Die vorliegende Thesis befasst sich mit der Chancengerechtigkeit der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) in den Ländern Deutschland und Schweiz. Zunächst wird der Begriff der FBBE definitorisch festgelegt. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf den Aspekten der Beachtung der individuellen Lebensumstände, der gesamtheitlichen Förderung sowie der Vorbereitung auf den weiteren Lebensweg der Kinder. Sie wird als Aufgabe von fachlich fundierten Erwachsenen gesehen, was wiederum die Wichtigkeit der qualitativ hochwertigen Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte in diesem Zusammenhang betont.
Der gesellschaftliche Nutzen bezieht sich dabei nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf das Bilden von Humankapital sowie die Frauenerwerbstätigkeit. Aufgrund der föderalistischen Strukturen der Länder werden insbesondere die Rahmenbedingungen der Gliedstaaten Nordrhein-Westfalen sowie Zug betrachtet. Es soll aufgezeigt werden, inwiefern die vorherrschenden Bedingungen zur Chancengerechtigkeit beitragen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung
2.1 Definition
2.2 UN-Kinderrechtskonvention
2.3 Auswirkungen von frühpädagogischen Einrichtungen auf Kinder
2.4 Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Betreuung
3. Ergebnisse der OECD
3.1 Pisa Ergebnisse beider Länder
3.2 Gegenüberstellung der Ergebnisse
3.3 Kritik an der OECD und der Pisa-Studie
4. Stand FBBE in Deutschland und der Schweiz
4.1 Bildungssystem Deutschland und Schweiz
4.1.1 Deutschland
4.1.2 Schweiz
4.1.3 Ländervergleich gestützt auf der Starting-Strong-Studie
4.2 Stand FBBE im Bundesland NRW und dem Kanton Zug
4.2.1 Rahmenbedingungen FBBE in NRW
4.2.2 Rahmenbedingungen FBBE in Zug
4.3 Ausbildung der Fachkräfte in Deutschland und der Schweiz
4.3.1 Fachkräfte in Deutschland
4.3.2 Fachkräfte in der Schweiz
5. Chancengerechtigkeit in der frühen Kindheit
5.1 Definition
5.2 Risikogruppen benachteiligter Kinder
5.3 Kinderarmut 60
5.4 Bedeutung Fachpersonal
5.5 Kompensatorischer Effekt von Kindertageseinrichtungen
6. Chancengerechtigkeit unter den Bedingungen des Bundeslandes NRW und des Kantones Zug
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Bildung, Betreuung und Erziehung im deutschen Sprachraum
Abbildung 2: Sensible Phase in der kindlichen Hirnentwicklung
Abbildung 3: PISA-Ergebnisse Deutschland und Schweiz 2000 und 2015 im Vergleich
Abbildung 4: Gesamtwerte PISA-Ergebnisse Deutschland und Schweiz 2000 und 2015
Abbildung 5: Betreuungsquote von Kindern unter 3 Jahren
Abbildung 6: Typologie der Betreuungsformen im Kanton Zug
Abbildung 7: Wechselwirkung sozialer Risikogruppen
Abbildung 8: Ausgaben für frühkindliche Bildung
Abbildung 9: Mittelwerte der Mathematikleistung der Schüler im Kontext der Bundeslän- derstreuung
Abbildung 10: Primäre und sekundäre Effekte der sozialen Herkunft
Abbildung 11: PISA- Ergebnisse Deutschland und Schweiz 2000
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Thesen zur Chancengerechtigkeit und Überprüfung der Beringungen in NRW und Zug
Anhangsverzeichnis
Anhang 1: Abbildung 8: Ausgaben für frühkindliche Bildung
Anhang 2: E-Mail Korrespondenz mit der OECD vom 31.07.2018 und 09.08.2018
Anhang 3: Abbildung 9: Mittelwerte der Mathematikleistung der Schüler im Kontext der Bundesländerstreuung
Anhang 4: Abbildung 10: Primäre und sekundäre Effekte der sozialen Herkunft
Anhang 5: Abbildung 11: PISA- Ergebnisse Deutschland und Schweiz 2000
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abstrakt
Die vorliegende Thesis befasst sich mit der Chancengerechtigkeit der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) in den Ländern Deutschland und Schweiz. Zunächst wird der Begriff der FBBE definitorisch festgelegt. Hierbei liegt der Schwer- punkt auf den Aspekten der Beachtung der individuellen Lebensumstände, der ge- samtheitlichen Förderung sowie der Vorbereitung auf den weiteren Lebensweg der Kinder. Sie wird als Aufgabe von fachlich fundierten Erwachsenen gesehen, was wie- derum die Wichtigkeit der qualitativ hochwertigen Aus- und Weiterbildung der Fach- kräfte in diesem Zusammenhang betont. Der gesellschaftliche Nutzen bezieht sich da- bei nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf das Bilden von Humankapital sowie die Frauenerwerbstätigkeit.
Aufgrund der föderalistischen Strukturen der Länder werden insbesondere die Rah- menbedingungen der Gliedstaaten Nordrhein-Westfalen sowie Zug betrachtet. Es soll aufgezeigt werden, inwiefern die vorherrschenden Bedingungen zur Chancengerech- tigkeit beitragen. Hierbei zeigt sich im Kanton Zug eine Dreiteilung der Zuständigkeiten des Bereichs der FBBE, was die einheitliche Beschreibung der Bedingungen er- schwert. Eine Mehrheit der Kinder nimmt formelle staatliche Angebote erst mit der Ein- schulung in Anspruch, unter anderem bedingt durch die Ansicht, dass Kinder bis zum Schuleintritt zu ihrer Mutter gehören. Der Großteil der FBBE von Kindern vor der Ein- schulung besteht aus privaten finanzierten FBBE-Angeboten, die keinen verbindlichen Qualitätsstandards unterliegen. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein einheitliches, durch Gesetze sowie Verordnungen gesteuertes FBBE-System. Hierbei gibt es jedoch hin- sichtlich der Ausgestaltung Unterschiede in der Qualität. Chancengerechtigkeit ent- steht, wenn Kinder einen kostenfreien Zugang zu qualitativ guten FBBE-Angeboten erhalten, bei denen sie individuell gefördert werden. Dies minimiert soziale Auslese im Bildungssystem schon in der frühen Kindheit.
