Bis zum Anfang der 1980er Jahre hat das Thema „Ältere Menschen mit geistiger Behinderung“ in der Fachwissenschaft kaum Beachtung gefunden. Auf Grund der Euthanasiemorde der Nationalsozialisten fehlte die Generation älterer Menschen mit geistiger Behinderung bis auf wenige Ausnahmen in Deutschland über Jahrzehnte. Des Weiteren führte die lange Zeit verbreitete Auffassung, geistig behinderte Menschen seien „ewige Kinder“ dazu, dass „Die Betrachtung der weiteren Lebensphasen (…) bei dieser Sichtweise kaum relevant, [war] da diese nicht wesentlich zur weiteren Reifung und Bildung der Persönlichkeit beitragen.“
Die Lebenserwartung der Menschen in den westlichen Industrieländern ist in den letzten Jahrzehnten rapide gestiegen. Untersuchungen haben belegt, dass auch die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in Folge der verbesserten medizinischen Versorgung gestiegen sei und sich jener der Gesamtbevölkerung nahezu angeglichen habe.
Diese Erkenntnisse sowie eine Veränderung der Sichtweise vom Defizitorientierten zum Kompetenzmodell des Alters führten dazu, dass 1981 in Deutschland erstmalig, auf dem 12. Congress on Gerontology in Hamburg dem Thema „Altern und geistige Behinderung“ eine gesamte Sitzungsperiode gewidmet wurde. Seitdem wurde in Europa und den Vereinigten Staaten, in Anlehnung an 1974 an der Universität von Michigan formulierte Informations- und Forschungsziele, systematisch geforscht, um Erkenntnisse über die zahlen- und altersmäßige Verteilung, das Erleben und die Lebenslage älterer Menschen mit geistiger Behinderung zu gewinnen. Ebenso wurde versucht dieser Personenkreis genau zu identifizieren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Bedürfnislage älterer Menschen mit geistiger Behinderung unter Berücksichtigung der Besonderheit des Lebenslaufes
3. Wohnbedingungen älterer Menschen mit geistiger Behinderung
3.1. Wohnen im Elternhaus
3.2. Wohnen in Komplexeinrichtungen
3.3. Gemeindenahe Wohnformen
3.3.1. Gruppengegliedertes Wohnen in Kleinstwohnheimen.
3.3.2. Wohnen in betreuten Wohngemeinschaften
4. Gesetzliche Rahmenbedingungen
5. Erleben des Älterwerdens aus Sicht der Betroffenen
6. Fazit
1. Einleitung
Bis zum Anfang der 1980er Jahre hat das Thema „Ältere Menschen mit geistiger Behinderung“ in der Fachwissenschaft kaum Beachtung gefunden. Auf Grund der Euthanasiemorde der Nationalsozialisten fehlte die Generation älterer Menschen mit geistiger Behinderung bis auf wenige Ausnahmen in Deutschland über Jahrzehnte. Des Weiteren führte die lange Zeit verbreitete Auffassung, geistig behinderte Menschen seien „ewige Kinder“ dazu, dass „Die Betrachtung der weiteren Lebensphasen (…) bei dieser Sichtweise kaum relevant, [war] da diese nicht wesentlich zur weiteren Reifung und Bildung der Persönlichkeit beitragen.“[1]
Die Lebenserwartung der Menschen in den westlichen Industrieländern ist in den letzten Jahrzehnten rapide gestiegen. Untersuchungen haben belegt, dass auch die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in Folge der verbesserten medizinischen Versorgung gestiegen sei und sich jener der Gesamtbevölkerung nahezu angeglichen habe.[2]
Diese Erkenntnisse sowie eine Veränderung der Sichtweise vom Defizitorientierten zum Kompetenzmodell des Alters führten dazu, dass 1981 in Deutschland erstmalig, auf dem 12. Congress on Gerontology in Hamburg dem Thema „Altern und geistige Behinderung“ eine gesamte Sitzungsperiode gewidmet wurde. Seitdem wurde in Europa und den Vereinigten Staaten, in Anlehnung an 1974 an der Universität von Michigan formulierte Informations- und Forschungsziele, systematisch geforscht, um Erkenntnisse über die zahlen- und altersmäßige Verteilung, das Erleben und die Lebenslage älterer Menschen mit geistiger Behinderung zu gewinnen. Ebenso wurde versucht dieser Personenkreis genau zu identifizieren.
