In dieser Arbeit werden mit Fokus auf den Nationalsozialismus in Deutschland Herstellungsprozesse untersucht, die an der Konstruktion des Stigmatisierungs- und Verfolgungskonstrukts Asozialität beteiligt waren. Anhand quellengestützten geschichtswissenschaftlichen Forschungsmaterials werden Diskurse und Praktiken der Hierarchisierung, Etikettierung, und Klassifizierungen von Personen als ›asozial‹ untersucht und dargestellt.
Mit Blick auf das während der Weimarer Republik sich etablierende eugenische Denken erfolgt zunächst ein Einbettung in den wissenschaftlichen und sozialpolitischen Kontext vor 1933. Darüber hinaus erfolgt eine kurze Darstellung der Mitwirkung sozialarbeiterischen Denkens und Handelns. Letztlich erfolgen Hinweise auf nach 1945 festgestellter Kontinuitäten, die mit diesem Ungleichheitsparadigma in Zusammenhang gebracht werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Grundlagen
1.1 Einleitung
1.2 Gegenstand der Arbeit
1.3 Persönliche Motivation
1.4 Einbettung in den Forschungsstand
1.5 Aufbau der Arbeit
1.6 Theoretische Sensibilisierung
1.7 Formalien
1.8 Begriffsklärung ›Asozial‹, ›Asozialität‹
2 Einbettung in den historischen Kontext
2.1 Erb- und Rassenlehre und Eugenik als sozialpolitische Bewegung
2.2 Sozialpolitische Lage
2.3 Für den Nationalsozialismus relevante Rechts- und Gesetzeslage vor
2.4 Diskussionen um ein Bewahrungsgesetz während der Weimarer Republik
2.5 Soziale Arbeit
2.6 Zwischenbilanz
3 Wirkung und Entwicklung des ›Asozialitäts‹-Diskurses im Nationalsozialismus
3.1 Zur Produktion und Stellung von Wissen(schaft) im Nationalsozialismus
3.2 Die Be- und Neudeutung rechtswissenschaftlicher Theorien
3.3 Allgemein wirksame Rechtsgrundlagen im Nationalsozialismus
3.4 Eugenik und das konstruierte Verständnis von Gesundheit
3.5 gesetzliche Grundlagen für Zwangsunterbringung und Haft
3.6 Kriminalbiologie als Bindeglied zwischen Eugenik und Justiz
3.7 Instrumente der Verfolgungspraxen
3.8 Klassifizierungen asozialisierter Personengruppen
3.9 (Mit)Wirkende Institutionen Sozialer Arbeit
4 Funktionen und Effekte der Diskurse
4.1 Soziale und materielle Folgen
4.2 Resümee
4.3 Kontinuitäten
5 Fazit
6 Epilog
7 Quellenverzeichnis
Abstract
In dieser Arbeit werden mit Fokus auf den Nationalsozialismus in Deutschland Herstellungsprozesse untersucht, die an der Konstruktion des Stigmatisierungs- und Verfolgungskonstrukts Asozialität beteiligt waren. Anhand quellengestützten geschichtswissen-schaftlichen Forschungsmaterials werden Diskurse und Praktiken der Hierarchisierung, Etikettierung, und Klassifizierungen von Personen als ›asozial‹ untersucht und dargestellt. Mit Blick auf das während der Weimarer Republik sich etablierende eugenische Denken erfolgt zunächst ein Einbettung in den wissenschaftlichen und sozialpolitischen Kontext vor 1933. Darüber hinaus erfolgt eine kurze Darstellung der Mitwirkung sozialarbeiterischen Denkens und Handelns. Letztlich erfolgen Hinweise auf nach 1945 festgesteller Kontinuitäten, die mit diesem Ungleichheitsparadigma in Zusammenhang gebracht werden.
„Das Schweigen als unveränderlich zu behaupten, Opfer von extremer Gewalt als reduziert auf das 'nackte Leben' zu bezeichnen, bestimmte Ereignisse als 'unbeschreibliche' zu deklarieren mag der wohlmeinenden Perspektive geschuldet sein, die Schwere der Traumatisierung der Opfer anzuerkennen. Aber die Position lenkt damit immer auch von der Frage ab, ob es nicht eventuell auch soziale, gesellschaftliche Faktoren sind, die das Schweigen befördern und das Erzählen behindern” (Emcke 2014 : 77).
„Vorurteilsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen überdauern Gesell-schaftssysteme und setzen sich jenseits aller historischen Brüche fort. Die Kontinuität der Ausgrenzung hat sich auch in beiden deutschen Nachkriegsstaaten in der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung ›asozialer‹ KZ-Häftlinge als NS-Verfolgte erwiesen” (Schikorra 2001 : 236)
1 Grundlagen
1.1 Einleitung
„Ich frag mich das einfach öfter mal woran das liegt, dass es hier in Deutschland so viele Asoziale gibt. Mit Asoziale, meine ich Hartz 4 Empfänger, die keine Lust auf Arbeit haben und sich total gehen lassen. Ich denke ihr wisst schon was ich meine. Denkt ihr das liegt an dem System in Deutschland? In so gut wie allen anderen Ländern, gibt es ja nur begrenzt Hilfe für Arbeitslose. Das heißt nur für eine kurze Zeit und dann muss man selbst schauen wie man klar kommt. Da ist es natürlich nicht so leicht sich durchzuschmarotzen. Also ich persönlich denke dass sehr viele Hartz 4 Empfänger einfach das System hier in Deutschland ausnutzen. Und dass es, wenn es so wäre wie in den meisten anderen Ländern, nicht so viele Asoziale geben würde. Und ja Leute die nicht arbeiten gehen, einfach weil sie zu faul dafür sind, sind meiner Meinung nach asozial! Wie denkt ihr darüber?”(Internetuser 2011) 1
Es sind Aussagen wie diejenigen im obigen Zitat, die mich zu einer näheren Beschäftigung mit dem Thema Asozialität veranlasst haben. So führen ein aufmerksames Zuhören sowie ein Blick durch die Medien zu der Feststellung, dass die stigmatisierende Bezeichnung asozial häufig inflationär verwendet wird. Aussagen wie „Das is' auch so 'n Asozialen-Bahnhof hier - n a, du weißt schon, jetzt vielleicht nicht, aber abends, nur Betrunkene, Drogis und sowas" 2, „Das sind ja auch so Asi-Kinder – na, du weißt schon, Asi-Kinder halt, aus so Asozialenfamilien”3, „Der kommt aus so 'ner Asi-Gegend”, „Die geht ja mit jedem ins Bett, is' ja voll asi” verweisen zum einen auf sehr unterschiedliche Ebenen und Zusammenhänge, in denen dieser Begriff verwendet wird (Gleichsetzung mit Unterstützungsleistungen=faul), geografische Orte, Einnahme von Substanzen, verschiedene Tageszeiten, Familienbild) – zum anderen auf ein Denken, das diejenigen, die als nicht so, wie es sein soll, 'wie es sich gehört', auf ein zumindest imaginiertes soziales Außerhalb positioniert werden. Der vorliegenden Arbeit liegt ein Verständnis von Sprache zugrunde, das davon ausgeht, dass der Bedeutungsgehalt eines Begriffs, hier eines Eigenschaftswortes, nie neutral, sondern immer Ausdruck dessen ist, was innerhalb einer Gesellschaft sagbar ist. Bereits in einer ersten thematischen Annäherung zeigte sich, dass ein Diskurs um Asozialität bereits über einen langen Zeitraum etabliert war, bevor er die Praktiken des Nationalsozialismus mitlegitmierte und deren Umsetzung auf den Weg brachte. Mit dem Blick auf die Gegenwart zeigte sich ebenso unmittelbar, dass ein nationalsozialistisch geprägter Sprachgebrauch zum Teil hartnäckig in öffentlichen Diskursen zum Zwecke der Stigmatisierung fortbesteht. Dies geht einher mit einer weitgehend gesellschaftlich geteilten Übereinkunft des Nichteingreifens in und vielleicht auch Nichtwahrnehmens derartige(r) Stigmatisierungsdiskurse. Dies ist als Hinweis darauf zu werten, dass bestimmte Menschen im gesellschaftlichen Gefüge regelmäßig und brutal unterdrückt, ausgegrenzt, stigmatisiert werden. Denn Sprache ist verbunden mit Macht und Macht besteht durch Sprache. Diese Arbeit wird eine Spurensuche nach denjenigen Mechanismen und obligatorischen Denkstrukturen sein, die an der Herstellung eines mehrheitlich-gesellschaftlichen Denkens beteiligt sind, das durch hierarchisierende