Im August 2004 veröffentlichte der größte Musicalbetreiber in Deutschland, die Stage Holding Deutschland, die Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativumfrage zum Thema Musical. Nach vorangegangenen Meldungen über Rekordvorverkaufszahlen der Musicals „Der König der Löwen“ und „Mamma Mia!“ folgte damit der offizielle Beleg für einen erneuten Aufschwung in der Musicalbranche. Die Besucherzahlen nähern sich demnach wieder den Spitzenwerten der Blütezeit Mitte der neunziger Jahre und über 40% der deutschen Bundesbürger gaben an, innerhalb des nächsten Jahres ein Musical besuchen zu wollen. Zudem wurde auf die enorme wirtschaftliche Bedeutung der Musical-Touristen für die jeweiligen Musicalstandorte verwiesen.
Musicals gehören weltweit zu den beliebtesten Freizeit- und Unterhaltungsangeboten. Nach den klassischen Musicalländern USA und Großbritannien mit ihren berühmten Spielstätten am New Yorker Broadway und im Londoner West End ist Deutschland der drittgrößte Musicalmarkt der Welt. So laufen in der Bundesrepublik derzeit neun Großproduktionen und zahlreiche Tournee- und Kleinbühnenproduktionen. Und gemäß der Stage Holding-Umfrage gibt es alleine in Deutschland 41,2 Millionen Musical-Interessierte. Angesichts dieser Zahlen ist von einer Fülle wissenschaftlich fundierter Arbeiten zum Thema Musical im deutschsprachigen Raum auszugehen. Bei der umfassenden Literaturrecherche zu dieser Arbeit hat sich jedoch herausgestellt, dass bisher sehr wenig Material – größtenteils wurden nur Teilaspekte näher untersucht – veröffentlicht wurde. Dem gegenüber steht eine Flut an Musicalführern, welche neben einer knappen Beschreibung des Inhalts der aktuellen Musicals in Deutschland, häufig Hinweise zu Anreise, Ticketbuchung, nahe gelegenen Hotels und Restaurants beinhalten. Das lässt auf ein großes Interesse von seiten der Bevölkerung an dieser Musiktheatergattung schließen. Und in der Tat existiert im deutschsprachigen Raum eine Reisetätigkeit, welche in dieser Ausprägung weder in den USA noch in Großbritannien zu beobachten ist:
er Musicaltourismus.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Freizeitmarkt in Deutschland
2.1 Erlebnis-Tourismus
2.2 Freizeitgroßanlagen
3 Entwicklung und Definition des Genre Musical
3.1 Entwicklung des Genre Musical
3.2 Definition und Abgrenzung der Gattung
4 Etablierung der Gattung im deutschsprachigen Raum
4.1 Theaterformen in Deutschland
4.2 Entwicklung des Musicals im deutschen Sprachraum
4.3 Musical – Kunst oder Kommerz?
5 Musical-Tourismus
5.1 Besucherstrukturen
5.2 Erfolgsindikatoren
5.3 Vermarktung
5.4 Wirtschaftliche Auswirkungen
6 Fankult und Umfrage zu Musical-Tourismus
7 Schlussbemerkung
Anhang mit Anhangsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Tabelle 2:
1 Einleitung
Im August 2004 veröffentlichte der größte Musicalbetreiber in Deutschland, die Stage Holding Deutschland, die Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativ-umfrage zum Thema Musical. Nach vorangegangenen Meldungen über Rekordvorverkaufszahlen der Musicals „Der König der Löwen“ und „Mamma Mia!“ folgte damit der offizielle Beleg für einen erneuten Aufschwung in der Musicalbranche. Die Besucherzahlen nähern sich demnach wieder den Spitzenwerten der Blütezeit Mitte der neunziger Jahre und über 40% der deutschen Bundesbürger gaben an, innerhalb des nächsten Jahres ein Musical besuchen zu wollen. Zudem wurde auf die enorme wirtschaftliche Bedeutung der Musical-Touristen für die jeweiligen Musicalstandorte verwiesen.[1]
Musicals gehören weltweit zu den beliebtesten Freizeit- und Unterhaltungs-angeboten. Nach den klassischen Musicalländern USA und Großbritannien mit ihren berühmten Spielstätten am New Yorker Broadway und im Londoner West End ist Deutschland der drittgrößte Musicalmarkt der Welt. So laufen in der Bundesrepublik derzeit neun Großproduktionen und zahlreiche Tournee- und Kleinbühnenproduktionen. Und gemäß der Stage Holding-Umfrage gibt es alleine in Deutschland 41,2 Millionen Musical-Interessierte. Angesichts dieser Zahlen ist von einer Fülle wissenschaftlich fundierter Arbeiten zum Thema Musical im deutschsprachigen Raum auszugehen. Bei der umfassenden Literaturrecherche zu dieser Arbeit hat sich jedoch herausgestellt, dass bisher sehr wenig Material – größtenteils wurden nur Teilaspekte näher untersucht – ver-öffentlicht wurde. Dem gegenüber steht eine Flut an Musicalführern, welche neben einer knappen Beschreibung des Inhalts der aktuellen Musicals in Deutschland, häufig Hinweise zu Anreise, Ticketbuchung, nahe gelegenen Hotels und Restaurants beinhalten.[2] Das lässt auf ein großes Interesse von seiten der Bevölkerung an dieser Musiktheatergattung schließen. Und in der Tat existiert im deutschsprachigen Raum eine Reisetätigkeit, welche in dieser Ausprägung weder in den USA noch in Großbritannien zu beobachten ist: Der Musicaltourismus.
In der vorliegenden Arbeit soll diese spezielle Form des Kultur- bzw. Städte-Tourismus näher untersucht werden. Welche Faktoren begünstigten die Entwicklung? Fand eine langsame oder sprunghafte Etablierung statt? Handelt es sich um eine Spezialform, welche nur eine kleine Minderheit der Be-völkerung präferiert? Sind Musicals im Zuge des aufkommenden Erlebnis-Tourismus als Bestandteil des deutschen Freizeitmarktes zu sehen? Welche Rolle spielen die Musicaltheater für die jeweiligen Standorte? Und welche Bedeutung haben sie für die Tourismusbranche? Die zentrale Fragestellung in diesem Zusammenhang könnte lauten: Besitzen Musicalgroßproduktionen einen hinreichend hohen Unterhaltungs- und Erlebniswert, der es ihnen ermöglicht, sich auf dem deutschen Freizeitmarkt langfristig zu etablieren?