Keywords
Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung; Ländervergleich; Chancengerechtig- keit; vorschulische Betreuung; Schweiz; Deutschland
1. Einleitung
Unter dem Motto „Solidarität – Vielfalt – Gerechtigkeit“ forderte der Deutsche Gewerk- schaftsbund und seine Mitgliedsgewerkschaften die Bundesregierung am 1. Mai 2018 auf, die Investitionen in den Bildungsbereich aufzustocken und eine Lockerung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern zu beschließen. Vor allem die mangelnden Investitionen in die Bildungspolitik und der Personalmangel in Schulen und Kitas prangert die Vorsitzende der GEW Nordrhein-Westfalen (NRW) Dorothea Schäfer an. Das verabschiedete 11-Milliarden-Paket reiche nicht aus und könne allen- falls ein Anfang sein, so Schäfer. „Für gute Schulen und Kitas, für mehr Ganztag, ge- lingende Inklusion und Integration, kurzum für bessere Bildung, brauchen wir mehr Geld“ (GEW NRW 2018, o.S.) Auch die Spaltung der Gesellschaft und die damit ver- bundenen Bildungsverlierer nennt Schäfer als Folge. Sie bemerkt, dass Länder und Kommunen mehr finanziellen Spielraum benötigen, um in Personal und eine moderne Bildungsinfrastruktur zu investieren (vgl.GEW NRW 2018, o.S.).
Den Zugang zu Bildung sieht Bundesbildungsministerin Johanna Wanka als „beste Voraussetzung für einen erfolgreichen Lebensweg“ (BMBF 2017, o.S.). Sind Investiti- onen in Bildung also zugleich eine sichere Investition in Chancengerechtigkeit? Wel- che Bedingungen braucht es in der institutionellen frühkindlichen Bildung und wie tra- gen diese zu einer Chancengerechtigkeit bei? Deutschland muss demnach mehr in die Bildung investieren, um Kinder für ihren Lebensweg zu stärken.
Auch die Schweizerische UNESO-Kommission knüpft an diese Überlegungen an. So sind es tragfähige Rahmenbedingungen, von denen die Kinder profitieren. Investitio- nen in den Bereich der frühen Kindheit zahlen sich, so die Kommission, volkswirt- schaftlich immer aus. „Jeder Franken für die frühkindliche Förderung rentiert mindes- tens doppelt, aber zahlt sich je nach Berechnung bis zu sieben Mal aus, lautet das Fazit von renommierten Ökonomen wie Nobelpreisträger James Heckman oder Ernst Fehr von der Universität Zürich“ (Trägerschaft des Orientierungsrahmens für frühkind- liche Bildung, Betreuung und Erziehung 2018, o.S.).
Hierzu benötige es eine gute Qualität. Mit diesem Apell verfolgt die UNESCO-Kom- mission das Ziel, die Entscheidungsträger in der Schweiz dazu zu bewegen, sich für die Arbeit in der frühen Kindheit einzusetzen (ebenda).
Bereits Mitte der 1990er Jahre entstanden in Deutschland erste Bildungskonzepte und Forschungen zum Feld der frühen Kindheit. Diese wurden jedoch weniger öffentlich diskutiert. Die Diskussion um Bildungskonzepte für die Pädagogik der frühen Kindheit und die Qualifizierung von Fachkräften im frühkindlichen Bereich bekam durch die Er- gebnisse der PISA-Studie im Jahr 2001 neuen Aufwind und wurde nicht nur in der Fachwelt, sondern auch politisch und medial weltweit geführt. So entstanden neue, innovative Überlegungen zu frühpädagogischen Curricula (vgl. Fthenakis 2006, 29f). Hierbei zeigt sich, dass die Institution Kindertagesstätte die komplexe Aufgabe hat, auf gesellschaftliche Veränderungen und Herausforderungen zu reagieren. Je nach aktu- ell geführter Politik und parallel zu gesellschaftlichen Entwicklungen wird ihr (der Insti- tution Kindertagesstätte) die Aufgabe gestellt, zuweilen sozialorientiert wirksam zu werden, zuweilen aber auch bildungspolitisch zu agieren (vgl. Hemmerling 2007, S. 26).
Das gesellschaftlich-politische Bild von Bildung und Erziehung konstituiert sich in Kin- dertagesstätten. Die hohe Erwartungshaltung an die Institution Kindergarten geht ebenfalls aus der Rede des Bundespräsidenten Rau im Jahre 2002 hervor. „Die Kin- dergärten (…) sind ja nicht nur die Tore zum Bildungswesen, sie sind auch die Tore zu unserer Gesellschaft, zu Selbstentfaltung und Gemeinschaftsfähigkeit, zu berufli- chem Erfolg und staatsbürgerlicher Verantwortung.“ (Rau 2002, o.S.). Der Pisa- Schock hat, sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz durch das schlechte Ab- schneiden der getesteten Schüler eine große Debatte um ungleiche Bildungschancen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland und der Schweiz ausgelöst (vgl. Edel- mann 2018, S. 24).
In Deutschland hat dieser Umstand breit angelegte Veränderungen im frühkindlichen institutionellen Bereich bewirkt. Fthenakis (2006) stellt hierbei als besonders bemer- kenswert heraus, dass die „Bedeutung des Bildungsauftrags der Tageseinrichtungen und die Stärkung frühkindlicher Lernprozesse an erster Stelle der (…) [PISA, Anm. der Autorin] Empfehlungen hervorgehoben wird“ (Fthenakis 2006, S. 13).
Auch Stamm (2009) skizziert die Zusammenhänge der PISA-Ergebnisse in der Schweiz und den sich daraus ergebenen Konsequenzen für die frühkindliche Betreu- ung. Sie merkt an, dass diejenigen Länder, die erfolgreich in den drei Kompetenzbe- reichen abschnitten, ebenfalls über gut ausgebaute Systeme der frühkindlichen Be- treuung und Bildung verfügen. Des Weiteren förderten diese Länder Kinder aus „un- terprivilegierten, bildungsfernen Schichten besonders“ (Stamm et al. 2009, S. 16) gut. Dies verweist auf die gezogenen Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenhangs von soziokulturellem Status und Bildungsweg. Vor allem in Deutschland und der Schweiz sind diesbezüglich enge Zusammenhänge erkennbar (vgl. Edelmann 2018, S. 24).
Elschenbroich (2000) konstatiert, dass die Pädagogik der frühen Kindheit aus wissen- schaftlicher Sicht ein Schattendasein in Deutschland führt. Des Weiteren sei der Status von Erzieherinnen in Deutschland gering. Im Verhältnis zu Grundschullehrerinnen ver- dienen Erzieherinnen nur zwei Drittel deren Gehalts. Auch die Ausbildung sei durch ihre Ausgestaltung durch die fehlende Akademisierung nicht anschlussfähig an andere europäische Länder (vgl. Elschenbroich 2000, o.S.).