Zuschreibungen bestimmte Menschen(gruppen) außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges positioniert. Da die Konstruktion von Asozialität im Nationalsozialismus eine besonders rigide Verschärfung erfuhr und Exklusions- und Vernichtungspraktiken auf die Spitze getrieben wurden, bietet sich eine Untersuchung dieses historischen Diskurses und seiner (Nach)Wirkungen an. Im Zuge der Debatten um die Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts zeigte sich besonders deutlich, dass die mit hierarchisierenden Klassifizierungen verknüpften Exklusionsprozesse, von denen als Asoziale Stigmatisierte betroffen waren, nicht spezifisch nationalsozialistisch geprägt waren. Diese Prozesse beginnen nicht erst 1933 und enden auch nicht 1945, auch die Nachkriegsgesellschaft in Deutschland betrachtete die Diskriminierungen von Asozialen nicht als Spezifikum nationalsozialistischer Ideologie und Politik und damit als vertretbar (vgl. Schikorra 2001 : 236-237). So wurden weder die durch einen schwarzen Winkel gekennzeichneten Konzentrationslager-Insass_innen noch die durch andere Maßnahmen als Asoziale verfolgten Personen als NS-Verfolgte anerkannt. Dies trifft auf viele nationalsozialistisch verfolgte Gruppierungen zu: In der Bundesrepublik wurden bis in die 1980er Jahre Personen, die im NS als Zwangsarbeiter_innen, Zigeuner, Asoziale, Homosexuelle, Deserteure und Kriegsdienstverweigerer sowie Kommunist_innen etikettiert und verfolgt waren sowie nach dem Erbgesundheitsgesetz Zwangssterilisierte nicht als NS-Verfolgte anerkannt (vgl. Schikorra 2001 : 236-237). Ähnlich verhielt sich dies in der DDR, wo ein 18-Punkte-Katalog Personen(gruppen) bestimmte, die durch ein Anerkennungsverfahren für Verfolgte des Naziregimes als NS-Verfolgte in der DDR anerkannt werden sollten (vgl. Schikorra 2001 : 238). Häufige wurde die Zuschreibung Zigeuner mit dem Konstrukt asozial in der Nachkriegsgesellschaft verknüpft. In einem Bericht der Marburger Betreuungsstelle für rassisch, religiös und politisch Verfolgte vom 12.09.1947 wird beispielsweise den als Zigeuner verfolgten Anspruchsteller_innen die Zuweisung von Wohnraum verweigert: "Wohnraum wird ihnen von den Wohnungsämtern nicht zugewiesen, da sie angeblich asozial [Kursivsetzung N.E.] angehaucht sind" (Ifz zit. in Schikorra 2001 : 238). Mit dieser Nichtanerkennung einher ging die systematische Verweigerung jeglicher Kompensationszahlungen. Zahlreiche Berichte weisen darauf hin, dass die Gruppe der Asozialen ähnlich wie die mit einem grünen Winkel gekennzeichnete Gruppe der Berufsverbrecher in der Debatte um „Wiedergutmachung“ ebenso wie in in der Konzentrationslager-Hierarchie ganz unten standen. Viele Vertreter_innen anderer Opfergruppen waren nicht bereit, Betroffene der Gruppe der Asozialen in die Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung einzubeziehen (vgl. Schikorra 2001 : 238 ff.; Evers 2005 : 181 ff.). Nach Schikorra gab es dementsprechend eine einzige Organisation dieser Verfolgtengruppe, die Gruppe der "Vergessenen" (vgl. Schikorra 2001 : 239). So überhaupt, erhielten als asozial Verfolgte erst ab den späten 1980er Jahren einen anerkennenden Status einer_eines NS-Verfolgte_n (vgl. Schikorra 2001 : 240).4 Darüber hinaus sahen sich Verfolgte häufig aufgrund der Kontinuitäten in der Nachkriegsgesellschaft denselben Personen in Ämtern, Behörden und sonstigen Institutionen gegenüber, die während der NS-Zeit maßgeblich an ihrer Verfolgung beteiligt waren (vgl. Schikorra 2001 : 240-241). So mutet es denn auch nicht weiter verwunderlich an, dass die Verfolgung sogenannter Asozialer im nationalsozialistischen Dritten Reich - so stellt es Detlef Peukert heraus - "in hohem Maße öffentlich" geschah. Sie blieb keineswegs der Mehrheit der Bevölkerung verborgen; sie war vielmehr durch Presse, öffentliche Reden und aktive Mitwirkung legitimiert und "von vielen Deutschen gebilligt und begrüßt" (Peukert 1982 : 233) worden5. Es ist auch Peukert, der durch seine Analysen die gesellschaftliche „Zustimmung zum Terror als Maßregel des Ausnahmezustandes zur Wiederherstellung der 'Ordnung'” hervorhebt sowie „dessen Billigung als Ausgrenzungsmaßnahme gegen jene, die der 'Volksgemeinschaft' fremd waren, bzw. als fremd definiert wurden“ pointiert (Peukert 1982 : 234). Peukert stellt die lange Tradition der Sanktionierungsmaßnahmen gegen als solches deklariertes abweichendes Verhalten heraus, die mit der Erziehungsgeschichte industrieller Klassengesellschaften verankert sei, dessen Durchsetzung gerade auch mit Gewalt, haftähnlichen Bedingungen und durch demütigenden und körperlich erschöpfenden Drill erfolgt sei (vgl. Peukert 1982 : 235). Demgemäß hält Peukert die breite Zustimmung zur „Dauerinternierung angeblicher Berufsverbrecher, sogenannter asozialer Zigeuner [Kursivsetzung N.E.] oder von 'rückfälligen' Homosexuellen im Konzentrationslager” (Peukert 1982 : 236) für zweifellos. Einen weiteren Aspekt der Debatte um Verantwortung benennt Benno Müller-Hills, wenn der herausstellt, dass es jedem, der wollte, möglich gewesen sei, sich der Täterschaft bei der Vernichtung von Menschen zu entziehen (vgl. Benno-Müller 1985 : 88). Dies gerade „weil andere Experten da waren, die sich zu den Posten drängten” (Benno-Müller 1985 : 88). Im Zuge der Debatten um die Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts zeigte sich besonders deutlich, dass die mit hierarchisierenden Klassifizierungen verknüpften Exklusionsprozesse, von denen als Asoziale Stigmatisierte betroffen waren, nicht spezifisch nationalsozialistisch geprägt waren. Diese Prozesse beginnen nicht erst 1933 und enden auch nicht 1945, auch die Nachkriegsgesellschaft in Deutschland betrachtete die Diskriminierungen von Asozialen nicht als Spezifikum nationalsozialistischer Ideologie und Politik und damit als vertretbar (vgl. Schikorra 2001 : 236-237). So wurden weder die durch einen schwarzen Winkel gekennzeichneten Konzentrationslager-Insass_innen noch die durch andere Maßnahmen als Asoziale verfolgten Personen als NS-Verfolgte anerkannt. Ähnlich verhielt sich dies in der DDR, wo ein 18-Punkte-Katalog Personen(gruppen) bestimmte, die durch ein Anerkennungsverfahren für Verfolgte des Naziregimes als NS-Verfolgte in der DDR anerkannt werden sollten (vgl. Schikorra 2001 : 238). Häufige wurde die Zuschreibung Zigeuner mit dem Konstrukt asozial in der Nachkriegsgesellschaft verknüpft. In einem Bericht der Marburger Betreuungsstelle für rassisch, religiös und politisch Verfolgte vom 12.09.1947 wird beispielsweise den als Zigeuner verfolgten Anspruchsteller_innen die Zuweisung von Wohnraum verweigert: "Wohnraum wird ihnen von den Wohnungsämtern nicht zugewiesen, da sie angeblich asozial [Kursivsetzung N.E.] angehaucht sind" (Ifz zit. in Schikorra 2001 : 238).
In meiner Arbeit gehe ich der Frage nach, welche gesellschaftlichen Übereinkünfte solcherart Zustimmung beförderten und somit ermöglichten? Zudem interessiert mich, ob sich auch in der Gegenwart ein Zusammenhang erkennen lässt zwischen der alltagssprachlich fest verankerten Stigmatisierung/Benennung zahlreicher Personen(gruppen) als › asozial‹ und den im historischen Blick auszumachenden Klassifizierungsprozessen um diese Stigmatisierungs kategorie im faschistischen Deutschland.