Obwohl die Bundesrepublik Deutschland den drittgrößten Musicalmarkt darstellt und im folgenden hauptsächlich auf die Entwicklung in Deutschland einge-gangen wird, kann der Einfluss Österreichs nicht außer Acht gelassen werden. Österreich verfügt zwar nur über einen Musicalstandort – Wien – doch kamen die entscheidenden Impulse für die Etablierung im deutschsprachigen Raum aus dieser Stadt. Zudem wurde versucht, auch die Musicalszene in der Schweiz in die Untersuchung aufzunehmen, jedoch gestaltete sich dies als äußerst schwierig. In der Fachliteratur ist sehr wenig über schweizer Musicalpro-duktionen zu finden und die meisten Theaterbetreiber lehnten es ab, Material in jedweder Form für diese Arbeit zur Verfügung zu stellen. Somit bezieht sich die Analyse nahezu ausschließlich auf Deutschland und Österreich.
Die grundlegenden Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Musical-Tourismus werden in Kapitel 2 knapp vorgestellt. Es wird hierbei Bezug genommen auf die wachsende Bedeutung der Freizeit in der deutschen Gesellschaft und den damit verbundenen steigenden Freizeitkonsum. Welchen Einfluss der Wandel zur Erlebnisgesellschaft auf die Tourismusbranche hatte, wird in dem Unterpunkt Erlebnis-Tourismus angesprochen. Der Freizeitkonsum in sogenannten Freizeitgroßanlagen bildet eine Hinführung zum eigentlichen Hauptthema, da die Musicaltheater selbst zu dieser Art von Freizeitanlagen gezählt werden. Im folgenden Kapitel stehen allgemeine Informationen zum Theatergenre Musical im Mittelpunkt. Zum einen wird die Entstehungs-
geschichte näher beleuchtet und zum anderen das Genre gegenüber den übrigen Musiktheatergattungen abgegrenzt. Kapitel 4 befasst sich mit der Etablierung der Gattung im deutschsprachigen Raum und zeigt somit in gewisser Weise die Entstehung dieser speziellen Reisetätigkeit auf. Einleitend werden dazu die verschiedenen Formen des Theaterbetriebs vorgestellt. Anschließend wird die Entwicklung des Genre Musical im deutschen Sprachraum ausführlich beschrieben und auf die gravierenden Unterschiede zu anderen Theatergattungen verwiesen. In diesem Zusammenhang thematisiert der abschließende Abschnitt die immerwährende Diskussion über die Unvereinbarkeit von Kunst und Kommerz. Dabei soll vor allem auf die Verbindung zu dem veränderten Kulturbegriff in der heutigen Erlebnis-gesellschaft verwiesen werden. Der Hauptteil der Arbeit konzentriert sich auf die verschiedenen Anzeichen, die auf einen ernstzunehmenden Einfluss des Musical-Tourismus auf die unterschiedlichsten Bereiche der Tourismusbranche hindeuten. An erster Stelle steht dabei die Analyse der Besucherstrukturen mit Untersuchung der soziodemographischen Daten und der Reisemotive von Musical-Touristen. Unter der Überschrift „Erfolgsindikatoren“ sind sämtliche Zahlen zusammengefasst, die den Verlauf der Entwicklung dokumentieren. Darunter sind neben der Anzahl an Theatern, Produktionen und Sitzplätzen vor allem Besucherzahlen und Angaben über Laufzeit und Auslastung zu verstehen. Welche Rolle die neuen Vermarktungsstrategien im Zuge der Etablierung als erlebnisorientiertes Freizeitangebot spielen, wird in einem weiteren Unterpunkt näher erläutert. Anhand einiger Beispiele werden in Kapitel 5.4 die ökonomische Bedeutung der Musicalgroßproduktionen und die wirtschaftlichen Auswirkungen des Musical-Tourismus analysiert. In dem abschließenden Kapitel 6 mit dem Titel Fankult werden die gewonnenen Erkenntnisse auf eine von der Verfasserin durchgeführten Online-Umfrage unter Musical-Fans angewandt und überprüft. Zum Abschluss der Arbeit erfolgen eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse und ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung des Musical-Tourismus im deutschsprachigen Raum.