Unsere Schweizer Nachbarn scheinen hinsichtlich des Stellenwertes der FBBE vor ähnlichen Herausforderungen zu stehen. Laut dem Orientierungsrahmen für frühkind- liche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz „ist dem Potenzial der frühen Kindheit öffentlich lange Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden“ (Wustmann Seiler und Simoni 2016, o.S.).
So scheinen die Faktoren wie Rahmenbedingungen, Qualität, Bildung, Chancenge- rechtigkeit sowie volkswirtschaftlicher Nutzen im Bereich der frühkindlichen institutio- nellen Betreuung eng miteinander verwoben zu sein. Die vorliegende Bachelorthesis befasst sich mit der Fragestellung, welche Bedingungen der institutionellen frühkindli- chen Bildung, Betreuung und Erziehung im Kanton Zug (Schweiz) sowie im Bundes- land Nordrhein-Westfalen (Deutschland) bestehen und inwiefern diese zur Chancen- gerechtigkeit beitragen können.
Um sich dieser Fragestellung wissenschaftlich zu widmen, wird in Kapitel 2 die institu- tionelle frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung definitorisch als Grundlage der Thesis festgelegt. Sowohl Deutschland als auch die Schweiz unterliegen der UN- Kinderrechtskonvention, die das Recht auf Bildung auf der Grundlage der Chancen- gleichheit festschreibt. Die Auswirkungen frühpädagogischer Einrichtungen auf Kinder werden in Kapitel 2.3 näher erläutert, wobei sich zeigt, dass die FBBE eine positive Wirkung auf die kognitive Leistung von Kindern hat, der Effekt auf die soziale Entwick- lung fällt hingegen unterschiedlich aus. Auch der volkswirtschaftliche Nutzen als Folge der frühkindlichen Betreuung wird näher erläutert. Hier zeigt sich, dass sich die drei Dimensionen Frauenerwerbstätigkeit, Humankapital und Bildungslaufbahnen auf den volkswirtschaftlichen Nutzen beziehen lassen.
Im dritten Kapitel wird die OECD als Organisation kritisch beleuchtet. Des Weiteren werden Resultate der PISA-Studien aus den Jahren 2000 und 2015 hinsichtlich der Länder Deutschland und Schweiz zusammengefasst. Es wird aufgezeigt, inwiefern diese die bildungspolitische Diskussion auslösten, den Kindergarten als Teil des Bil- dungssystems zu sehen. Eine kritische Sicht auf die Pisa-Studie soll den Blick auf die Ergebnisse weiten und die konkreten Ergebnisse auf dieser Basis hinterfragen.
Im folgenden Kapitel werden die Bedingungen in der Schweiz und in Deutschland hin- sichtlich ihrer FBBE-Systeme erläutert. Dabei wird die Dispersität der Bedingungen beider Länder durch die föderale Struktur aufgezeigt. Im Anschluss werden die aktu- ellen Bedingungen des Kantons Zug (Schweiz) und des Bundeslandes Nordrhein- Westfalen (Deutschland) dargestellt. Die Fokussierung auf das Bundesland bzw. den Kanton liegt in dem Umstand begründet, dass sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz durch den Föderalismus mit regional unterschiedlichen Gesetzen und Bedin- gungen gearbeitet wird. Dieser Besonderheit wird mit der gesonderten Betrachtung zweier Regionen innerhalb der beiden Länder Beachtung geschenkt.
Das fünfte Kapitel widmet sich der Chancengerechtigkeit. Nach einer Begriffsklärung beschäftigt sich dieses Kapitel mit den Formen der benachteiligten Risikogruppen so- wie der Bedeutung des Fachpersonales und der kompensatorischen Effekte durch die FBBE. Hier werden vor allem die positiven Effekte auf Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien aufgezeigt.
Wie sich die Chancengerechtigkeit unter den Bedingungen des Bundeslandes Nord- rhein-Westfalen und dem Kanton Zug darstellt, soll das Kapitel Sechs aufzeigen. Es fasst die regionalen Unterschiede im institutionellen Bereich der frühkindlichen Bil- dung, Betreuung und Erziehung zusammen und bezieht diese auf die im Kapitel fünf erarbeiteten Ergebnisse. In diesem Kapitel wird die Forschungsfrage aufgegriffen und intensiv betrachtet
Im Fazit werden die gewonnenen Ergebnisse bilanziert und die Entwicklung unter- schiedlicher Rahmenbedingungen der FBBE mit soziokulturellen Unterschieden der Länder und Gliedstaaten in Verbindung gebracht.
Methodisch arbeitet die Autorin literaturbasiert, wobei ein Hauptaugenmerk auf die Ausgewogenheit der verwendeten Literatur sowie Studien gelegt wurde, sowohl Daten aus Deutschland als auch aus der Schweiz zu verwenden. Ebenfalls werden Bundes- gesetze und Gesetze aus den Gliedstaaten betrachtet und erläutert.
2. Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung
Im vorliegenden Kapitel wird aufgrund der Fachdiskussionen und Rahmenbedingun- gen sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland der Begriff der frühkindlichen Bil- dung, Betreuung und Erziehung (FBBE) näher erläutert. Im Kapitel 2.1 wird eine dieser Arbeit zugrundeliegende Definition der FBBE festgelegt, die als Basis für die weitere Verwendung des Begriffes dient.
Im deutschen Sprachraum verwendete vor allem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Begriff der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Entwicklung. Damit sind vorrangig Betreuungsangebote für Kinder gemeint, die noch nicht schulpflichtig sind. Rißmann weist darauf hin, dass FBBE meist für das System der Tagesbetreuung für Kinder als übergeordneter Begriff verwendet wird (vgl. Rißmann 2015, S. 142). Im Deutschen Sozialgesetzbuch ist im Teil VIII der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe geregelt. Dort sind die Grundsätze der Förderung in Ta- geseinrichtungen für Kinder näher beschrieben. So heißt es: „Tageseinrichtungen sind Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztägig aufhalten und in Gruppen gefördert werden“ (§ 22 Absatz 1 SGB VIII).
Auch hier ist die Begrifflichkeit der FBBE zu finden, wenn auch in anders aufgestellter Reihenfolge. Im § 22 geht es um die Förderung in Tageseinrichtungen für Kinder. Hier heißt es in § 22 Absatz 3 Satz 1 SGB VIII: „Der Förderauftrag umfasst Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, kör- perliche und geistige Entwicklung des Kindes.“ (§ 22 Absatz 3 Satz 1 SGB VIII). Hiermit wird verdeutlicht, dass Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland keinen reinen Betreuungsauftrag haben, sondern gleichberechtigt auch einen Bildungs- und Erzie- hungsauftrag.