1.2 Gegenstand der Arbeit
In dieser Arbeit interessieren mich diejenigen Mechanismen, die einen gesellschaftlichen Konsens darüber erziel(t)en, der dazu beitrug, dass Menschen als asozial etikettiert, klassifiziert, kategorisiert und schließlich verfolgt, verletzt, gedemütigt und ermordet wurden. Von Interesse sind diejenigen sozialen und gesellschaftlichen Faktoren, die ein Schweigen von als asozial verfolgten Personen bis heute beförderten und das Erzählen behinderten. Da im Kontext des faschistischen NS-Regimes der Topos Asozialität sowie die folgenschweren Verfolgungs- und Vernichtungspraxen eine Zuspitzung erfuhren, bietet sich die Analyse derjenigen an der Herstellung beteiligten diskursiven Elemente in besonderer Weise an. Ich folge der These, dass eine Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Diskursen dazu geeignet ist, zu erfassen, welche Debatten über Asozialität an der Legitimierung von gewalttätigem Handeln gegenüber den Sigmatisierten beteiligt sind. Es interessiert mich, wie ein Handeln von Subjekten ermöglicht wird, die bereit dazu sind, bestimmte Subjekte als 'Andere' so zu kennzeichnen, dass sie diesen nicht nur jegliche Teilhabe verweigern, sondern darüber hinaus Bereitschaft zeigen, an den materiellen und immateriellen Folgen - im Nationalsozialismus soziale Exklusion, Verfolgung und Ermordung spezifisch etikettierterer Subjekte - zum Teil aktiv, zum anderen zumindest zustimmend oder billigend in Kauf nehmend zu verantworten. Vorweg nehme ich bereits an dieser Stelle, dass ich keinesfalls die Absicht hege, die Einzigartigkeit brachial durchgesetzter nationalsozialistischer Gewalt zu bestreiten, Ich gehe davon aus, dass „über die moralische Betroffenheit” hinaus „etwas aus der Geschichte des Nationalsozialismus zu lernen ist” (Jaschke 1991 : 23).
1.3 Persönliche Motivation
Für das Thema bin ich sensibilisiert worden durch das kritische, zweifelnde und manchmal vezweifelte Hinterfragen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen6, die durch rassistische, sexistische, klassistische, ableistische und_oder andere ungleichwertigkeitsideologische Theorien und Praxen strukturiert sind und mit extremen Wirkmächtigkeiten verbunden sind. Insbesondere befasste ich mich mit dem Wirken von Klassismus7. Auf diesem Weg schärfte sich meine Wahrnehmung eines alltäglichen Sprachgebrauchs, der häufig mit Ausdrücken einhergeht, die durch ihre Anwendung bestimmte Gruppen wiederholt ausgrenzen und unterdrücken. Die Teilnahme an einem Bau- und Begegnungscamp zum ehemaligen Jugendkonzentrationslager für Mädchen und junge Frauen und späterem Vernichtungslager Uckermark war außerdem nicht nur, aber insbesondere hinsichtlich des vorliegenden Themas von prägender Bedeutung. Hier erfuhr ich erstmals von der systematischen Etikettierung und Verfolgung asozialisierter Personen (trotz auch zuvor stattfindenden Auseinandersetzungen mit Nationalsozialismus, was wohl als bezeichnend bemerkt werden kann). Begegnungen und Gespräche mit Überlebenden des KZs Ravensbrück sensibilisierten mich, mit Hand, Herz und Verstand (Esther Bejarano) für ein be- und gedenkendes Erinnern einzutreten. Das heißt aber auch, einer gesellschaftlichen Atmosphäre entgegenzutreten, die ein Erzählen vermeintlich nicht zu erzählenden Widerfahrens unmöglich macht oder nur sehr eingeschränkt und erschwert zulässt. Diese Sensibilisierungen schärften erheblich meine Wahrnehmung eines klassistischen Sprachgebrauchs. Darunter fällt vor Allem auch das Labeln/Stigmatisieren bestimmter Gruppen und_oder Personen als › asozial‹. Diese Zusammenhänge stellen allerlei Motivation dar, sich demjenigen Forschungsstand zu widmen, der sich mit Konstruktionen von Asozialität beschäftigt. Zwar bezeichnet sich niemand als asozial, jedoch scheint es ein kollektives Wissen darüber zu geben, welche Personengruppen damit gemeint sein könn(t)en. Mich interessieren, welche Zusammenhänge dieses kollektive Wissen herstellen.
1.4 Einbettung in den Forschungsstand
Ich werde mich überwiegend auf quellengestütztes geschichtswissenschaftliches Forschungs-material zum Nationalsozialismus beziehen, das meist auch die Zeit der Weimarer Republik einbezieht. Diskurse und Praktiken bezüglich der Konstruktionen von Asozialität liegen zwar zeitlich noch viel weiter zurück; es sind Verbindungslinien bis ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgen (vgl. Hörath 2015 : 3). Ich beschränke mich – aufgrund des hier gegebenen eingeschränkten Rahmens - auf einen historischen Rückblick ab Anfang des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt durch die uneinheitliche Verfolgungspraxis bis 1937 zeigt sich eine recht unüberschaubere Fülle an regional unterschiedlichen Maßnahmen und Praktiken (vgl. Hörath 2014 : 4), welche zu überblicken im Rahmen dieser Arbeit ein kaum zu bändigendes Unterfangen ist. Aus diesem Grunde wird keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit gestellt. Des Weiteren haben sich mir erst im Verlauf der thematischen Auseinandersetzungen, anfänglich hauptsächlich ausgehend und zunächst geleitet von den Arbeiten Klaus Scherers, Wolfgang Ayaß und Christa Schikorras die Spannbreite, das Ausmaß und die vielen Dimensionen und Facetten eröffnet. Hier ist insbesondere zu nennen der Bereich der Euthanasie. In zahlreichen Analysen zu den systematischen Vernichtungsaktionen im Namen von Euthanasie deutet eine Vielzahl von Hinweisen auf die enge Verbindung des Diskurses von Krankheit mit demjenigen der Konstruktion von Asozialität. 8 Eine nähere Betrachtung im Anschluss an diese Arbeit wäre notwendig und mag weitere Dimensionen eröffnen. Auch kann eine umfassende Diskursanalyse im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden; dies ist auch nicht Anspruch. Dass die Komplexität dennoch - und gerade nicht - vernachlässigt werden soll, stellt eine besondere Herausforderung dar. Ich versuche dies zu lösen, durch ein permanentes Pendeln zwischen Aufgreifen und Loslassen unterschiedlichster Aspekte und des damit zusammenhängenden Scheiterns, nicht alles umfassend darstellen zu können. So werden beispielsweise nur wenige Teilgebiete näher beleuchtet. Zugunsten des Erfassens der Wirkmächtigkeit(en) pluraler komplexer Mechanismen wird eher die Makroebene in den Blick genommen. Ziel ist mithin mehr ein Ein- als ein Überblick über die Konstitution eines Diskurses der Konstruktionen von Asozialität sowie die Effekte dieses Diskurses. Daraus folgen zweierlei Konsequenzen: Zum einen wird auf die Darstellung umfangreichen Detailwissens verzichtet werden müssen. Zum anderen wäre eine umfangreiche Analyse unter Einbezug von Macht- und Herrschaftsanalysen bzw. Analysetechniken wie diejenigen von Foucault, Butler, Bourdieu, Gramsci und anderen sowohl mehr als angebracht als auch erkenntniserweiternd. Aufgrund der beschränkten Möglichkeiten und Kapazitäten im Rahmen dieser Bachelorarbeit kann dies von mir leider nicht geleistet werden.
1.5 Aufbau der Arbeit
Der Auffassung Wolfgang Ayaß' folgend, dass „[e]in Buch über den Nationalsozialismus [..] nicht mit dem Jahr 1933 beginnen [kann]” (Ayaß 1995 : 13), wird zunächst im zweiten Kapitel eine Einbettung in den historischen Kontext erfolgen. Die Kontextualisierung wird ein Hinweis auf die Etablierung eines wissenschaftlich und rechtlich-juristisch gestützten Diskurses sein, der zunehmend Menschen etikettiert, hierarchisiert und von Existenzrechten ausgenommen hat. Diese Zusammenhänge stelle ich dar, um gesellschaftlich hergestellte Vorstellungen, Theorien und Praxen aufzuzeigen, auf die sich die Verschärfungen und Ausdifferenzierungen durch die Nationalsozialist_innen stützten. Daraus folgt die Darstellung vorhandener Vorstellungen von Norm und Abweichung und damit verbundenen Ein- und Ausschlusspraxen, auf die jeweils zurückgegriffen werden konnte. Daran anschließend erfolgt im dritten Kapitel ein Einblick in diejenigen Produktionsprozesse von Wissen im Nationalsozialismus, die bezüglich der zunehmenden Akzeptanz und (Mit)Wirkung der Konstruktionen von Asozialität im Nationalsozialismus beteiligt sind. Da insbesondere – so auch im Denken Gramscis verankert – „[d]as Recht die Funktion [übernimmt], Menschen zu sanktionieren, die die gesellschaftlichen Konventionen überschreiten“ (Bernhard : 2006 : 11), folgt ein etwas vertiefender Einblick in die juristisch geschaffenen Gesetzeskonstrukte, mittels derer als asozial etikettierte Personenkreise zunehmend exkludiert wurden. Anhand von Gesetzestexten wird aufgezeigt, durch welche Regelungen und Formulierungen die zunehmende Exklusion als asozial etikettierte Personenkreise legitimiert wurden. Im Weiteren werden unterschiedliche klassifizierte Gruppen aufgeführt, die im bisherigen Forschungsstand bislang eruiert wurden9. Ein kurzer, aber prägnanter Einblick in das Feld der Sozialen Arbeit wird die Wirkung beteiligter Institutionen und Akteur_innen aus Wohlfahrtsorganisationen und Fürsorgebehörden aufzeigen. Im vierten Kapitel werden anschließend zunächst materielle und imaterielle Folgen der Zuweisung des Etiketts asozial dargelegt und erörtert. In einem zweiten Teil werden einige Tradierungen gesellschaftlicher An- und Aberkennungspraxen, die mit dem Konstrukt Asozialität in Zusammenhang gebracht werden können umrissen, die über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus bis in die Gegenwart feststellbar sind.