2 Freizeitmarkt in Deutschland
Ursprünglich diente die Freizeit durch Erholung und Regeneration der Erhaltung der Arbeitskraft. Aufgrund des umfassenden Strukturwandels verfügen die Menschen in der westlichen Welt heute über mehr Geld, mehr Bildung, mehr Wohlstand und mehr Freizeit. Das halbe Leben kann ein deutscher Bürger als Freizeit – im Sinne von erwerbsarbeitsfreier Zeit – nach eigenen Vorstellungen gestalten.[3] Durch die hohe Bereitschaft das frei verfügbare Einkommen in eine sinnvolle Freizeitgestaltung zu investieren, ist ein sehr vielfältiger Freizeitmarkt entstanden. Die Freizeitindustrie gehört zu den Wachstumsfeldern der Wirtschaft.[4] Abstrakt betrachtet, werden im Freizeitmarkt Güter und Dienstleistungen angeboten, welche dazu dienen das Bedürfnis der Menschen nach den verschiedensten Formen der Freizeitbeschäftigung zu befriedigen. Dem gegenüber steht eine Nachfrage, die von keinem – im eigentlichen Sinn – lebensnotwendigen Bedürfnis hervorgerufen wird. „Der Freizeitmarkt kommt nicht so sehr durch das freizeitorientierte Waren- und Dienstleistungsangebot, das auf eine entsprechende Nachfrage reagiert, zustande, sondern durch die Wahlfreiheit der Menschen in und mit der Zeit sowie durch die Bewerbung von Anbietern um die freie Zeit der Menschen.“[5] Die vielfältigen Freizeitangebote erfüllen jedoch eine wichtige Aufgabe im Rahmen der sozialen Distinktion. Freizeitkonsum
- vermittelt soziale Erlebnisse durch Unterhaltung, Geselligkeit, Spiel, Fest, Feier und gemeinsame Unternehmungen;
- dient der sozialen Orientierung für Mitglieder einer Gruppe, die den gleichen oder ähnlichen Lebensstiel pflegen;
- fördert das soziale Prestige durch demonstrative Formen der Differenzierung und Abgrenzung, die gewollt sind oder sich zwangsläufig ergeben.[6]
Dadurch hat sich der Freizeitkonsum zu einem Milliardengeschäft entwickelt, von dem die verschiedensten Branchen profitieren. Die Möglichkeiten zur
Freizeitgestaltung vermehren sich kontinuierlich und die Reiseintensität ist in den letzten Jahren auf ein ungeahntes Niveau angestiegen. Es bietet sich mehr Wahlfreiheit als je zuvor. Während im Zuge der steigenden Arbeitslosenquote die Ausgaben für den privaten Verbrauch stagnieren bzw. teilweise schrumpfen, erhöht sich der Anteil des Freizeitbudgets weiterhin. Demzufolge können oder wollen die Menschen nicht auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach Unter-haltung in unterschiedlichster Form verzichten.[7] In den letzten Jahren hat sich die Freizeitindustrie immer mehr zu einer Erlebnisindustrie gewandelt. Den Freizeitbereichen Tourismus, Medien, Kultur, Sport und Spiel werden dabei Erlebniswerte zugeschrieben, die verschiedene Zielgruppen ansprechen. Der daraus entstehende Erlebnis-Tourismus wird in Kapitel 2.1 näher chara-kterisiert. Die Pluralisierung der Freizeitwünsche führte zu einer Erhöhung der Teilnehmerzahl auf der Anbieterseite. Heute treten neben der öffentlichen Hand auch gemeinnützige Institutionen und kommerzielle Unternehmen als Anbieter auf dem Freizeitmarkt auf. Den sehr stark erlebnisorientierten, neu ent-standenen Freizeitwünschen nehmen sich vor allem die privatwirtschaftlichen Unternehmen an. Diese schneiden ihre Produkte und Dienstleistungen entweder direkt auf den Freizeitmarkt zu oder bieten sie in multifunktionaler Form an, so dass sie sowohl Erwerbs- als auch Freizeitzwecken dienen können.[8] Die starke Zunahme des Massentourismus – hier vor allem der Trend zur Kurzurlaubsreise – und der Eintritt privater Anbieter mit Gewinnorientierung in den Freizeitmarkt, begünstigte die Etablierung sogenannter Freizeitgroß-anlagen. In welchen Ausprägungen diese Erlebnis- oder Kunstwelten in Deutschland zu finden sind, wird abschließend in 2.2 beleuchtet.
2.1 Erlebnis-Tourismus
In den neunziger Jahren avancierte der Begriff „Event“ bzw. „Erlebnis“ zum Schlüsselbegriff in nahezu allen Branchen der Freizeitindustrie. Gemäß Heinze ist die Bezeichnung „Erlebnis“ „begrifflich zwischen den Polen 'Sensation' und 'Erfahrung' einzuordnen; es definiert sich nicht am äußeren Anlaß wie die 'Sensation' (= das unerhörte, einmalige Ereignis), sondern an den Gefühlen, die etwas Äußeres im Individuum hervorrufen“.[9] Die Gefühle sind dabei weniger aufwühlend wie bei einer „Sensation“, jedoch ist der Effekt eines bleibenden Erinnerungswertes von Bedeutung. In Abgrenzung zu „Erfahrung“ muss das „Erlebnis“ eine Bindung an den äußeren Anlass aufweisen können. Eine „Erfahrung“ ist dagegen auch ohne außergewöhnliche Umwelteinflüsse möglich.[10] Somit sucht der Erlebnis-Tourist nach Ereignissen, welche ihm besondere positive Gefühle mit bleibendem Erinnerungswert bieten. Die Attraktivität eines Freizeitangebotes ist größtenteils abhängig von ihrem Erlebnis-charakter. Diese massive Ausrichtung auf die Erlebnisqualität des Angebots findet sich vor allem in den Branchen Tourismus, Medien, Kino, Kultur, Einkauf und Gastronomie. Die Konsumenten verlangen nach immer größeren, auf-regenderen und außergewöhnlicheren Events. Obwohl es sich dabei um subjektive Gefühle handelt, kristallisierten sich dennoch drei wichtige Erfolgsfaktoren für Events heraus:
- Imagination: Illusionierung und inszenierter Kulissenzauber gehören immer dazu – so echt wie möglich. Die Kulissen können schöner und beeindruckender als die Wirklichkeit sein. Imagination kommt ohne Szenerie und Dramaturgie nicht aus.
- Attraktion: Besondere Attraktionen machen das Ereignis unvergleichlich. Das Gefühl des Einmaligen und Außergewöhnlichen stellt sich ein, wozu auch der Kick des Überraschenden und Unvorhergesehen gehört.