In der Schweiz nutzt die Schweizerische UNESCO-Kommission ebenfalls den Termi- nus der FBBE. Bei den Ausführungen der Schweizerischen UNESCO-Kommission hinsichtlich der FBBE findet sich eine des im SGB VIII beschriebenen Förderauftrages ähnliche Beschreibung der Aufgabe von FBBE. „Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung unterstützt die soziale, emotionale, kognitive, körperliche und psychische Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persön-lichkeiten“ (Wustmann Seiler und Simoni 2016, S. 25).
Neben der individuellen Entwicklung aller Bereiche der kindlichen Entwicklung liegt hier die Betonung auf dem Ziel, dem Kind dazu zu verhelfen, sich zu einer zukunftsfä- higen Person zu entwickeln. Die Kommission verfasste, gemeinsam mit dem Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz, den Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreu- ung und Erziehung. Für die UNESCO-Kommission ist die frühkindliche Betreuung ein Beitrag zur Chancengerechtigkeit. „Die UNESCO betrachtet das Lernen in den ersten Lebensjahren als Grundlage der gesamten Entwicklung eines Menschen“ (Schweize- rische UNESCO-Kommission 2017, o.S.). Dies verweist wiederum auf den Bezug zu den ersten Lebensjahren, die Chancengerechtigkeit, aber auch auf die Bedeutung für die weitere, individuelle Entwicklung eines Menschen.
Im bereits erwähnten Orientierungsrahmen finden sich Hinweise zur Komplexität des Begriffes der FBBE. Hier werden folgende Merkmale als Fundament der FBBE ge- nannt:
- Bereitstellung förderlicher Lebensverhältnisse
- Integrales Zusammenspiel verschiedener Lebenswelten der Kinder (Einrichtun- gen, Elternhaus)
- Individuelle Bildungsprozesse des Kindes und Bildungssteuerung
- Chancengerechtigkeit durch Zugang für alle Kinder
- FBBE als fachlich fundierte Aufgabe von Erwachsenen
(vgl. Wustmann Seiler und Simoni 2016, 24ff)
Die FBBE als fachlich fundierte Aufgabe von Erwachsenen verweist darauf, dass Fachkräfte im FBBE-Bereich spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten haben müssen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Die Rolle der Fachkraft wird im Kapitel 5.3 behan- delt.
Die Erwähnung des integralen Zusammenspiels verdeutlicht, dass die Lebenswelt des Kindes ein wichtiger Ausgangspunkt für die FBBE ist. Diesen Aspekt berücksich- tigt das deutsche SBG VIII ebenfalls. In § 22 Absatz 3 Satz 3 SGB VIII heißt es: „Die Förderung soll sich am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzel-nen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen.“
Mit der heutigen Auffassung von FBBE wird zugleich ein Paradigmenwechsel auf die Erwartungshaltung gegenüber institutionellen Kindertageseinrichtungen sichtbar. A- den-Großmann bezeichnet die Entwicklung der institutionellen FBBE als langen Weg, „den die Tageseichrichtungen für Kinder von der Bewahranstalt bis zu einer an- erkannten Bildungsstätte zurücklegen musste“ (Aden-Grossmann 2011, S. 214). Auf die heutige Erwartungshaltung, die an die FBBE geknüpft wird, geht das Gutachten des Aktionsrats Bildung ein. Hiermit verknüpft es die Verschmelzung von Bildung und Betreuung, um beiden Aspekte gleichberechtigt nebeneinander Rechnung zu tragen.
- Optimale Förderung der Kinder, um sie auf ihre Zukunft vorzubereiten (hinsicht- lich kognitiver Kompetenzen, aber auch die Persönlichkeitsbildung der Kinder)
- Herstellung von Chancengerechtigkeit
- Vereinbarkeit Familie und Beruf speziell hinsichtlich Erwerbstätigkeit der Mütter
(vgl. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2012, S. 21)
Dies erweitert die bereits erwähnten Erwartungen hinsichtlich der Komplexität der in- dividuellen Persönlichkeitsausbildung und der Chancengerechtigkeit der Kinder um den Aspekt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, respektive der Erwerbstätigkeit der Mütter. Auf diesen Aspekt geht die Autorin in Kapitel 2.4 näher ein.
Fernab gesetzlicher Richtlinien sowie der in der Fachdiskussion geführten Debatte um FBBE gibt es noch den erziehungswissenschaftlichen Blick auf die Begriffe Erziehung, Bildung und Betreuung, die an dieser Stelle grafisch erläutert sowie im Anschluss kurz erörtert werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Bildung; Betreuung und Erziehung im deutschsprachigen Raum. Eigene Darstel- lung nach (Schäfer 2014, 13ff; Braches-Chyrek et al. 2014, 25ff; Rißmann 2015, 54f; Schäfer 2005, S. 15–31)
Die Pädagogik der frühen Kindheit befasst sich sowohl mit der biologischen Phase der Kindheit, durch die jeder Mensch zum Erwachsenen heranreift, als auch mit dem so- zialen Kontext der frühen Kindheit, in der ein gesellschaftliches Bild darüber herrscht, wie Erziehung in den Prozess des Heranreifens eingreift und diesen steuert (vgl. Bra- ches-Chyrek et al. 2014, S. 25).
Der Begriff der Bildung stellt eine Besonderheit im deutschen Sprachraum dar, da er in dieser Form in anderen Sprachen nicht genutzt wird. Er bildet sich im jeweiligen Kontext auf der Grundlage von bildungstheoretischen Ansätzen (vgl. Rißmann 2015, S. 54). Liegle merkt an, dass Bildung als Begriff mit dem Begriff Lernen parallel gesetzt werden müsse, um die Anschlussfähigkeit an den anglo-amerikanischen Sprachgebrauch zu erlangen und eine internationale Debatte um die Begrifflichkeit zu führen. Beide Begriffe spiegelten die Fähigkeit des Menschen wider, sich an die Ge- gebenheiten der Umwelt anzupassen, in ihr zu agieren und gegebenenfalls Verände- rungen dieser wahrzunehmen (Braches-Chyrek et al. 2014, S. 35). Diese Ansicht fin- det sich auch in der Humboldt’schen Sicht auf Bildung. Diese vollzieht sich im Verhält- nis zwischen der Welt und dem individuellen Ich. Das Subjekt benötigt ein Gegenüber, an dem es sich bilden kann. Dies kann nur gelingen, wenn „die Aufgabe des Menschen nicht mit seinem Nutzen für die Gesellschaft in eins gesetzt wird“ (Schäfer 2014, S.14). Bildung kann somit nicht von außen erwirkt werden, sondern dient dem Selbst- zweck.