1.6 Theoretische Sensibilisierung
Die Arbeit folgt der Prämisse konstruktivistischer Theorien, wonach soziale Verhältnisse nicht essentialistisch sind, sondern soziale Wirklichkeiten hergestellt werden.10 Da der Ausschluss bestimmter Gruppen aus einem Gesellschaftsgefüge ein Paradoxon darstellt (jede_r ist Gesellschaft und Gesellschaft sind alle) richtet sich das Augenmerk auf diejenigen Theorien, Konzepte, Praxen u. ä., die an der Etablierung eines gesellschaftlichen Konsens beteiligt sind, der eine Norm vorgibt, nach der bestimmte Menschen zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kontexten außerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges positioniert werden, ihnen folglich jegliche Teilhabe verweigert wird, deren Stimmen nicht (an)gehört werden oder kein gesellschaftsprägendes Gewicht haben, ja, denen letztendlich jeglicher Subjektstatus entzogen wird. Hieran anknüpfend wird davon ausgegangen, dass soziale Wirklichkeiten und Subjekte diskursiv hergestellt werden. Ich folge hier einem Diskursbegriff, der Diskurse „als gesellschaftliche Produktionsmittel” (Jäger 2012 : 35) auffasst, die Subjekte und – wiederum über Subjekte vermittelte - Gesellschaft produzieren. Gemeint ist also ein Diskursbegriff, der, an Foucault angelehnt und mit Link zitiert,
„die formierende, konstituierende [Hervorh. im Original] Kraft der Diskurse unterstreicht und den Diskurs (mit Foucault) als ›materielles Produktionsinstrument‹ begreift ... , mit dem auf geregelte Weise (soziale) Gegenstände (wie z. B ›Wahnsinn‹, ›Sex‹, ›Normalität› usw.) wie auch die ihnen entsprechenden Subjektivitäten produziert werden” (Link zit. in Jäger 2012 : 36).
Zusammengefasst bedeutet dies:
1. Das Werkzeug, mit dem soziale Wirklichkeit produziert wird, sind Diskurse.
2. In Diskurse verwickelte Subjekte werden selbst durch diskursive Praxen hergestellt.
3. Über diskursive Praxen hergestellte Subjekte (be)gründen ihrerseits 'Gesellschaft und damit in unterschiedlicher Gewichtung diskursive Momente
4. Damit sind die Teilnehmer_innen eines Diskurses wiederum aktiv an der Herstellung von Subjektivierungen beteiligt.
Damit wird zwar der Diskurs „[letztlich] von der Gesamtheit aller Subjekte gemacht“, diese sind allerdings höchst ungleich-und zwar sowohl quantitativ als qualitativ aufgrund unterschiedlicher Machtpositionen an „diskursiven Strängen und unterschiedlicher Nutzung der Spielräume”(Jäger 2012 : 37) beteiligt. Heißt: Alle sind in Diskurse verstrickt, wessen Stimme aber wie und ob überhaupt als Diskursbeteiligung gewertet wird, ist höchst unterschiedlich. Auf diese Weise hat die Frage, wie, ob und von wem in Diskurse interveniert wird, massiven Einfluss auf die Folgen. Es geht also keinesfalls darum, soziale Wirkmächtigkeiten konstruierter Wirklichkeiten zu bestreiten. Sondern vielmehr darum, diese zu kontextualisieren, zu denaturalisieren und nicht zuletzt gerade dadurch zu deuniversalisieren und dadurch hinterfragbar zu machen. Ziel ist also, Diskursinhalte kritisch auf ihren Entstehenszusammenhang hin zu hinterfragen. Von zentraler Bedeutung sind dabei mit Foucault die Beziehungen zwischen Wissen und Macht, die für diesen - jedenfalls in späteren Schriften - „eine innige Verflechtung eingehen“ (Jäger 2012 : 38).
1.7 Formalien
Nationalsozialistisch geprägte Begriffe werde ich in kursiv darstellen. Dies gilt ebenso für bereits vor dem Nationalsozialismus ent- und bestehendes Vokabular, das einem Paradigma der rassistischen Be- und Abwertung von Menschen(gruppen) entspringt. Da dies mitunter nicht trennscharf ist, kann dies mitunter irritierend wirken. Durch diese Form der typografischen Kennzeichnung möchte ich mich einerseits ausdrücklich vom nationalsozialistisch geprägten Vokabular distanzieren. Andererseits kann diese Form möglicherweise einen Impuls für aufmerksam Lesende setzen, einige heute alltäglich angewandte entsprechende Termina auf deren (Be-)Wertungskriterien bzw. auf die Vorstellungen, die mit dem Verwenden entsprechender Begrifflichkeiten verbunden sind, hin zu hinterfragen. Die übliche und in Forschungsliteratur häufig verwendeten Anführungsstriche empfinde ich als unzureichend, da diese üblicherweise nicht nur auf den pejorativen Gehalt eines Begriffs verweisen, sondern einem Begriff einen bestimmten Bezugsrahmen geben (z. B. zum Zwecke des Zitierens oder der Rückgriff auf ein bestimmtes Konzept etc.). Diese Art doppelter Anzeichen bleiben im Folgenden diese Art Bezugsrahmen vorbehalten sowie dem Zitieren gegenwärtiger Forschungsliteratur. Einfache Anführungsstriche verweisen auf einen Wort als Begriff. Ein weiteres Dilemma, das nicht gänzlich zu lösen ist, ist die stets vorhandene Gefahr der Reproduktion. Ich erachte es dennoch für unumgänglich, entsprechende Begriffsterminologie zunächst zu benennen (um auch gerade auf deren Brutalität hinzuweisen) und verzichte bewusst nicht gänzlich auf deren Verwendung. Namen historischer Wissenschaftler_innen setze ich ebenfalls in Kursivschrift, um diese abzugrenzen von den Namen der Wissenschaftler_innen, auf deren Forschung ich mich im Verlauf dieser Arbeit beziehen werde. Ebenfalls kursiv erscheinen Begriffe, die auf nationalsozialistisch geprägte Interpretationen rekurieren, auch wenn diese in heutigen Diskursen eine anderweitige Bedeutung haben können (Bsp.: Deutsche wenn damit die nationalsozialistisch geprägte Entkoppelung von Staatsangehörigkeit gemeint ist im Sinne von Deutsche = weiß, Arier) oder deren Ursprünge bereits lange vor der faschistischen Ära des Nationalsozialismus zu suchen sind. Historische Zitate setze ich in französische Anführungsstriche (» «). Ich habe mich dazu entschieden, zeittypische Begrifflichkeiten überwiegend nicht durch zeitgemäße zu ersetzen - jedenfalls dann, wenn historische Begebenheiten beschrieben werden - da mit den Begrifflichkeiten sich häufig auch die zugrunde liegenden Konzepte verändern. Der beispielsweise im 19. Jahrhundert geprägte Begriff 'Wanderer' steht für „die Vorstellung von Arbeitssuche durch Migration“ (Ewald zit. in Sondermann-Becker 1995 : 10) und ist nicht eins zu eins durch den zeitgemäßen Begriff 'Alleinstehender Wohnungsloser' zu ersetzen (vgl. Sondermann-Becker 1995 : 10-11). Der damit verbundenen Gefahr der Übernahme von Inhalten und Wertungen (Beispielsweise dem Verhaften eines Denkens in nationalsozialistisch geprägten Kategorien) steht entgegen die Bedeutungsverzerrung, da nicht immer klar ist, wer eigentlich mit welchem Begriff gemeint war. Nationalsozialistisch geprägte Klassifizierungsbenennungen betreffend (Polen, Asoziale, Minderwertige, Juden, Zigeuner, Prostituierte etc.) werden in ihrer nationalsozialistischen Prägung verwendet – in ihrer Lesart möchte ich darauf hinweisen, dass es sich um abstrakt hergestellte Kategorien und eben nicht um Subjektivierungsbenennungen handelt.