- Perfektion: Die „everything-goes“-Devise verlangt Perfektion bis ins kleinste Detail. Alles wird, alles muss perfekt geplant werden. Es gilt das Null-Fehler-Prinzip.[11]
Diese hohe Erwartungshaltung hat eine Abkehr von der Monokultur vieler Freizeitangebote zur Folge. Erst mit einer Vielzahl von Erlebnisdimensionen ist es möglich die subjektiven Bedürfnisse der Freizeitkonsumenten anzusprechen und zu erfüllen. Erwartet wird ein Gesamterlebnis für alle Sinne: Augen, Ohren, Tastsinn, Gaumen und Geruch sollen möglichst gleichzeitig angesprochen werden und so ein emotionales Konsumerlebnis schaffen.[12] Diese Entwicklung betrifft sehr viele Bereiche: Anstelle von einzelnen Geschäften gibt es heute große Shoppingmalls, aus Schwimmbädern werden Erlebnisbäder, Hotel- und Gastronomiebetriebe werden aufwendig zu Themenhotels und –restaurants umgestaltet und überall in Deutschland entstehen künstliche Themen- und Freizeitparks. Anbieter traditioneller kultureller, unterhaltender und sportlicher Veranstaltungen sehen sich gezwungen ihre Angebote durch Einbau von zusätzlichen Erlebniselementen zu „eventisieren“[13], um weiterhin bestehen zu können. Als Beispiele seien an dieser Stelle Veranstaltungen wie „Die lange Nacht der Museen“, „Blade Night“ und Motto-Wochen in Diskotheken und Kneipen genannt. Für den Erlebnis-Tourismus (Event-Tourismus) in Deutschland sind neben Erlebnisparks vor allem kulturelle Events von Bedeutung. Die Freizeitkultur wird für immer breitere Bevölkerungsschichten attraktiv und spielt im Rahmen des Erlebniskonsums eine wichtige Rolle. Neben dem gesellschaftlichen Wandel haben dabei vor allem die soziale Komponente und der sinnliche Erlebnischarakter großes Gewicht. „Erlebnispsychologisch betrachtet werden zum Beispiel Museums- oder Konzertbesuche als traditionelle Kultur der 'reinen Bildung' empfunden, wenn sie allein genossen werden.“[14] Die Freizeitkultur beginnt mit dem „Unterhaltungswert“, welcher sich einstellt, sobald eine kulturelle Veranstaltung zusammen mit anderen erlebt wird.[15] Diese soziale Komponente des Miteinander-Sehens, -Hörens und –Redens ist ein fundamentales Element der erlebnisorientierten Freizeitbeschäftigungen. Hinzu kommt, dass die Menschen heute „Kultur und Unterhaltung hautnah be-greifen und als direkte sinnliche Berührung er-leben“[16] wollen. Dadurch, dass die Freizeitkultur die
Erwartungen nach außergewöhnlichen Erlebnissen erfüllen sollte, ist sie leichter, unterhaltsamer und erlebnisreicher als die Hochkultur. Je nach persönlicher Neigung sind die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ereignisse erstrebenswerte Reiseziele, solange sie genügend Erlebnisanreize bieten. Einen großen Einfluss auf die Reiseentscheidung haben zudem die Medien und das Marketing, die ein Ereignis zu einem einmaligen und außergewöhnlichen Event hochstilisieren, noch bevor es stattgefunden hat. Die Palette reicht dabei vom Champions League-Spitzenspiel „FC Bayern München – Real Madrid“, „Der Herr der Ringe“-Triple-Feature im Multiplex-Kino über die „Love-Parade“ in Berlin bis hin zu einem Konzert der „Drei Tenöre“ im Olympiastadion. Ständig zunehmende Freizeit, steigender Wohlstand und große Mobilität haben zur Folge, dass sich eine schier unvorstellbare Masse von Menschen in Deutschland täglich auf den Weg macht, um ihr Bedürfnis nach außergewöhnlichen Erlebnissen zu stillen. Gemäß Opaschowski leben diese Menschen nach dem Grundsatz „Wo viel los ist, da erlebt man auch viel“. Dabei verfolgen sie vor-rangig die Ziele aus der alltäglichen Routine auszubrechen und Langeweile zu vermeiden.[17] Der versprochene oder erhoffte Erlebniswert stellt im Erlebnis-Tourismus den Indikator für die akzeptierte Reiseentfernung und -dauer dar. Da es sich hierbei immer um individuelle Abwägungen nach subjektiven Kriterien handelt, können diese Entscheidungen mitunter auch gegen alle Vernunft ausfallen. Der Zeitaufwand wird immer in Verbindung mit dem Erlebniswert gesehen, das heißt je größer der Erlebnischarakter eingeschätzt wird, desto höher ist die Bereitschaft, dafür weite Strecken zurückzulegen.[18] Innerhalb Deutschlands profitieren neben den Einzelveranstaltungen vor allem künstliche Erlebniswelten – die zum größten Teil das ganze Jahr hindurch besucht werden können – vom Erlebnis-Tourismus. Auf die verschiedenen Formen dieser sogenannten Freizeitgroßanlagen wird im anschließenden Kapitel näher eingegangen.
2.2 Freizeitgroßanlagen
In seinem Buch „Kathedralen des 21. Jahrhunderts“ veröffentlichte Horst Opaschowski sehr beeindruckende Zahlen zum Freizeitverhalten der deutschen Bevölkerung: „Von allen Bundesbürgern über 14 Jahren haben bisher 12 Millionen Open-air-Events besucht, 13 Millionen Musicals und 16 Millionen Groß-kinos. 22 Millionen halten sich zeitweilig in Erlebnisbadelandschaften auf, 23 Millionen in Freizeitparks und 26 Millionen flanieren regelmäßig in Erlebnis-einkaufscentern.“[19] Besonders multifunktionale Freizeitanlagen haben demzufolge eine sehr große Anziehungskraft. In der Freizeitforschung werden diese unter dem Oberbegriff „Freizeitgroßanlagen“ oder „Erlebniswelten“ zusammengefasst. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung der Freizeitwünsche nimmt auch die Vielfalt der Freizeitanlagenkonzepte stetig zu. In Deutschland gibt es heute eine Vielzahl solcher Erlebniswelten, wie z.B.:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Kombination von Freizeitangeboten auf einem gemeinsamen Areal ist in Europa nicht neu. Als Vorbilder können Schlossgärten, Kurparks, Tiergärten und Jahrmärkte herangezogen werden, welche es bereits seit mehreren hundert Jahren gibt. Die ersten sogenannten Freizeitparks in Deutschland entstanden Mitte der siebziger Jahre und auch Spaßbäder gibt es seit den frühen achtziger Jahren.[20] Doch diese Einrichtungen waren zu Anfang relativ klein und entwickelten sich erst Schritt für Schritt zu jenen riesigen Erlebnis-welten wie sie heute zu finden sind. Das Freizeitverhalten der Deutschen hatte sich in der Zwischenzeit jedoch beträchtlich geändert und so wurden die neuen Vergnügungsstätten in den neunziger Jahren in bedeutend größeren Dimen-sionen gebaut. Dies betrifft vor allem die neu gebauten Musicaltheater und Multiplex-Kinos. Im folgenden werden die verschiedenen Formen der oben genannten Freizeitgroßanlagen näher beleuchtet.