Schäfer (2005) kritisiert, dass Bildung durch den Sprachgebrauch als Ware angesehen würde, die man vermitteln könnte. Auch bildungspolitische Überlegungen werden, so Schäfer, von diesem Gedanken beeinflusst. Als Beispiel hierfür nennt er das Kita- Card-Modell aus Hamburg, in der die Dienstleistung Kindertagesstätte stundenweise abgerechnet wird und das so ein Bild von der Dienstleistung Kita im Stundentakt ver- mitteln würde. Teil der wissenschaftlichen Diskussion sei es, diese Denkmodelle zu enttarnen, zu benennen und abzuändern (vgl. Schäfer 2005, 16ff).
Hurrelmann definiert den Begriff der Erziehung wie folgt:
„Erziehung ist die soziale Interaktion zwischen Menschen, bei der ein Erwach- sener planvoll und zielgerichtet versucht, bei einem Kind unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und der persönlichen Eigenart des Kindes erwünschtes Verhal- ten zu entfalten oder zu stärken. Erziehung ist ein Bestandteil des umfassenden Sozialisationsprozesses; der Bestandteil nämlich, bei dem von Erwachsenen versucht wird, bewusst in den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung von Kin-dern einzugreifen - mit dem Ziel, sie zu selbstständigen, leistungsfähigen und verantwortungsvollen Menschen zu bilden.“ (Hurrelmann 1994, S. 13)
Während Hurrelmann Erziehung als beabsichtigt und planvoll von Erwachsenen her- beigeführt betrachtet, gibt es breiter angelegte Auffassungen des Begriffes. Hierbei herrscht die Ansicht, dass Erziehung die absichtsvolle, aber auch unbeabsichtigte Be- einflussung von Menschen umfasst. Dieser Prozess findet sowohl im Generationsver- hältnis (Erwachsene gegenüber Kindern) als auch umgekehrt statt. Auch gleichaltrige Menschen (Kinder untereinander, Geschwister) können erzieherisch aufeinander ein- wirken (vgl.Braches-Chyrek et al. 2014, 33f). Die Beeinflussung kann sprachlich-symbolisch, aber auch leiblich-sinnlich erfolgen, und bedarf einer emotionalen Zuwen- dung und Bindung (vgl. Rißmann 2015, 116f). Erziehung entsteht somit im Kontext einer Beziehung von zwei Menschen zueinander.
Der Begriff Betreuung beschreibt die „umfassende Sorge für das leibliche und seeli- sche Wohl und das Wohlbefinden der Kinder, Zeit für Kinder, Aufmerksamkeit auf ihre Signale und Bedürfnisse, Zuwendung und Anerkennung“ (Braches-Chyrek et al. 2014, 34f). Dieser Aufgabe widmen sich sowohl Eltern als auch andere Betreuungspersonen und professionelle Betreuungskräfte wie Erzieher.
Somit stehen Bildung, Erziehung und Betreuung in der institutionellen Kinderbetreu- ung in Wechselwirkung zueinander. Sie wird beeinflusst vom Kind als Individuum, der Beziehung zwischen Kind und Erzieher, den Gegebenheiten (Rahmenbedingungen), der Ansicht und Ausbildung des Erziehers, dem Kontext der Umgebung und vielen weiteren Faktoren.
2.1 Definition
Unter Beachtung der ausgeführten Aspekte wird der vorliegenden Arbeit die folgende Definition von FBBE zu Grunde gelegt.
Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung befasst sich mit dem System der in- stitutionellen Tagesbetreuung von Kindern im Vorschulalter. Diese fachlich fundierte Aufgabe von Erwachsenen geschieht unter Beachtung der individuellen Lebensum- stände des Kindes. Sein Ziel ist die Förderung eines gesunden Aufwachsens von Kin- dern hinsichtlich ihrer sozialen, emotionalen, kognitiven, körperlichen sowie psychi- schen Entwicklung und trägt damit dazu bei, das Kind auf seine Zukunft vorzubereiten sowie Chancengerechtigkeit herzustellen. Es soll ihm dabei verhelfen, zu einer eigen- verantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit heranzuwachsen. Die FBBE hat Auswirkung auf die Vereinbarkeit Familie und Beruf.
Folgendes wird der Definition angemerkt:
- Diese Arbeit bezieht sich auf die institutionelle FBBE und bezieht sich somit lediglich auf Einrichtungen der Kindertagesbetreuung
- Dieser Definition wird der vorschulische Bereich zugrunde gelegt, wobei die Kin- dergartenstufe in der Schweiz bzw. die Eingangsstufe durch ihre Zielsetzung, kindergartenähnlich zu sein, damit einbezogen wird (siehe Kapitel 4.1.2)
- FBBE ist kontextabhängig, bezieht sich also immer auf die individuellen Gege- benheiten einer Betreuungssituation
2.2 UN-Kinderrechtskonvention
Die UN-Kinderrechtskonvention wurde von 196 Staaten ratifiziert. Die Schweiz hat die Konvention im Jahr 1990 ratifiziert, Deutschland im Jahr 1992. Die insgesamt 54 Arti- kel in der Kinderrechtskonvention sind in drei Teile aufgeteilt: Kinderrechte, deren Durchsetzung und das Prozedere der Unterzeichnung der Konvention.
Im ersten Teil findet sich neben dem Recht auf Identität, Entwicklung, Mitbestimmung, Schutz vor Gewalt auch das Recht auf Bildung. Dies ist im Artikel 28 wie folgt beschrie- ben:
„ Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Bildung an; um die Verwirklichung dieses Rechts auf der Grundlage der Chancengleichheit fort- schreitend zu erreichen, werden sie insbesondere
a) den Besuch der Grundschule für alle zur Pflicht und unentgeltlich machen;“ (Artikel 28 Absatz 1 Satz a UN-Kinderrechtskonvention. Artikel 28 UN Kinder- rechtskonvention).
Diesem Verständnis liegt Artikel 3 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention zu Grunde, der alle Kinder betreffenden Maßnahmen unter den Gesichtspunkt deren Wohles stellt.
„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbe- hörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ (Artikel 3 Absatz 1 UN- Kinderrechtskonvention)
Beide Länder unterliegen somit der Konvention, die sich zunächst auf den Besuch der Grund- und weiterführenden Schulen bezieht. Das Recht auf Bildung wird somit in di- rekter Verbindung zur Chancengleichheit gesehen.