In Annäherung an einen verschiedenste Geschlechter anerkennenden Sprachgebrauch wende ich die Schreibweise der Unterstrichvariante (gender-gap) an. Dieser Entscheidung liegt nicht nur die Intention zugrunde, der in der Regel Nichtbenennung und damit Nicht-Repräsentation einer Vielzahl von Personen, die sich selbst nicht mit dem vorherrschenden Zweigeschlechtersystem identifizieren, ausdrücklich entgegenwirken zu wollen, sondern zugleich mit dieser Schreibweise das Konstrukt des vorherrschenden binären Zweigeschlechtersystems selbst ausdrücklich infrage zu stellen.11 Daher erfolgt diese Schreibweise auch dann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass eine gemeinte Personengruppe sich ausdrücklich als gegenseitig ausschließend 'männlich' oder 'weiblich' identifiziert (Bsp.: Nationalsozialist_innen). Die Wirkmächtigkeit der entsprechenden Zuordnungen im Zweigeschlechtersystem soll hiermit selbstverständlich weder in Abrede gestellt werden noch abgeschwächt werden. Allerdings folge ich hier geschlechterdekonstruierenden und -denaturalistischen Ansätzen, die nicht nur 'gender', sondern auch 'sex' (bei Butler auch 'desire', also 'Begehren') als sozial hergestellte Kategorien betrachten, die, wie Judith Butler es hervorhebt, im Interesse gesellschaftlicher und politischer Kräfte stehen.12 Im Kontext der Thematisierung von Nationalsozialismus stellt die Entscheidung zu einer solchen Schreibweise darüber hinaus den Versuch dar, eine Sichtbarkeit der Beteiligung von Frauen am faschistischen System des Natioinalsozialismus zu schaffen. Damit soll der häufig verbreiteten Auffassung, Frauen seien aufgrund der Geschlechtervorstellungen ohnehin kaum Täterinnen, allenfalls Mittäterinnen, gewesen, entgegnet werden. Dies falsifizierend sei verwiesen auf das (Mit)Wirken von Frauen in nahezu allen Bereichen. So hielten Wissenschaftlerinnen wie Karin Magnussen Vorträge zu Rassen- und Bevölkerungspolitik, publizierten wie diese Schriften mit dem Titel Rassen- und bevölkerungspolitisches Rüstzeug, waren als Ärztinnen beteiligt an medizinischen Experimenten wie Herta Oberheuser oder verbreiteten eugenisches Gedankengut in Fürsorge und Wohlfahrt wie Helene Wessel, Hanna Dunkel und viele andere.13
1.8 Begriffsklärung ›Asozial‹, ›Asozialität‹
Die Begriffsbestimmung des Adjektivs ' asozial' ist nicht abschließend geklärt. Der Begriff setzt sich zusammen aus dem Bestandteil a (= un, nicht) und sozial und kann daher interpretiert werden als 'unsozial', 'nicht sozial' . Mit dieser Beschreibung wäre die Definition des Begriffs asozial also immer antogonistisch zu 'sozial' . Da das, was unter 'sozial' verstanden wird, einer zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegten gesellschaftlichen Konvention unterworfen ist, ist die Definition von asozial demnach interdependent von gesellschaftlichen Übereinkünften. Die näheren Bedeutungserklärungen nach Duden 201414 suggerieren hingegen eine erstens individuelle und zweitens aktive Einflussnahme eines Individuums, das mit diesem Eigenschaftswort beschrieben wird. Demnach wäre eine als asozial bezeichnete Person ein Mensch, der aktiv und selbständig entschiede, asozial zu sein, da er „sich nicht in die Gemeinschaft“ einfügte15. Eine ergänzende Bedeutungserklärung lautet an dieser Stelle „(meist abwertend) die Gemeinschaft, Gesellschaft schädigend“. Auch diese Deutung suggeriert nicht nur ein einfaches Nicht-Dazugehören oder ein eventuell passives Ausgestoßen-Werden, sondern setzt eine reflektiert getroffene Entscheidung voraus, den 'Rest' - also die Gemeinschaft - schädigen zu wollen. Mit dieser im Übrigen zutiefst wertenden Auslegung korrespondieren dann auch die im Duden aufgeführten Synonyme16, die allesamt auf einer Persönlichkeit inhärenten negative Eigenschaften hinweisen und zum Teil bereits einer wissenschaftlichen Disziplin zugeteilt werden. So werden hier beispielsweise benannt: 'dissozial', 'randständig', 'böse', 'kriminell', 'verbrecherisch', 'primitiv' etc.. Als Beispiel wird dann auch ein asozialer Charakter übersetzt mit die Gemeinschaft, Gesellschaft schädigend. 17 Erstaunlich übereinstimmend ist diese Definition mit derjenigen der NS-Asozialenforscher Koller 18 und Kranz, die das Erkennen von Asozialität an der Gesamtpersönlichkeit festmachen. Demnach
»[sind] Gemeinschaftsunfähige 19 [...], wer nach seiner Gesamt-persönlichkeit nicht in der Lage ist, den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft an sein persönliches, soziales und völkisches Verhalten zu genügen« (Koller/Kranz zit. in Aly 2000 : 124)
Dieser nationalsozialistisch geprägten Definition liegt folglich die Imagination einer Volksgemeinschaft zugrunde, die als vorgestellte Idealeinheit die Norm vorgibt. Auch in dieser Definition wird asozial sein als Eigenschaft festgehalten, die einer Persönlichkeit eines Individuums entspringe, das in diesem Denken nicht in der Lage sei, »den Mindestanforderungen« zu genügen. Zeitgenössische Definitionen wie die von Christa Schikorra betonen hingegen die aktive Zuordnung dieses Adjektivs durch die Bewertung einer jeweiligen Mehrheitsgesellschaft:
"Mit dem Begriff 'asozial' wurden und werden Menschen bezeichnet, die nicht 'dazu' gehören. Die Mehrheit der Gesellschaft bewertet ihr Verhalten und ihre Lebensweise als anstößig und verwerflich. Diese Bewertung stützt sich auf Vorurteile und Verallgemeinerungen, die nach oft willkürlichen Gesichtspunkten als Norm definiert werden" (Schikorra 2001 : 8).
Diese Begriffserläuterung enthält darüber hinaus sowohl eine Präsens- als auch eine Präteritumsvariante, die einen Hinweis geben auf sowohl historische als auch gegenwärtige Phänomene. Schikorra fokussiert folglich die Beteiligung einer Mehrheitsgesellschaft, die infolge abriträrer Normenübereinkünfte Exklusions- und Inklusionsentscheidungen treffe, in deren Folge 'Nichtdazugehörige' in Abgrenzung zu 'Dazugehörigen' negativ bewertet werden. Indem Schikorra die Stützung dieser Bewertungen auf "Vorurteile und Verallgemeinerungen" (Schikorra 2001 : 9) betont, negiert diese Definition von vornherein eine Interpretation, es handele sich tatsächlich um verwerfliches Verhalten, in dessen Folge dieses eine solche Exklusion verdiene (vgl. Schikorra 2001 : 9 ff.)20 Diese Deutung stärk Wolfgang Ayaß, der darauf hinweist, dass Asozialität „immer eine negative Außenzuschreibung [ist]. Niemand bezeichnet sich selbst als 'asozial'“ (Ayaß 1995 : 12) Damit verneint Ayaß - und das ist eine wichtige Abgrenzung zu einigen anderen sozialen Konstruktionen wie beispielsweise Geschlecht - jegliche Selbstbezeichnung mit diesem Begriff (vgl. Ayaß 1995 : 12). Die von Schikorra und Ayaß betonten Außenzuschreibungen entsprichen dem dieser Arbeit zugrunde liegendem Verständnis. Die Definition und Begriffserklärung könnte indes ein erster Hinweis auf bestehende Kontinuitätslinien sein.
2 Einbettung in den historischen Kontext
Im Folgenden werden einige in der historischen Forschung zur Konstruktion und Verfolgung von Asozialität als relevant befundene sozialpolitisch und gesellschaftlich in Deutschland etablierte Diskursfelder vor und während der Weimarer Republik dargestellt, auf die nationalsozialistische Ideologien rekurierten. Ayaß benennt diesbezüglich zum einen das Diskursfeld der Rassenhygiene 21 sowie zum anderen das der Entwicklung eines Bewahrungsgesetzes während der Weimarer Republik und verweist auf einschlägige Debatten sowie die bereits 1924 in deutscher Übersetzung erschienene Studie von Henry Herbert, die Ayaß als „Paradebeispiel für die angebliche Abstammung ganzer Generationen von Säufern, Prostituierten und Verbrechern von einem einzigen minderwertigen Stammelternpaar [Kursivsetzung N.E.]“ (Ayaß 1995 : 13) bezeichnet. Damit einhergehend entstanden auch einschlägige Gesetzesentwürfe einzelner Länder wie beispielsweise das Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, das berreits seit dem 16.07.1926 die gesetzlich legitimierte Überwachung und ggf. Einweisung Nichtseßhafter in sogenannte Arbeitshäuser zum Zwecke der Zwangsarbeit vorsah in (vgl. Scherer 1990 : 29). Auch Christa Schikorra arbeitet heraus, dass parallel zu der komplexen Ausdifferenzierung eines Systems sozialer Sicherung während des letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Wissenschaftlicher_innen rassentheoretisch begründete Überlegungen vertraten und publizierten, die eine dualistische Zuordnung von Minder- und Höherwertigkeit an Menschen propagierten.