Bis heute ist jedoch in der Fachliteratur keine deckungsgleiche Definition des älteren Menschen mit geistiger Behinderung zu finden. Einen die Multidimensionalität hervorhebenden Definitionsrahmen von geistiger Behinderung gab die American Association for Mental Retardation wie folgt: „Geistige Behinderung ist eine
Behinderung, die gekennzeichnet ist durch bedeutende Einschränkungen in sowohl dem intellektuellen Funktionieren als auch in konzeptuellen, sozialen und praktischen adaptiven Fertig- und Fähigkeiten. Die Behinderung entsteht vor dem 18. Lebensjahr.“[3] Dieses Verständnis von geistiger Behinderung findet sich in der Definition der Weltgesundheitsorganisation[4] wieder, die als Grundlage der Richtlinien der Deutschen Behindertenhilfe diente.
Auch für den Begriff des Alters findet sich in der Literatur keine allgemein anerkannte Definition. Einheitlich fand sich die Betrachtungsgrundlage, der Mensch sei lebenslang lern- und entwicklungsfähig. Des Weiteren wurde Altern als individueller biologischer, psychologischer und soziologischer Prozess gekennzeichnet. Die Verwendung des Begriffes „ältere Menschen“ erfuhr Anwendung, da er als neutralisierender, alle umfassender Begriff bewertet und ergänzend auf Menschen von 50 Jahren und älter bezogen wurde.[5]
Zusammenfassend ist festzustellen, dass es nicht „den“ älteren Menschen mit geistiger Behinderung gäbe. Um die Lebenslage älterer Menschen mit geistiger Behinderung zu diagnostizieren, bedarf es eines mehrdimensionalen Betrachtungsrahmens von Lebensverhältnissen und „Lebensbedingungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen innerhalb einer gegebenen gesellschaftlichen Situation.“[6]. Bestimmend sind dabei externe und interne Einflussfaktoren.
In der vorliegenden Arbeit wird der Fragestellung, wie die Lebenswirklichkeit älterer Menschen mit geistiger Behinderung aussieht nachgegangen, wobei der Fokus der Betrachtung auf den externen Einflussfaktoren liegt. Diese beinhalten die objektiven Lebensbedingungen, sozialstrukturellen Faktoren und sozialen Beziehungen. Die Darstellung der Wohnbedingungen erfolgt am ausführlichsten, da sie den zentralen Lebensbereich älterer Menschen mit geistiger Behinderung darstellen. Nach einer ausführlichen Darstellung der rechtlichen Situation werden abschließend Schilderungen der Betroffenen selbst beschrieben.
2. Die Bedürfnislage älterer Menschen mit geistiger Behinderung unter Berücksichtigung der Besonderheit des Lebenslaufes
Es wurde einheitlich darauf hingewiesen, dass ältere Menschen mit geistiger Behinderung nicht wesentlich andere Bedürfnisse hätten als Nichtbehinderte gleichen Alters. Zu diesen zählen beispielsweise das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, nach Anerkennung, sozialen Kontakten, Privatsphäre, Ruhe und Aktivität.
Aus der Betrachtung des Lebenslaufes von Menschen mit geistiger Behinderung die heute alt seien, ergäbe sich darüber hinaus jedoch eine besondere Bedürfnislage dieses Personenkreises.