Unter dem Sammelbegriff „Themen- / Freizeitparks“ sind stationäre Freizeit-einrichtungen zu spezifischen Themenbereichen wie Märchenparks, Westernstädte, Safariparks oder Space Parcs und sämtliche Vergnügungsparks ohne Motto zusammengefasst. Diese privat betriebenen Parks verfügen auf großen Flächen über vielfältige Vergnügungsmöglichkeiten: Fahrgeschäfte, Themenwelten, Spielplätze, Tiergehege, Shows, unterhaltsames Infotainment und eine Vielzahl von Gastronomieeinrichtungen. In gewisser Weise können auch die Tierparks zu dieser Gruppe gezählt werden. Ein Zoo muss heute mehr bieten als nur exotische Tiere in einem Käfig zu zeigen. Die Tiergehege werden zunehmen attraktiver gestaltet – sowohl für die Tiere als auch die Besucher – und ein Streichelzoo und gastronomische Einrichtungen sind Pflicht. Sehr großer Beliebtheit erfreuen sich zudem die Großaquarien mit ihren Glastunneln quer durch die Aquarien. Mit „Ferienzentren“ sind in diesem Fall zusammenhängend geplante und verwaltete Ferienanlagen mit überdachten Bade- und Einkaufskomplexen sowie in ansprechender Landschaft gelegene Bungalowsiedlungen gemeint. Mitunter befindet sich auch ein Erlebnisbad in den Ferienressorts. Die Erlebnisbäderlandschaft in Deutschland wird durch immer neue Facetten ständig erweitert. Die Palette reicht dabei von Spaßbädern mit verschiedenen Bewegungs- und Spielmöglichkeiten über Tropenbäder mit exotischen Kulissen – z.B. echten Palmen und Sandstränden – bis hin zu Wellnessbädern mit einem reichhaltigen Angebot an passiven Erholungsmöglichkeiten. Sogar Thermal-bäder werden heute in Erlebnislandschaften verwandelt, wie am Beispiel der „Therme Erding“ zu sehen ist. Großveranstaltungshallen oder Arenen, wozu auch die neuen Multifunktions-Fußballstadien mit schließbarem Dach gehören, eignen sich für nahe zu jeder Art von Sport- oder Kultur-Event. Daneben gibt es noch jene Hallen, die interessierten Besuchern die Möglichkeit zur Ausübung typischer „outdoor“-Sportarten bieten. Dazu gehören beispielsweise Indoor-Skianlagen, Kletterwände und Eislaufbahnen. Eine Erweitung der traditionellen Freizeiteinrichtungen stellen die Multiplex-Kinos, Großdiskotheken und Musicaltheater dar. Abgesehen von ihren Kernprodukten Filmvorführung, Tanzver-anstaltung und Theateraufführung beinhalten diese Anlagen zusätzlich Gastronomiebetriebe und in den ersten beiden Fällen ein breit gefächertes Angebot in mehreren Räumen mit unterschiedlichen Filmen bzw. Musikrichtungen. Eine gesonderte Position im Bereich der Freizeitgroßanlagen nehmen die Erlebniseinkaufzentren ein – vor allem in der Spezialform „Urban Entertainment Center“ (UEC). In diesen Anlagen werden Shopping-Center mit einer Vielzahl an Einzelhandelsunternehmen durch Freizeit- und touristische Angebote ergänzt. So entstehen in diesem Bereich ebenfalls Erlebniswelten. Aufgrund der Verschmelzung von Einkauf und Freizeit wird die Aufenthaltsdauer der Konsumenten und somit auch ihre Ausgabenbereitschaft beträchtlich erhöht. Die perfekte Übertragung des Shopping-Center-Konzepts in den Freizeitbereich findet sich in den Urban Entertainment Centern wieder. Hier wird den Besuchern in einem Gebäudekomplex ein vielfältiges Unterhaltungsangebot offeriert. Ohne mit dem Auto mehrmals einen Standortwechsel vornehmen zu müssen, können hier die Gäste an einem Tag oder Abend an mehreren Entertainment-Aktivitäten teilnehmen. Das Angebot reicht von Einkaufspassagen, Erlebnisgastronomie über Multiplexkinos, Musicaltheater bis hin zu Freizeitparks und Casinos. Die UECs verfügen in der Regel über mindestens einen sogenannten „Ankermieter“, das ist das jeweilige zentrale Freizeitangebot, welches die Besucher anziehen soll. Je nach Art des Ankermieters werden einzelhandelsorientierte UEC, abendunterhaltungsorientierte UEC und themenorientierte UEC unterschieden. Beispiele hierfür sind jeweils das „CentrO“ in Oberhausen, das „SI-Centrum“ in Stuttgart und das „Daimler/Chrysler Quartier“ in Verbindung mit dem „Sony Center“ am Potsdamer Platz in Berlin.[21]
Aus diesen Beispielen wird sehr schnell ersichtlich, dass es sich bei den Erlebniswelten um Konsumwelten handelt. „Die Erlebniswelten sind in erster Linie für die Unterhaltung und den Erlebniskonsum da.“[22] Wie bereits im vorangegangen Kapitel erwähnt wurde, ist das Freizeitverhalten sehr distanzempfindlich und sobald sich die Erwartungen der Besucher nicht erfüllen, muss mit einem Rückgang der Besucherzahlen gerechnet werden. Dies scheint jedoch das einzige Risiko darzustellen, da gemäß Opaschowski „die Menschen auch und gerade in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit nicht mehr verzichten können, nicht mehr verzichten wollen.“[23] Demzufolge muss in naher Zukunft nicht mit einem Rückgang des Erlebnis-Tourismus gerechnet werden.
3 Entwicklung und Definition des Genre Musical
Obgleich der Begriff „Musical“ in aller Munde ist, beschäftigt sich die Wissenschaft selten mit dieser Form des Musiktheaters. Es lassen sich unzählige Führer mit Beschreibungen der bekanntesten Stücke inklusive knappen Bemerkungen über die Art von Musik, die den Besucher erwartet, finden. Fundierte wissenschaftliche Texte zu diesem Thema erweisen sich jedoch als Mangelware. Möglicherweise hängt diese ablehnende Haltung der Musik-wissenschaft mit dem Vorurteil der Trivialität und Minderwertigkeit, das der Gattung Musical hartnäckig anhaftet, zusammen.