Schikorra pointiert ausdrücklich, dass es sich dabei keinesfalls um pseudowissenschaftliche Experimente handelte, sondern um den „wissenschaftstheoretischen Entwurf eine[r] Hierarchisierung und Dominanz von Menschengruppen auf Grundlage rassischer [Kursivsetzung N.E.] Merkmale“ (Schikorra 2001 : 9). Biopolitische Vorstellungen beruhten nach Schikorra außerdem auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Als Motiv für dieses Denken, das Basis sowohl sozialpolitischer Praxis als auch des wissenschaftlichen Diskurses war, benennt Schikorra die „Orientierung an den Erfordernissen einer leistungsorientierten Gesellschaft“ (Schikorra 2001 : 9). Ähnlich argumentiert auch Volker Roelcke, der in einem Aufsatz den Gehalt eines Verständnisses von Eugenik und Rassenhygiene betont als „eine[r] soziale[n] Bewegung vor allem aus professionellen Experten und Politikern zur wissenschaftlichen Beschreibung, Erklärung und auch Lösung einer zeitgenössisch empfundenen Problemlage“ (Roelcke 2010 : 47) Nicht zuletzt hält auch Julia Hörath dazu an, denknotwendigerweise „die Gesamtentwicklung der sozialen Exklusion während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ (Hörath 2012 : 515) als Prämissen in den Blick zu nehmen, die für ein Verständnis des Nachvollziehens22 der „Entgrenzung des Terrors gegen gesellschaftliche Außenseiter und 'Kriminelle' im Nationalsozialismus“ (Hörath 2012 : 515) unabdingbar sind. Entsprechend dieser Ausführungen werden im Folgenden die erwähnten relevanten Diskurs-felder, soweit im Rahmen dieser Arbeit möglich, exemplarisch dargestellt, die sich durch eine besondere Anschlussfähigkeit auszeichneten für die nationalsozialistisch verschärften Ausgrenzungs- und Verfolgungs und Vernichtungspraktiken. Zunächst werden die zentralen Kernpunkte der Erb- und Rassenlehre erarbeitet, sodann wird die sozialpolitische Lage unmittelbar vor Machtergreifung kurz umrissen und letztlich werde ich exemplarisch einige Gesetzestexte vorstellen, vor allem solche, auf die im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgung als solche konstruierter Asozialer Bezug genommen wurde bzw. die Konstruktionslogiken hierdurch überhaupt erst legitimiert wurden. Für ein Verständnis des Zusammenhangs der sozialpolitischen Lage und der Entwicklung von Gesetzestexten werden darüber hinaus prägnante Diskussionspunkte der Debatten um die Entwicklung eines Bewahrungsgesetzes zusammengefasst.
2.1 Erb- und Rassenlehre und Eugenik als sozialpolitische Bewegung
„Im Hintergrund eugenischer und rassenhygienischer Programme steht stets die Vision vom besseren Menschen. Diese impliziert grundsätzlich zum einen die Vorstellung, es gebe hochwertige und minderwertige Menschen, zum anderen die Überzeugung, jene Werthaltigkeit sei vererbbar. Verringere man die Zahl der ›Minderwertigen‹ durch Ausschluss von der Reproduktion, erhalte man eine bessere ›Qualität‹ der Gesamtbevölkerung“ (Tomkowiak 2005 : 33)
Sowohl rassen- als auch erbbiologisch begründete Theorien sind keinesfalls ein explizites Phänomen des Dritten Reiches. Dies verdeutlichen zahlreiche Untersuchungen (vgl. Scherer 1990 : 17-36). Scherer benennt die Jahrhundertwende als Zeitpunkt, zu dem Vorstellungen von der Eindämmung Minderwertiger mit der Begründung der Vererbbarkeit von Eigenschaften allgemein üblich geworden seien (vgl. Scherer 1995 : 17-18). Exemplarisch verweist dieser auf die Gründung der Gesellschaft für Rassenhygiene 1905, deren Gründer bereits Eheverbote "aus rassischen Gründen" sowie die Tötung für "schwächliche Kinder" propagiert und die Selektionsforderungen, die 1920 von Karl Binding und Alfred Hoche in der Publikation Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens gestellt werden. Untrennbar sind diese und ähnliche Theoriekonstrukte verbunden mit den verflochtenen wissenschaftlichen und politischen Diskursen, die sich mit rassistischen Apartheitsbestrebungen um eine Legitimierung von Kolonialisierungen bemühten.23 So sind diese auch kein spezifisch deutsches Phänomen; unter Bezugnahme auf die Anwendung von Zwangssterilisationen führt Scherer eine Vielzahl anderer Länder auf: In New York findet 1932 bereits der dritte internationale eugenische Kongress statt - in diesem Kongress wird, das hält Scherer fest, über » eine[r] bestimmte[n] Rasse chronisch Armer« (Kankeleit zit. in Scherer 1995 : 18) referiert - gemeint sind Arbeitslose und » soziale Versager« (Bock zit. in Scherer 1995 : 18). Die zunehmende Etablierung und Anerkennung dieser und ähnlicher rassisch und erbbiologisch begründeter Argumentationsmuster mündet schließlich 1927 in der Einrichtung des Kaiser-Wilhelm-Institus für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und die alsbald folgende Einrichtung von Lehrstühlen, innerhalb derer Rassenhygiene als anerkanntes Prüfungsfach etabliert wird (vgl. Scherer 1995 : 18). Scherer erachtet die Anfänge der rassenhygienischen Theorien bereits in der von Charles Darwin in 1859 publizierten Evolutionstheorie, die dieser später durch die ebenfalls von ihm entwickelte Selektionstheorie ergänzt. Diese wissenschaftlich proklamierten Paradigmen erklären die Entwicklung aller Tier- und Pflanzenformen durch die Lenkung einer natürlichen Selektion, infolge derer nur übrig bleibe, wer sich am besten auf die Umwelt einstellen könne (vgl. Scherer 1995 : 17). Scherer falsifiziert die in der Literatur häufig vertretene These, wonach Charles Darwin selbst die Theorien lediglich für die Tier- und Pflanzenwelt entworfen habe und erst später sich Wissenschaftler_innen diese Theorie angeeignet hätten (Sozialdarwinismus) (vgl. Scherer 1995 : 17).