Bis zur gesetzlichen Verankerung der Schulpflicht für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung in fast allen Bundesländern der BRD in den 60er Jahren, galten geistig Behinderte als bildungsunfähig und wurden dementsprechend nicht oder zu wenig gefördert. Erst durch die Initiative der 1958 gegründeten „Bundesvereinigung für Lebenshilfe“ entstanden in den 60er Jahren die ersten Werkstätten für Behinderte und somit erstmalig Beschäftigungsmöglichkeiten für geistig behinderte Erwachsene. Ein Großteil der Menschen mit geistiger Behinderung lebte nach 1945 von der Gesellschaft isoliert in Großanstalten oder psychiatrischen Kliniken, „ohne Privatheit im öffentlichen Raum der Gruppe.“[7] Erst unter dem Einfluss des Normalisierungsprinzips in den 70er Jahren begann die Enthospitalisierung in Deutschland und eine Entwicklung von großen Anstalten und psychiatrischen Kliniken zu kleinen gemeindeintegrierten Wohnformen.[8]
Diese Umstände prägten den Lebenslauf dieser Menschen durch Erfahrungen von extremer Abhängigkeit, sozialer Benachteiligung, mangelnder Förderung, Vernachlässigung, Infantilisierung und Diskriminierung. Eine selbstbestimmte Lebensführung ist dieser Generation von älteren Menschen mit geistiger Behinderung meistens fremd, die wenigsten haben das größtmögliche Maß an Selbstständigkeit erlangt.[9]
Menschen ohne geistige Behinderung meisterten ihr Leben im Alter in der Regel selbst, sie könnten hierbei auf die Unterstützung von Verwandten oder Freunden zurückgreifen. Aufgrund dessen nähmen sie das Alter nicht allein als Summe von Verlusten war. Menschen mit geistiger Behinderung „führten [jedoch oft] (…) zeitlebens ein Singledasein und machten keine Erfahrungen mit Elternschaft“[10], so dass sie auf dieses soziale Netzwerk im Alter nicht zurückgreifen könnten.[11] Mit dem Tod der Eltern, die oft einziger sozialer Bezugspunkt waren, und dem Wegfall der Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte reduzierten sich die Möglichkeiten regelmäßiger Teilhabe am sozialen und öffentlichen Leben zusätzlich und erschwerten es, ohne andauernde und professionelle Unterstützung die ohnehin schon mehr oder weniger bestehenden Einschränkungen in den sozialen adaptiven Fähig- und Fertigkeiten auszugleichen.
Es komme demnach im Alter zu einer zunehmend wohnzentrierten Lebensweise. Das Wohnen wird zur wichtigsten Chancenstruktur sozialer Integration.
Auf die bestehenden Wohnformen sowie Vor- und Nachteile der aktuellen Wohnbedingungen älterer Menschen mit geistiger Behinderung wird im folgenden Kapitel eingegangen.
[...]
[1] Havemann, M., Stöppler, R. , Altern mit geistiger Behinderung. 1.Aufl., Stuttgart: 2004, Verlag: W. Kohlhammer, S. 11.
[2] Wacker, E. , Behinderung und fortgeschrittenes Alter als geragogische Herausforderung. In A. Leonhardt/ F.B. Werner, Grundfragen der Sonderpädagogik. Bildung - Erziehung - Behinderung. Ein Handbuch., 2003, Verlag: Beltz, S.875
[3] AAMR, 2001
[4] http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2005/fr-icd.htm
[5] Vgl.: Havemann, 2001
[6] Beck., I. , Lebenslagen im Erwachsenenalter angesichts behindernder Bedingungen. In A.Leonhardt/F.B.Werner, Grundfragen der Sonderpädagogik. Bildung – Erziehung – Behinderung. Ein Handbuch. , 2003, Verlag: Beltz, S.851
[7] Wackerer, E., Behinderungen und fortgeschrittenes Alter als geragogische Herausforderungen. In A.Leonhardt/F.B.Werner, Grundfragen der Sonderpädagogik. Bildung – Erziehung – Behinderung. Ein Handbuch. , 2003, Verlag: Beltz , S.884
[8] Mühl, H., Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik. 4.Aufl., 2000, Verlag: W.Kohlhammer
[9] Wieland, H., „Altern und Lebenslauf“
[10] Wackerer, E., Behinderungen und fortgeschrittenes Alter als geragogische Herausforderungen, S.884
[11] (ebd. S.885)
- Arbeit zitieren
- Anja Lengowski (Autor:in), 2005, Lebenslage älterer Menschen mit geistiger Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47042
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