Im folgenden soll nun die Entwicklung des zeitgemäßen Musiktheaters des 20. Jahrhunderts aufgezeigt werden. Dies beinhaltet die Entstehung in Amerika mit Verweis auf die vielfältigen Wurzeln dieses Genre bis zum ersten Musical „The Black Crook“. Die Weiterentwicklung zum weltweit erfolgreichen modernen Unterhaltungstheater unserer Zeit wird anhand einiger markanter Meilensteine veranschaulicht. Wie das Musical den Weg nach Deutschland gefunden hat und die Entwicklung im deutschsprachigen Raum verlief, wird in Kapitel 4.2 ausführlich behandelt.
Im Anschluss an die Entstehungsgeschichte wird in 3.2 der Versuch unter-nommen, eine Definition zu finden, die der Gattung Musical mit all ihren Facetten gerecht wird und eine Abgrenzung zu Oper und Operette erlaubt.
3.1 Entwicklung des Genre Musical
„Amerikas Originalbeitrag zum Welttheater“[24] entwickelte sich aus dem Be-dürfnis der Menschen nach Unterhaltung. Dieser Unterhaltungsbedarf entstand aus den Entbehrungen, die der amerikanische Bürgerkrieg mit sich gebracht hatte und dem schnellen Wachstum der Städte. Um 1900 hatte New York bereits 3,5 Millionen Einwohner und insgesamt 41 Theater.[25] In den Theatern am Broadway wurde überwiegend musikalisches Unterhaltungstheater geboten und daher kann dieser Straßenzug zweifelsfrei als Wiege des Musicals angesehen werden. Die Wurzeln dieser amerikanischen Musiktheatergattung könnten vielfältiger nicht sein, doch liegen sie zum größten Teil im alten Europa. Den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung eigener Musiktheaterstücke dürfte die große Beliebtheit komischer Opern und Operetten seit Mitte des 18. Jahrhunderts gegeben haben.[26] Wichtige Bausteine bildeten das Vaudeville und die Burlesque, welche beide eine Ähnlichkeit mit dem europäischen Varieté aufweisen, da sie „in zwangloser Form und loser Folge aus Song und Tanz, Akrobatik und Humor, Dressurakt und Zauberei, Zirkuselementen und Operetten-motiven“[27] bestehen. Aus der Revue übernahm das Musical die extreme Bandbreite bezüglich Stoff und Thematik sowie den gigantischen Schaueffekt.[28] Diese europäischen Formen wurden mit zwei rein amerikanischen Elementen vermischt: dem Jazz und der Minstrel-Show. In den Minstrel-Shows parodierten weiße Sänger, mit schwarz gefärbten Gesichtern, die Lieder und Tänze schwarzer Sklaven.[29] Die wohl wichtigste Vorstufe des Musicals war jedoch eine musiktheatralische Unterhaltungsform, die sich Extravaganza nannte. „Die Extravaganza ist ein theatralisches Spektakelstück mit viel Musik, Showteilen und Zirkuselementen.“[30] Wie der Name schon sagt, waren hierbei extravagante Ausstattung und atemberaubende Bühneneffekte die entscheidenden Faktoren. Bezeichnenderweise wird auch die Extravaganza-Show „The Black Crook“ aus dem Jahr 1866 als erstes amerikanisches Musical bezeichnet.[31] Drei Punkte weisen bereits sehr deutlich auf die künftige Machart von Musical hin: zum einen wurde das Stück en suite, das heißt täglich gespielt und zum anderen wurde im Programm auf die enormen Kosten von 50.000 Dollar hingewiesen, und die dadurch angelockten Zuschauer wurden mit einer üppigen Ausstattung und technischen Raffinessen belohnt. Drittens wurde ausdrücklich auf die Beteiligung der „Parisienne Ballet Troupe“ verwiesen.[32] Im folgenden wurde diese Form von Unterhaltungstheater „musical comedy“ genannt, da die Shows einen starken Komödiencharakter aufwiesen. Am 27. Dezember 1927 feierte mit „Show Boat“ eine neue Variante – das „musical play“ – Premiere.[33] Mit diesem Stück verließ die Gattung Musical das Schema der Nummernrevue und präsentierte sich als dramatisches Werk mit Musik, dessen Handlung durch Lieder und Tänze vorwärtsgetragen wurde.[34] Zudem griff „Show Boat“ nationale Themen auf und ließ Sozialkritik in den Plot einfließen. Den nächsten Meilenstein in der Entwicklung bildete 1943 „Oklahoma!“. Es beinhaltete die beiden unverzicht-baren Maxime eines amerikanischen Musicals: Tanz und die Notwendigkeit von Allrounddarstellern, die sowohl singen, tanzen als auch schauspielern können.[35] Ab diesem Zeitpunkt festigte und etablierte sich das junge Genre am Broadway bis 1957 die „West Side Story“ mit einem neuen Aspekt für Aussehen sorgte: Leonard Bernstein und Stephen Sondheim verwendeten ein aktuelles Thema und verlegten ihre tragische Liebesgeschichte in das New York der fünfziger Jahre. Damit wandte sich die Gattung Musical noch stärker vom Amüsiertheater ab und wurde fortan nur noch mit dem Begriff „musical“ betitelt.[36] Die perfekte Versinnbildlichung des aktuellen Zeitgeschehens, aber zugleich auch das Ende der Goldenen Ära des Broadway-Musicals stellte „Hair“ im Jahre 1967 dar. Als Goldenes Zeitalter des Musicals wird im Allgemeinen die Zeitspanne zwischen den Broadwaypremieren von „Oklahoma!“ (1943) und „Hair“ (1968) bezeichnet. In jenen 25 Jahren entstanden unzählige Klassiker, die noch heute zum Standardrepertoire vieler Theater auf der ganzen Welt zählen.[37] Zu den in Deutschland bekannten Stücken gehören u.a. „Annie get your gun“ (1945), „Kiss me, Kate“ (1948), „My Fair Lady“ (1955), „West Side Story“ (1957), „Fiddler on the roof / Anatevak“ (1964), „Cabaret“ (1966) und „Hair“ (1968).[38]