Diese Auffassung vertritt auch Manfred Kappeler, der auf die Schrift › Die natürliche Zuchtwahl in ihrer Einwirkung auf zivilisierte Völker‹ verweist, in deren Ausführungen Darwin sich überwiegend auf von eugenischem Denken durchsetzte Forschungsergebnisse von drei Zeitgenossen berufe (vgl. Kappeler 2000 : 84). Einer dieser Zeitgenossen, Francis Galton, begründete 1883 die Eugenik, was so viel heißt wie die angewandte Wissenschaft von der Verbesserung der menschlichen Erbanlagen und zugleich (sozial)politische Bewegung, in deren Verständnis Kultur und Zivilisation die natürliche Selektion verhindere, welche wiederum eine Degeneration 24 des menschlichen Erbgutes bewirke. Dass bereits Darwin selbst diesem Denken zuzuordnen ist, lässt folgendes Zitat erkennen:
"Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eleminiert: Die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftiger Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke, wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange als möglich zu erhalten (…). Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen (..); ausgenommen im Falle des Menschen selbst wid auch niemand so töricht sein, seinen schlechtestens Tieren die Fortpflanzung zu gestatten" (Darwin zit. in Scherer 1990 : 17)
Eine solche Auffassung illustriert die von Scherer pointierte Zusammenfassung, bereits Darwin selbst schlüge „den fatalen Bogen zur biologisch begründeten Menschenauslese” (Scherer 1995 : 17). Außerdem dürfte mit diesem Zitat feststehen, dass von Anfang an neben Rasse auch Klasse im Visier der Verfechter_innen eugenischen Denkens stand. Scherer bezieht sich im Weiteren auf den Zoologen Ernst Haeckel, den er als denjenigen benennt, der den endgültigen Übertrag von Theorien, die in der Tier- und Pflanzenwelt Erbregeln beschreiben, auf Menschen vollzogen habe (vgl. Scherer 1995 : 17). Die aus diesem Übertrag formulierten Schlussfolgerungen, die für den weiteren Verlauf der Rasseneugenik von immenser Bedeutung waren, beinhalten Vorstellungen der Vererbbarkeit menschlicher Eigenschaften. Armut wird in dieser Vorstellung einem natürlichen Selektionsmechanismus zugeordnet (vgl. Scherer 1995 : 17). Auch Ingrid Tomkowiak fixiert Eugenik und Rassenhygiene als „Wegbereiter der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter“ (Tomkowiak 2005 : 33). Regulationsmaßnahmen, die Eingriffe in Reproduktionsverhalten darstellen, lokalisiert Tomkowiak bereits seit der Antike. Sozialutopien in der neueren Geschichte, die mit Maßnahmen und Techniken wie Geburtenkontrolle, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch oder Kindsmord einhergingen, bezwecken demnach neben der Quantität (Kontrolle der Anzahl von Nachkommen) auch die gesteuerte Regulierung deren „Qualität“ (vgl. Tomkowiak 2005 : 35 f.). Tomkowiak legt dar, dass Degeneration 25 als durch Vererbung erworbene, medizinisch nicht therapierbare Krankheit galt, die nicht nur durch Vererbung weitergegeben werde, sondern darüber hinaus die von dieser 'Krankheit' Betroffene als minderwertig eingestuft wurden (vgl. Tomkowiak 2005 : 33). Mit der sehr eindeutigen Formulierung «What Nature does blindly, slowly and ruthlessly, man may do providently, quickly, and kindly. As it lies within his power, so it becomes his duty to work in that direction» (Galton zit. in Tomkowiak 2005 : 36) forderte Francis Galton als Konsequenzen aus dieser wissenschaftstheoretisch entwickelten Theorie bevölkerungspolitische Maßnahmen: Mit negativer Eugenik sollten die Träger schlechter Gene an der Fortpflanzung gehindert werden, während positive Eugenik die Fortpflanzung derjenigen beschleunigen sollte, die als Träger guter Gene ausgemacht wurden (vgl. Tomkowiak 2005 : 36). Dieses Ungleichheitsparadigma forderte mithin praktische Konsequenzen, welche Vertreter_innen dieser Logik darin sahen, eine Fürsorge für Minderwertige aufzugeben, um diese der von ihnen propagierten Selektion zu überlassen (vgl. Tomkowiak 2005 : 36). Für eine derartige Praxis der menschlichen Auslese war indes von Nöten, die Parameter Norm und Abweichung zu konkretisieren, um anhand der Festlegung von Normalität und Abnormalität Unterscheidungsmerkmale zu eruieren, aufgrund derer Kategorisierungen vorgenommen werden konnten, die gleichzeitig rigiden Bewertungskriterien unterlagen (vgl. Tomkowiak 2005 : 36). Diese Kategorisierung sollte dann die Unterscheidung ermöglichen zwischen guten und schlechten Erbträgern. Als zentrale Kriterien, die der Kategorie Minderwertigkeit zugeordnet wurden, lokalisierten die Anhänger_innen dieser Ideologie s psychische Leiden oziale Abweichung, sexuelle Andersartigkeit, unheilbare Krankheiten sowie (vgl. Rainer 1995 : 105). Nach dem Ersten Weltkrieg ist eine Zunahme von Veranstaltungen zu rassenhygienischen und eugenischen Theorien festzustellen, in deren Konsequenzen vermehrt praktische Schlussfolgerungen propagiert wurden. Menschliche Selektion und Ausmerze aller Volksschädlinge wurde vermehrt gefordert, worunter Maßnahmen verstanden wurden wie Tötung, Zwangssterilisierung und/oder Zwangsunterbringung. Foucault zitierend vermerkt Tombiak die Beschleunigung der „eugenische[n] Reglementierung der Gesellschaft” durch die akademische Anerkennung dieses Paradigmas (vgl. Tomkowiak : 41). In größeren Städten wurden rassenhygienisch ausgerichtete Eheberatungsstellen eingerichtet. Ab August 1920 verteilten Standesämter an Heiratsentschlossene das › Merkblatt über die Bedeutung gesunden Nachwuchses für das Vaterland‹. Die Funktion dieser und ähnlicher Maßnahmen zielte aus Sicht des Zentralinstituts für Volksgesundheitspflege ab auf die „Eindämmung der ›schrankenlosen Vermehrung der Minderwertigen‹“ (Tombiak 2005 : 41). Mit der Publikation des Juristen Karl Binding sowie des Psychiaters Alfred Hoche in 1920, die in ihrer Schrift › Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form› dem Titel entsprechend die gezielte Tötung von als solchen definierten unwerten Lebens forderten, setzten sich zunehmend Jurist_innen, Philosoph_innen und Mediziner_innen für genau diese Konsequenz ein. Als Kriterien für eine als solche bezeichnete Minderwertigkeit wurden vor allem Verwertungslogiken herangezogen - wer in diesem Denken nichts für die Gemeinschaft leistete oder leisten konnte - dies wurde im Allgemeinen nicht unterschieden - wurde als » für die Allgemeinheit minderwertig« eingestuft, die »›demokratische‹ Lehre von der Gleichwertigkeit aller Menschen« als verhängnisvoll bezeichnet und letztendlich gefordert: « Es wird wieder gestorben werden müssen» (Simon zit. in Tomkowiak 2005 : 42).
Aus und mit diesem Denken entwickelten sich im 19. Jahrhundert verschiedene Forschungsgebiete mit dem Zweck, der anwendungsbezogenen Problematik von Klassifizierungen entgegenzuwirken (vgl. Hörath 2014 : 3). Unter anderem entstand das Forschungsfeld der Kriminologie, mittels dessen versucht wurde, anhand physischer und charakterlicher Merkmale Verbrechertypologien zu entwickeln. Die Erstellung derartiger Verbrechertypologien verfolgte das Ziel, anhand der Kategorisierung erb- und rassenbiologischer Merkmale den geborenen Verbrecher festmachen zu können, welcher „nach damaliger Auffassung das Resultat › rassischer Minderwertigkeit‹' aufgrund von ›erbbiologischer Degeneration‹“ (Hörath 2014 : 3) war. Hörath wertet das Scheitern einer solchen Katalogisierung als eine Erklärung für den Rückgriff der Praxis auf das Bestimmungsmerkmal arbeitsscheu, das zur Erklärung einer erb- und rassenbiologischen Minderwertigkeit herangezogen wurde (vgl. Hörath 2014 : 3).
2.2 Sozialpolitische Lage
Infolge der Weltwirtschaftskrise war die Arbeitslosigkeit unmittelbar vor Machtantritt der Nationalsozialisten extrem hoch. Ayaß, der selbst der Unterscheidung verhaftet bleibt, nach arbeits suchenden und arbeits scheuen Hilfeempfänger_innen zu differenzieren, stellt heraus, dass noch im Herbst 1932 die Wohlfahrtsbehörden den Herausforderungen im Umgang mit mehreren Millionen Arbeitslosen nicht gewachsen waren (vgl. Ayaß 1995 : 17 f.; Scherer 1990 : 1). So seien diese auch kaum in der Lage gewesen, „die ordnungsgemäße Betreuung der Hilfesuchenden zu gewährleisten“ (Ayaß 1995 : 17). Für Hamburg beispielsweise, so Scherer, hieß dies eine Abhängigkeit von öffentlicher Unterstützung jeder dritten Person (vgl. Scherer 1990 : 1). Die im Zuge der Industrialisierung beginnende und sich verschärfende Wechselwirkung von Mobilität und Beschäftigungskrisen in Industrie und Gewerbe hatte eine Vielzahl von Personen zur Folge, die sich zum Zwecke der Arbeitssuche auf Wanderschaft begaben und/oder zum Zwecke der Existenzsicherung auf Bettelei angewiesen waren (Sondermann-Becker 1995 : 16 ff.).
2.3 Für den Nationalsozialismus relevante Rechts- und Gesetzeslage vor 1933
Exemplarisch werden im Folgenden einige für die spätere Entwicklung einschlägige Rechtsvorschriften vorgestellt.