In Erweiterung der Forderungen auf Bildung für Kinder ab der Einschulung hat die UNESCO die Globale Nachhaltigkeitsagenda 2030 verabschiedet. Das 2015 beschlossene gemeinsame Ziel der Weltgemeinschaft lautet: „Bis 2030 für alle Men- schen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherstellen sowie Mög- lichkeiten zum lebenslangen Lernen fördern” (Deutsche UNESCO Kommission, S. 1). Bildung steht somit im Mittelpunkt der Agenda. Zudem wird die Bedeutung qualitativ hochwertiger Bildungsangebote betont. „Ein integraler Bestandteil des Rechts auf Bil- dung ist es sicherzustellen, dass Bildung von ausreichender Qualität ist“ (Deutsche UNESCO Kommission, S. 9).
Zur Erreichung der Ziele werden 7 Unterziele sowie 3 Implementierungsmechanismen aufgeführt. Das Unterziel 4.2 bezieht sich auf die FBBE: „Bis 2030 allen Mädchen und Jungen den Zugang zu hochwertiger frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung sichern, die ihnen einen erfolgreichen Übergang in die Schule ermöglicht“ (Deutsche UNESCO Kommission, S. 12). Als mögliche Umsetzungsstrategie wird vorgeschlagen, mindestens ein Jahr kostenlose vorschulische Bildung zu garantieren. Hierbei soll ein Augenmerk darauf gerichtet werden, benachteiligte Kinder zu erreichen. Dabei soll durch Evaluation die Qualität gesichert werden.
Der Globalen Nachhaltigkeitsagenda haben sich sowohl Deutschland als auch die Schweiz verpflichtet.
2.3 Auswirkungen von frühpädagogischen Einrichtungen auf Kinder
Die Starting-Strong-Studienreihe befasst sich seit dem Jahr 2001 mit dem Stand der frühkindlichen Bildung in den OECD-Mitgliedsstaaten1, zu denen auch Deutschland und die Schweiz gehören. In der Studie wird festgestellt, dass die ersten Jahre in der kindlichen Entwicklung bedeutsam für ihre spätere Entwicklung sind. Hierbei berufen sie sich auf neurowissenschaftliche Untersuchungen, die ein Entwicklungsfenster für die ersten Lebensjahre bestätigen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Sensible Phasen in der kindlichen Hirnentwicklung, nach OECD 2017b, S. 148
Abbildung 2 zeigt die sensiblen Phasen der kindlichen Hirnentwicklung. Es zeigt sich, dass der Bereich der emotionalen Kontrolle seinen Höhepunkt zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr hat und bis zum vierten Lebensjahr zurückgeht, um auf dem gleichen Level zu verbleiben (vgl. OECD 2017b, S. 149). Auch der Bereich der Spra- che weist in den ersten Lebensjahren eine besonders hohe Sensitivität auf und ist offen für Anregungen. Somit trägt ein anregungsreiches Umfeld, in denen die Kinder auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Lernangebote erhalten, zur Hirnentwicklung in den aufgezeigten Arealen bei. Die Studie zieht daraufhin Parallelen zu den Ergebnissen der PISA-Studie. Im Durchschnitt schnitten in der PISA-Studie diejenigen Schüler bes- ser ab, die mindestens ein Jahr eine vorschulische Bildungseinrichtung besuchten (vgl. OECD 2017b, S. 149).
Als erwiesen gilt, so Burger, dass der Besuch von FBBE-Einrichtungen einen positiven Einfluss auf die kognitive Entwicklung von Kindern haben, der Einfluss auf die soziale Entwicklung jedoch unterschiedlich ausfällt. Hierbei zeichnen sich „kaum allgemeine Tendenzen in den Wirkungen vorschulischer Programme ab“ (Burger 2010, S. 273). Entsprechende Studien brachten keine gesicherten Ergebnisse. Laut Burger ist jedoch erkennbar, dass ein starker Zusammenhang zwischen nachgewiesenen positiven Ef- fekten auf die soziale Entwicklung im Hinblick auf den Besuch einer Einrichtung der FBBE dann erkennbar ist, wenn das Angebot der FBBE qualitativ hochwertig ist. Hier- bei seien vor allen ein guter Betreuungsschlüssel, gut ausgebildetes Personal sowie beträchtliche finanzielle Ressourcen genannt. Diese Projekte seien darauf angelegt, eben diesen Zusammenhang zu belegen (vgl. Burger 2010, S. 275). Die in Deutsch- land durchgeführte IGLU-Studie reiht sich mit ihren Ergebnissen in diese Erkenntnis ein. Kinder mit mindestens zweijährigem Besuch institutioneller Früh- und Elemen- tarerziehung weisen eine höhere Leseleitung auf als Kinder mit weniger oder keiner besuchten vorschulischen Einrichtung. Ebenfalls wurde festgestellt, dass die sprachli- che und schulische Entwicklung von Kindern, die eine qualitativ hochwertige vorschu- lische Einrichtung besuchten, günstiger verliefen als bei niedrig qualifizierten Vorschul- angeboten (vgl. Stamm und Edelmann 2010, S. 155).
2.4 Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Betreuung
Auf der im Jahr 2011 stattgefundenen Tagung „Neue Wege zur Bildungsgerechtigkeit“ gingen führende internationale Wissenschaftler den Wirkungsmechanismen sozialer Herkunftseffekte im Bildungsverlauf nach. „Zugrunde liegt die Annahme der Einladen- den, dass ungleiche Bildungschancen nicht nur ein moralisches, sondern auch ein ord- nungspolitisches und volkswirtschaftliches Problem darstellen, das es zu lösen gilt“ (Deißner 2013, S. 9). Das erwähnte volkswirtschaftliche Problem liegt darin begründet, dass die Chancengerechtigkeit sich direkt auf Bildungslaufbahnen auswirkt. Der Be- griff der Chancengerechtigkeit wird im Kapitel 5 näher betrachtet. Investitionen in die frühkindliche Förderung bedeuten mehr Effizienz in der Wirtschaft. Dies bedeutet kon- kret: Erhöhung des Wirtschaftswachstums, Erhöhung der Chancengleichheit und Ver- ringerung des Gehaltsunterschieds zwischen Frauen und Männern (vgl. Anger und Plünnecke 2008, S. 4). Plünnecke stellte fest, dass ein höheres Bildungsniveau der Bevölkerung zu mehr Wirtschaftswachstum führen kann (ebenda S. 9).