„Hair“ beendete 1967 zwar das Goldene Zeitalter des amerikanischen Musicals, steht aber zugleich am Beginn einer Entwicklung, die in der Geschichte der Künste ohne Beispiel ist.[39] In den fünfziger Jahren etablierte sich das Musical auch auf europäischen Bühnen, vor allem im englischensprachigen Raum und die Anzahl der Inszenierungen nahm stetig zu.[40] Nachdem die von dem jungen Briten Andrew Lloyd Webber veröffentlichte Schallplatte seines Musicals „Jesus Christ Superstar“ 1970 mehrere Woche die britischen Charts angeführt hatte, erfolgte Ende 1971 die Premiere am Broadway. „Jesus Christ Superstar“ erzählt im typischen Rocksound der siebziger Jahre die letzten sieben Tage im Leben von Jesu Christi und endet mit der Kreuzigung auf offener Bühne. Auch wenn dieser Inhalt unpassend für eine Unterhaltungsshow erscheint, strömten vorwiegend junge Menschen in das Theater, um das Musical zu sehen, welches bis dahin nur als Schallplatte erhältlich war. Mit diesem Werk führte der Brite Andrew Lloyd Webber das Genre in eine neue Dimension. Ein Stück musste künftig so konzipiert sein, dass es weltweit ohne nationale Anpassungen gespielt werden konnte und die Massenmedien Rundfunk und Fernsehen übernahmen eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg.[41] Auch sollte sich der Trend zum weitgehende Verzicht auf gesprochene Dialoge zwischen den Liedern fortsetzen und somit das Musical zu einer durch-komponierten Musiktheaterform – ähnlich der Oper – machen. Bereits „Jesus Christ Superstar“ und „Evita“ waren große Erfolge in Amerika und Europa, doch mit der Welturaufführung von „Cats“ am 11. Mai 1981 in London, begann der Triumphzug der Gattung Musical um die ganze Welt und etablierte sie als „Leitgattung der Gegenwart“[42]. „Cats“ weist eine weltweit einmalige Erfolgsbilanz auf: das Stück „wurde in zehn Sprachen übersetzt und begeisterte bislang mehr als 65 Millionen Zuschauer in über 300 Städten in 26 Ländern der Erde.“[43] In London endete die Ära „Cats“ mit fast 9.000[44] Vorstellungen nach exakt 21 Jahren, in New York fiel für das Musical mit der längsten Laufzeit am Broadway nach 18 Jahren und 7.397[45] Aufführungen der letzte Vorhang und die deutsche „Cats“-Produktion wurde erst nach 15[46] Jahren in Hamburg abgesetzt. Webber führte mit diesem Bühnenstück eine neue Vermarktungsstrategie ein, die maßgeblich am Erfolg seiner Musicals beteiligt ist: Vergabe von Lizenzen zur Produktion exakter Kopien der Originalinszenierungen.[47] Das bedeutet, alle Inszenierungen sehen weltweit nahezu identisch aus. Eine kleine Ausnahme hierbei bildet Webber’s vierter Welterfolg „Starlight Express“ (1984). In diesem Musical verkörpern die Darsteller Lokomotiven oder Eisenbahnwaggons und veranstalten auf Rollschuhen in einem eigens konzipierten Parcours Wett-rennen. Da diese Rennstrecken sehr schwer auf gewöhnlichen Bühnen nachzubauen sind, ist es nicht möglich die Londoner Inszenierung exakt zu übernehmen. In Bochum wurde aus diesem Grund für „Starlight Express“ eine eigene Halle gebaut, die es den Zuschauern sogar ermöglicht, zwischen den Rennbahnen zu sitzen. Während „Cats“ durch die szenische Darstellung und „Starlight Express“ durch technische Raffinessen beeindruckte, so entführte „Das Phantom der Oper“ die Zuschauer in die Welt der Oper. Dies zeigt, dass dem Genre Musical keine Grenzen gesetzt sind, weder thematisch noch musikalisch – nur aufsehenerregend sollte es sein.
Zwischen 1970 und 2000 dominierten Andrew Lloyd Webber’s Stücke fast die komplette Musicalszene, lediglich die beiden Franzosen Boubil und Schönberg konnten sich noch mit ihren Werken „Miss Saigon“ und „Les Misérables“ weltweit etablieren. Ähnliche Erfolge kann nur noch der Disney-Konzern ausweisen, der in den letzten zehn Jahren begonnen hat, seine Musical-Zeichentrickfilme auf die Bühne zu transferieren. In den kontinental-europäischen Ländern zeichnete sich in den letzten Jahren eine verstärkte Produktion eigener Musicals ab, was auf eine Weiterentwicklung des Genre hindeutet. Besonders hervorzuheben sind hierbei Österreich und Frankreich, die inzwischen ihre Erfolgsproduktionen ebenfalls exportieren.
3.2 Definition und Abgrenzung der Gattung
So vielfältig die Wurzeln dieser Musiktheatergattung sind, so schwer ist es eine eindeutige Definition zu finden. Zum einen mag dies daran liegen, dass es sich um zeitgenössisches Musiktheater handelt, dessen Entwicklung auch nach hundert Jahren noch nicht abgeschlossen ist und zum anderen an der Geburtsstätte Broadway. In den USA existiert keine starre Einteilung in E(rnste)– und U(nterhaltungs)– Musik wie sie in Deutschland üblich ist[48] und aufgrund dessen wird keine Definition zur exakten Abgrenzung von anderen Gattungen benötigt. Zudem wurden die Theater am Broadway von Beginn an privatwirtschaftlich geführt[49] und die Betreiber waren somit auf den Erfolg ihrer Stücke angewiesen. Aus diesem Grund bestimmten die Besucher über das Fortbestehen eines Musicals und insofern auch die Entwicklung des Genre parallel zu den aktuellen Trends der Zeit.