Repressionsmaßnahmen gegen Bettelei und Landstreicherei durch das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1871, §§ 361, 362 RStGB
Über diese Paragraphen wurde seit 1871 die Einweisung in ein Arbeitshaus gesetzlich legitimiert und geregelt. Derart restriktive Maßnahmen stellten den Versuch des Staates dar, dem von allen Seiten beklagten sozialen Notstand zu entgegnen (Sondermann-Becker 1995 : 16). Eine Vielzahl von existenzsichernden Tätigkeiten wie Bettelei, Prostitution und Landstreicherei konnten nun als Übertretungsdelikte bestraft werden, wodurch Personen, denen selbiges vorgeworfen wurde, folglich bereits weit vor 1933 kriminalisiert waren. Bis zu sechs Wochen Haftstrafen konnten nach § 361 RStGB verhängt werden, die selbständige Anordnung einer Haft bis zu vierzehn Tagen durch die Polizeibehörden war bereits in vielen Regionen möglich. Die Handhabung die Wohlfahrtsunterstützung betreffend waren in § 20 RFV geregelt, wonach der Nachweis eines sittlichen Verschuldens und beharrlicher Arbeitsverweigerung einer Person oder aber einer zum Unterhalt verpflichteten Person zur Unterbringung in einer Anstalt zwangseingewiesen werden konnte. Die Regelung über Art und Unterkunft wurde den einzelnen Ländern überlassen; in der Regel wurden hierzu die sogenannten Arbeitshäuser genutzt. Dass der Zwangscharakter deutlich den Erziehungsgedanken überbot, ist auch an dem innerbehördlichen Sprachduktus des Arbeitszwangs festzumachen (vgl. Hörath 2014 : 4). § 362 RStGB ermöglichte darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen das Festhalten von Personen in gefängnisähnlichen Arbeitshäusern, welche als "Sammelanstalten für verschiedenste deklassierte Personengruppen" fungierten (Schikorra 2001 : 63). Diese von den Landespolizeibehörden angeordnete Zwangsmaßnahme der korrektionellen Nachhaft gem. § 362 StGB betrug sechs Monate bis zu zwei Jahre. In Arbeitshäusern, die in erster Linie dem Vollzug dieser Haft dienten, wurden Personen, die von dieser Art von Haft betroffen waren, als Korrigenden bezeichnet (vgl. Ayaß 1995 : 30; Schikorra 2001 : 62). Damit wurde die Bewältigung sozialpolitischer Herausforderungen den Instanzen Polizei und Justiz überlassen. Engagements gegen diese polizeilichen und strafrechtlichen Zugriffe waren indes meist verbunden mit dem Dogma der Differenzierung so gelabelter arbeitswilliger und arbeitsunwilliger Wanderer. Für die arbeitsunwilligen Wanderer wurde sogar eine noch rigidere Anwendung des staatlichen Zugriffs gefordert (vgl. Sondermann-Becker 1995 : 16 ff).
[...]
1 Naomy Erdbeerstar, einzusehen in: http://www.erdbeerlounge.de/erdbeertalk/Warum-gibt-es-in-Deutschland-so-viele-Asoziale-Menschen-_t2288125s1 (letzter Zugriff 27.05.2014)
2 Gesprächsauszug während einer U-Bahnfahrt über den Kottbusser Bahnhof in Berlin-Neukölln
3 Oft gehörte Erzählung von sozialarbeiterischen/pädagogischen Kontexten
4 Da die Fristen für die gesetzlich geregelten Zahlungen-dies betrifft auch Rentenschadenausgleichszahlungen-bereits lange abgelaufen waren, erfolg(t)en die ohnehin geringen Zahlungen aufgrund einer Härtefallregelung. (vgl. Schikorra 2001 : 240; FN 39) Zur generellen Kritik an den euphemistischen Begriffen Wiedergutmachung und Entschädigung, unter welchen Evers nicht in erster Linie die Regelung, sondern die Einschränkung von Schadensersatzansprüchen versteht, siehe Lothar Evers in Sedlaczek (2005 : 179-183).
5 Dies gilt sicherlich ebenso für andere Gruppenkonstruktionen wie zum Beispiel für "'Feinde' von links" (Peukert 1982 : 233) und andere.
6 Nicht zuerst und nicht zuletzt, aber doch ganz erheblich im Rahmen des Projektseminars 'Theorie und Praxis der kritischen und politischen Bildungsarbeit in der Sozialen Arbeit' mit und durch Maria do Mar Castro Varela und Jana Jelitzki
7 Hier liegt ein komplexes Verständnis von Klassismus vor, das wirkmächtige Unterdrückungsmechanismen in Wechsel-, manchmal in Mehrfachwirkung betrachtet
8 Vgl. hierzu beispielsweise Aly, Götz u. a. (1985): Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren.
9 Schon aufgrund des nicht hinreichenden Forschungsstandes kann hier keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit gestellt werden.
10 Weiterführender Literaturhinweis im Hinblick auf den Stand konstruktivistischer Theorien in Bezug auf › abweichendes Verhalten‹: Menzel, Birgit/Ratzke, Kerstin (Hg.) (2003): Grenzenlose Konstruktivität? Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven konstruktivistischer Theorien abweichenden Verhaltens. Opladen: Leske + Budrich.
11 Vgl. hierzu Voß, Heinz-Jürgen (2010): Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. transcript Verlag, Bielefeld. Voß analysiert in dieser Dissertationsarbeit aus historisch-medizinisch-biologischer Perspektive physische und physiologische Merkmale, die zu jeweils einer, oft gefühlt falschen, geschlechtlichen Zuordnung führen. Die Analysen Voß' zeigen auf, wie auch naturphilosophisch begründete und biologisch-medizinische Geschlechtertheorien gesellschaftlich hergestellt werden.
12 Weiterführende Literatur: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Judith Butler hinterfragt hier aus philosophischer Perspektive jede Theorie, die 'Körper' als passiv fokussiert und jedem Diskurs als So-Seiendes voranstellt. Butler nimmt unter Bezugnahme auf die Sprechakttheorie von Austin eine erste Entwicklung ihres Konzepts der performativen Herstellung von Körper vor. In diesem Denken wird Sprache als ein zentrales Instrument betrachtet, mit dem erst die Subjektkonstitution geschaffen werde, wobei die stilisierte Wiederholung von Akten zentral ist.
13 Weiterführend hierzu beispielsweise: Ebbinghaus, Angelika (1987): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien im Nationalsozialismus; Kompisch, Kathrin (2008): Frauen im Nationalsozialismus.
14 Abrufbar auf: http://www.duden.de/rechtschreibung/asozial.
15 Ebd.
16 Im Verlauf der zahlreichen Debatten, Regelungen und Definitionsversuche vor und während des faschistischen NS-Regimes etablierte sich eine facettenreiche Terminologie um die Begrifflichkeit 'asozial'. In einer Dienstvorschrift infolge einer behördeninternen Diskussion der zentralen Fürsorgeabteilung Hamburg beispielsweise fanden nun die Begriffe › sozialschwierig ‹ und › gemeinschaftswidrig‹ Eingang. Häufig zu finden ist auch der Begriff › Gemeinschaftsfremde‹ der völlig synonym zu › Asoziale‹ verwendet wurde.
17 S. o.
18 Siehe Eingangszitat.
19 Der Begriff Gemeinschafsunfähige wurde vor und während des Natinalsozialismus vollkommen synonym zu Asoziale benutzt (vgl. Scherer 1990 : 9).
20 Schikorra betont in der Einleitung wissenschaftstheoretische Entwürfe sowie einen breiten gesellschaftlichen Konsens über eine rassentheoretisch begründete Hierarchisierung und Dominanz von Menschengruppen und nimmt dadurch von Vornherein eine Vorstellung vorweg, es könne sich bei der Verfolgung als asozial Stigmatisierter um eine Einmaligkeit des Nationalsozialismus handeln.
21 deutscher Begriff für Eugenik.
22 'Nachvollziehen' meint hier keinesfalls 'Verstehen' und ist nicht mit einer zwingenden Entwicklung der Verhältnisse so wie sie sind oder waren verbunden.
23 Aufgrund des vorgegeben Rahmens muss auf vertiefende Ausführungen verzichtet werden. Zur Verflochtenheit staatlicher, politischer und wissenschaftlicher Zielsetzungen vgl. Grosse, Pascal: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850 – 1918 (2000). Frankfurt/New York: Campus Verlag, insbesondere S. 35-52; zu postkolonialen Perspektiven vgl. Castro Varela, María do Mar, Dhawan, Nikita (2005):. Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript Verlag.
24 Oberbegriff für formale, strukturelle u. funktionelle Abweichungen von der Norm im medizinischen Terminus „die Abweichung von der Norm im Sinne einer Verschlechterung in der Leistungsfähigkeit und im Erscheinungsbild bei Individuen, Organen, Zellverbänden oder Zellen“ Auch nach dieser Brockhaus-Definition diese „ […] auf einer Änderung der Erbanlagen aufgrund von Mutationen, Inzuchtschäden, Domestikation oder Abbauerscheinungen [..]“ beruhen (Brockhaus 2004 : 869-870).
25 Oberbegriff für formale, strukturelle u. funktionelle Abweichungen von der Norm im medizinischen Terminus „die Abweichung von der Norm im Sinne einer Verschlechterung in der Leistungsfähigkeit und im Erscheinungsbild bei Individuen, Organen, Zellverbänden oder Zellen“ Auch nach dieser Brockhaus-Definition diese „ […] auf einer Änderung der Erbanlagen aufgrund von Mutationen, Inzuchtschäden, Domestikation oder Abbauerscheinungen [..]“ beruhen (Brockhaus 2004 : 869-870).
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