Auch die Erwerbstätigkeit von Frauen hat direkte Auswirkungen auf das Marktwachs- tum. Frauen haben, bedingt durch Mutterschafts- oder Elternzeiten, höhere Abwesen- heitszeiten vom Arbeitsmarkt. Im Jahr 2003 haben in Deutschland 90 Prozent der Müt- ter Elternzeit in Anspruch genommen, aber nur ca. 4,9 Prozent der Männer. Je länger die Auszeit vom Arbeitsmarkt ausfällt, desto weniger Humankapital2 steht dem Arbeits- markt zur Verfügung. Dies zieht auch Nachteile bei der Lohnentwicklung nach sich (vgl. Anger und Plünnecke 2008, S. 17). Somit stellt der Besuch einer Kindertages- stätte eine Verringerung solcher Nachteile für Frauen dar.
Laut Pechar gibt es einen „erweiterten Begriff von Humankapital“ (Pechar 2006, S. 40). Denn neben der Leistungsfähigkeit eines Menschen sollte auch ein weiter gefasstes Humankapital ausdifferenziert werden. Hier geht es um Einstellungen, Motive und komplexere intellektuelle Fähigkeiten. Dies sind die zugrundeliegenden Fähigkeiten zur Nutzung und Entwicklung der Leistungsfähigkeit (vgl. Pechar 2006, 40f).
Hier heraus ergeben sich wiederum wirtschaftliche Vorteile für den Arbeitstätigen, denn sein Einkommen ist höher und das Risiko, arbeitslos zu werden, sinkt. Auch Un- ternehmen und die Gesamtwirtschaft profitieren davon. Die immateriellen Vorteile lie- gen darin, dass das Individuum zufriedener ist und sich wohler fühlt. Auch die Gesell- schaft profitiert davon: Das Individuum bringt sich mehr in die Gemeinschaft ein und die Kriminalitätsrate ist geringer (ebenda, S. 41). Die frühe Fokussierung auf das Ziel der Chancengerechtigkeit bringt somit Vorteile für das direkte und erweiterte Human- kapital. Ein gut ausgebautes Netz der Kindetagesbetreuung ermöglicht es Frauen, schneller und mit höherem Stundenanteil wieder in die Berufstätigkeit zu gehen und verringert Lohnnachteile durch lange Abwesenheitszeiten aus der Erwerbstätigkeit.
3. Ergebnisse der OECD
In nahezu jeder Publikation im Bereich der frühkindlichen Bildung findet man den Hin- weis auf den Zusammenhang der Ergebnisse der PISA-Studien und der Bedeutung der frühkindlichen Bildung als erster Stufe des Bildungssystems. Dieser Paradigmen- wechsel vollzog sich langsam, aber stetig seit dem Jahr 2001, als erstmals die Rede vom PISA-Schock war. Aus diesem Grund wird nun folgend betrachtet, wie der PISA- Test durchgeführt wurde. Ausgewählte Ergebnisse der Länder Deutschland und Schweiz werden präsentiert, und die Pisa-Studie wird kritisch betrachtet.
3.1 Pisa Ergebnisse beider Länder
Diskutiert man den Stellenwert der institutionellen FBBE im Jahr 2018 kommt man nicht umhin, die Entwicklungen der letzten zwei Dekaden zu betrachten. Der bereits erwähnte Paradigmenwechsel der FBBE von der Betreuungseinrichtung hin zur Bil- dungseinrichtung vollzog sich langsam, hatte seinen Ursprung jedoch im vielzitierten Pisa-Schock des Jahres 2011. Die PISA-Studie („Programme for international Student Assessment“ ist ein Programm, welches zyklisch basale Kompetenzen der nachwach- senden Generation erfasst. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) führt dieses Programm, das von allen Mitgliedsstaaten finanziert und verantwortet wird (vgl. Baumert 2002, S. 11). Ziel der Studie ist es, Prozess- und Ertragsindikatoren, die auf politisch-administrativer Ebene für die Verbesserung der jeweiligen nationalen Bildungssysteme genutzt werden, bereit zu stellen. Dazu werden die alltags- und berufsrelevanten Kenntnisse und Fähigkeiten 15-Jähriger gemessen. Insgesamt 32 Staaten nehmen an der Studie teil. Gemessen wurden im Jahr 2000 die Ergebnisse von insgesamt 180.000 15-Jähriger hinsichtlich ihrer:
- Lesekompetenz
- Mathematischen Grundbildung
- Naturwissenschaftlichen Grundbildung
- Fächerübergreifenden Kompetenzen
(ebenda)
Methodisch wurden den Schülern Tests vorgelegt, die sowohl aus Multiple-Choice- Fragen als auch aus frei zu beantwortenden Fragen bestanden. Zudem beantwortete jeder teilnehmende Schüler einen Hintergrundfragebogen. Die jeweiligen Schulleiter füllten einen Schulfragebogen aus. Der Fokus der Untersuchung im Jahr 2000 lag auf der Lesekompetenz, die weiteren Kompetenzen wurden zyklisch in einem Drei-Jahres- Rhythmus näher beleuchtet. Die Ergebnisse sollten ein Profil der Kompetenzen der untersuchten Schüler sein (vgl. Baumert 2002, 12f).
Die PISA-Studie und ihre Ergebnisse sorgten für große Aufmerksamkeit und für wei- tergehende Diskussionen und politische Schlussfolgerungen durch „OECD Experten und Expertinnen auf Konferenzen und Veranstaltungen mit Akteuren aus Bildungspo- litik, Bildungspraxis und Bildungsforschung“ (Bloem 2016, S. 11). Die OECD nahm dabei als verantwortliche Organisation der Studie als „Sprachrohr“ (ebenda, S. 12) ei- nen bedeutsamen Platz in der globalen Bildungspolitikberatung ein. Das Abschneiden der Teilnehmerländer ist hinsichtlich der gesellschaftlichen Veränderung zur Wissens- gesellschaft ein Indikator der Stellung der Länder. Das daraus entstehende Potential für die Bildung von Humankapital ist bedeutend für die volkswirtschaftliche Zukunft eines jeden Landes (vgl. Bloem 2016, S. 67). Dies ist eine Erklärung für das ebenfalls große Interesse und die Anerkennung der Studie seitens Politik und Wissenschaft. Bloem bezeichnet Pisa „als Instrument des Regierens“ (Bloem 2016, S. 193) und be- schreibt, welche Mechanismen die OECD schrittweise in Kraft gesetzt hat, um dieses machtvolle Regierungselement zu lancieren. Neben der Einbindung externer Experten in die OECD sind dies die Bündelung der Nutzung der PISA-Daten, die steigende Zahl an Publikationen und Mitarbeiterinnen und auch die Immunisierung gegenüber der Kri- tik an PISA (vgl. Bloem 2016, S. 193). Auf die Kritik und die Reaktionen seitens der OECD wird im Kapitel 3.3 eingegangen. Die Rolle der PISA-Studie wurde mit den Jah- ren zunehmend bedeutsam in Wissenschaft, Politik und Beratung.
