitationsgesetz, also ausnahmelos. Die Frage ist nur: richten wir unser Handeln nach dem Kategorischen Imperativ?
Der Kategorische Imperativ ist sozusagen die Wirkung des Gesetzes auf unser Handeln oder besser: auf unserer Maxime.
Kant geht es also gar nicht so sehr um die einzelne, konkrete Handlung. Die ist ihm zwar nicht egal, aber sie ist nur Ausfluss einer inneren moralischen Abwägung, einer Entscheidung der Vernunft. Kant rief ja seine Zeitgenossen und uns Nachgeborenen nicht zu, habe Mut, dich deines Herzens, deines Gefühls oder sonst etwas zu bedienen, sondern seines Verstandes sollte sich der Mensch bedienen, und zwar am besten noch bevor er handelt. Somit hängen der Grundgedanke der Aufklärung und Kants Moralauffassung bzw. seine neue Ethik eng miteinander zusammen. Heute würde Kant vielleicht an uns Menschen einen Kurzbrief folgenden Inhalts schreiben: „Liebes Individuum, habe Mut dich deines Verstandes zu bedienen, jenseits aller Medien, aller scheinbarer Autoritäten und diverser überkommener Traditionen; habe diesen Mut vor jeder wichtigen moralischen Handlung, denn diese Nachdenkzeit brauchst du, damit der kategorische Imperativ, der vom obersten Sittengesetz auf uns Menschen wirkt, im Augenblick deiner Handlung auf deine innere Maxime wirken kann. Sapere aute, habe Mut, dich deines Verstandes auch und gerade im postfaktischen Zeitalter zu bedienen.“
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- Quote paper
- Detlef Thiel (Author), 2019, Utilitarismus vs. Kant, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/471436
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