3.2 Gegenüberstellung der Ergebnisse
Die Ergebnisse der im Jahr 2000 durchgeführten und im Jahr 2001 veröffentlichten Studie der Länder Deutschland und Schweiz werden in Abbildung 11 (Anhang 5) dar- gestellt. Der Mittelwert der jeweiligen Ergebnisse der drei Bereiche Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften der beiden Länder wurden in gruppierten Säu- len dargestellt, der OECD-Durchschnitt wurde mittels einer Horizontale dargestellt. Es zeigt sich, dass Deutschland in allen drei Kompetenzbereichen signifikant unterhalb und die Schweiz lediglich im Bereich Mathematik oberhalb des OECD-Durchschnitts liegt: Folgend werden die drei Kompetenzbereiche und das Abschneiden der beiden Länder kurz erläutert.
Leseleistung
Vor allem die Leseleistung der deutschen Schüler ist mit einem Wert von 484 eher niedrig angesiedelt. Die Leistungen wurden zur besseren Einordnung in Kompetenz- stufen gruppiert, je nach erreichtem Wert. Die deutschen Schüler lagen im Mittel somit in der Kompetenzstufe III (von insgesamt fünf Kompetenzstufen) (vgl. Baumert 2002, 60f). Dies ist insofern gravierend, da das Lesen eine Schlüsselkompetenz darstellt. Es ist eine grundlegende Kommunikationsform, mit denen sich Schüler Wissen aneignen und es verwalten können. Auch die Teilhabe am sozialen Leben und den kulturellen Gütern wird durch die Kulturtechnik Lesen gesichert (ebenda S. 56). Die Schweizer Schüler liegen mit erreichten 494 Punkten über dem deutschen Durchschnitt, errei- chen damit jedoch ebenfalls die Kompetenzstufe III.
Leistung Mathematik
Die Deutschen Schüler liegen mit den mittleren Werten der Leistung in Mathematik ebenfalls unter dem OECD-Durchschnitt, die Schweizer Schüler hingegen erreichen mit 529 Punkten einen Mittelwert, der deutlich über dem Durchschnitt der OECD liegt.
Leistung Naturwissenschaften
In den Naturwissenschaften sind die Leistungen der deutschen Schüler, gemessen am OECD-Durchschnitt, analog zu den vorherigen Ergebnissen mittelmäßig. Die Schweizer Schüler liegen mit den erreichten 496 Punkten knapp unter dem PISA- Durchschnitt.
Die aufgeführten Werte stellen die Mittelwerte dar, die tatsächliche Streuung der Leis- tungen in Abhängigkeit zum sozioökonomischen Status waren gravierend. Diese Er- gebnisse führten in vielen Ländern, unter anderem in Deutschland und der Schweiz, zum so genannten PISA-Schock. Das mittlere bis schlechte Abschneiden der Schüler in Verbindung mit der Streuung der Werte und der damit verbundenen „Koppelung von sozialer Herkunft und den gemessenen Leistungsdefiziten“ (Barz 2012, S. 2) bestürzte Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Wie konnte es in hoch entwickelten Industrie- nationen wie Deutschland und der Schweiz soweit kommen?
Das Presseecho in Deutschland war vernichtend. Der Spiegel titelte „Sind deutsche Schüler doof?“ (Der Spiegel 2001, o.S.) und schrieb: „Die Pisa-Ergebnisse der Schul- leistungen in Deutschland dokumentieren seit Dienstag vergangener Woche eine neue deutsche Bildungskatastrophe“ (ebenda). Der Fokus forderte „Ran an die Knirpse“ (Fo- kus 2001, o.S.) und sah die mangelnde vorschulische Bildung vieler Kinder hierzu- lande als Mitverursacher der Misere. Ernst Pöppel, Hirnforscher an der Münchner Uni- versität, kommt in diesem Artikel zu Wort und klagte an: „Die vorschulische Erziehung in Deutschland ist katastrophal“ (ebenda). Die Ergebnisse der Studie sowie die Dis- kussion um Gegenmaßnahmen und Begründungen beherrschten lange Zeit die deut- sche Presse.
Auch die Presseschlagzeilen in der Schweiz als Reaktion auf die PISA-Ergebnisse im Jahr 2000 waren eindeutig, getitelt wurde unter anderen: „Schlechte Noten für Schwei- zer Schüler“, „Schweizer Jugendliche sind nur Mittelmass“, „Lesekompetenz ist eine Frage der sozialen Herkunft“, „In der Schweiz kann einer von fünf Schülern am Ende seiner Schullaufbahn kaum lesen“ (Übersetzt aus dem Französischem) (Bundesamt für Statistik 2008, S. 5). Die Bevölkerung wurde somit für das Abschneiden der Schwei- zer Schüler sensibilisiert, vor allem hinsichtlich der Lesekompetenz (ebenda).
Die PISA-Studie wurde seit dem Jahr 2000 in einem dreijährlichen Turnus durchge- führt. Folgend sollen nun die Ergebnisse der ersten Studie im Jahr 2000 und der letz- ten Studie im Jahr 2015 der Länder Deutschland und Schweiz gegenübergestellt werden, um die Entwicklung der beiden Länder von der ersten zur letzten Studie zu verdeutlichen.
[...]
1 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung besteht derzeit aus 36 Mitglieds- staaten und verfolgt das Ziel, „eine Politik zu befördern, die das Leben der Menschen weltweit in wirt- schaftlicher und sozialer Hinsicht verbessert.“ OECD 2018.
2 Als Humankapital wird folgendes bezeichnet: „Das auf Ausbildung und Erziehung beruhende Leis- tungspotenzial der Arbeitskräfte (Arbeitsvermögen). Der Begriff Humankapital erklärt sich aus den zur Ausbildung dieser Fähigkeiten hohen finanziellen Aufwendungen und der damit geschaffenen Ertrags- kraft“ (Wohltmann 2018). Das damit erworbene Humankapital bringt demnach mit seiner Ertragskraft wiederum Erträge in die Wirtschaft.
- Arbeit zitieren
- Angela Hellmig (Autor:in), 2018, Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung im Ländervergleich Schweiz und Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/470172
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