Siegfried Schmidt-Joos veröffentliche 1965 in seinem Buch „Das Musical“ folgende Definition: „Das Musical ist eine in New York entstandene, in der Regel 2aktige Form populären Musiktheaters, die Elemente des Dramas, der Operette, der Revue, des Varietés und – in Ausnahmefällen – der Oper mit-einander verbindet. Es basiert häufig auf literarischen Vorlagen und verwendet die Mittel der amerikanischen Popsongs, der Tanz- und Unterhaltungsmusik und des Jazz. Show-Szenen, Songs und Balletts sind in die Handlung integriert.“[50] Möchte man diese doch sehr vage Erklärung weiter präzisieren, müsste wohl für jede Dekade eine eigene Definition geschrieben werden, denn Musical ist ohne Zweifel Unterhaltungstheater, dessen einzige Maxime es ist, den gegenwärtigen Publikumsgeschmack zu treffen, um die Menschen zu unter-halten. Da sich jedoch das Lebensgefühl im Zeitverlauf verändert, muss sich das zeitgenössische Theater den geänderten Bedingungen immer wieder neu anpassen. Dabei eint die verschiedenen Werke dieses Genre die Tatsache, dass sie in perfekter Harmonie Schauspiel, Tanz, Gesang, Bühnenbild und ausgeklügelte Licht- und Toneffekte zu einem Gesamtkunstwerk verbinden.[51]
In jüngerer Zeit wird dieses Ensemble zusätzlich mit multimedialen und inter-aktiven Elementen, wie beispielsweise im Zuschauerraum agierenden Dar-stellern, angereichert. Der entscheidende Punkt ist der bühnenwirksame Gesamteindruck, nicht die perfekte Sangeskunst einer Opernsängerin, die vollkommene Tanzdarbietung einer Prima Ballerina oder eine höchst anspruchsvolle Partitur. Wichtig ist die optimale Verschmelzung aller theatra-lischer Ausdrucksformen zugunsten der Unterhaltung einer breiten Publikumsschicht. Unter diesem Aspekt eröffnet sich für das Genre Musical eine unbegrenzte Vielfalt an Themen und Stilrichtungen. Klang die Musik der frühen Stücke eher nach Operette und Revue, so erinnern aktuelle Kompositionen vermehrt an Rockkonzerte und Charts. Dieser Wandel erklärt sich vor allem durch das verhältnismäßig junge Musicalpublikum und den dadurch beein-flussten Musikgeschmack der Zielgruppe. Der Facettenreichtum dieses Genre zeigt sich besonders in der Auswahl der Sujets: sie reichen von Märchen und Sagen über historische Ereignisse bis hin zu aktuellen Zeitgeschehnissen.[52] Der Inhalt kann dabei ernst oder heiter, fiktiv oder realistisch, historisch oder aktuell, religiös oder sozialkritisch, märchenhaft oder authentisch oder eine Kombination aus allem sein. Musicalautoren verwenden für ihre Stücke häufig literarische Vorlagen, bevorzugt Romane und Theaterstücke, die allerdings meist sehr frei bearbeiten werden.[53] Ähnlich beliebt sind Übertragungen von der Leinwand auf die Bühne – sowohl realer als auch Zeichentrickfilme. Aber ungeachtet dessen, ob ein Musical den Zuschauer zu einem Tanz mit Vampiren einlädt, die letzten Tage Jesu Christi miterleben lässt oder in die afrikanische Savanne zum König der Löwen entführt, hat jeder Besucher die Möglichkeit etwas aus der Vorstellung mitzunehmen. Sei es nun ein beschwingtes Gefühl oder ein Anreiz über den tieferen Sinn der Texte nachzudenken. Durch diese thematische Bandbreite eröffnet sich für das Genre ein riesiges Besucher-potential quer durch alle Bevölkerungsschichten.
Angesichts der vorangegangenen Beschreibung erscheint der Ausspruch des Musicaltexters Oscar Hammerstein II. „Es sollte alles sein, was es möchte.“[54] sehr zutreffend. Dennoch ist es möglich die Gattung Musical von den Musiktheaterformen Oper und Operette in einigen Punkten abzugrenzen. Den größten Unterschied stellt das in den meisten Fällen literarisch höherwertige Buch bzw. Libretto der Musicals dar.[55] Der Grund hierfür liegt zum einen in den vorwiegend literarischen Vorlagen und in der Tatsache, dass der Handlungs-verlauf durch die Texte der Lieder vorangetrieben wird. Anders als in der Operette dienen die Songs nicht der Untermalung, sondern erweisen sich als wesentliche Träger der Geschichte.[56] Bezeichnenderweise erhielten in der Vergangenheit einige Musicals den Pulitzerpreis in der Sparte Drama. Eine weitere Abweichung bildet die bereits erwähnte Verschiedenartigkeit der Sujets, aus denen das Musical seine Inhalte entwickelt. Während die Oper sehr oft auf antike Mythen oder die Bibel zurückgreift[57] und die Operette ihre amourösen Verwirrspiele zumeist in aristokratischen Scheinwelten ansiedelt[58], entstammen Musicalhelden häufig Milieus, welche dem Besucher die Identifikation erleichtern. Der dritte gravierende Unterschied bezieht sich auf die Tanzeinlagen. Im Gegensatz zu Oper und Operette – dort sind Balletteinlagen oder Gesellschaftstänze lediglich wirkungsvolles Beiwerk[59] – ist Tanz in jedweder Form in diesem Genre vollkommen in die Handlung integriert und mitunter sogar Hauptbestandteil. Daher hat bei der Produktion eines Musicals die Choreographie einen ähnlich hohen Stellenwert wie die Regie.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei einem Musical das Komplett-Erlebnis der Bühnenshow absoluten Vorrang vor den einzelnen künstlerischen Elementen genießt. Durch die ungeheure Vielfalt und Vielschichtigkeit entsteht mit jedem Musical etwas grundlegend Neues, das mit keinem bereits bestehenden Werk verglichen werden kann. „Weiterhin gilt, daß das Musical erst durch eine adäquate Darstellung voll wirksam wird, was daher einen neuen Darstellertyp erfordert, der über schauspielerische, gesangliche und tänzerische Fähigkeiten verfügen muß.“[60]
4 Etablierung der Gattung im deutschsprachigen Raum
Die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft ist durch eine weltweit ein-malige Dichte und Vielfalt charakterisiert. Derzeit bestehen in Deutschland rund 150 öffentlich getragene Theater, 280 Privattheater, 130 Opern-, Sinfonie- und Kammerorchester, 40 Festspiele, 150 Theater- und Spielstätten ohne festes Ensemble, 100 Tournee- und Gastspielbühnen ohne festes Haus und eine unüberschaubare Anzahl freier Gruppen. Jährlich besuchen rund 35 Millionen Zuschauer die fast 110.000 Theateraufführungen und 7.000 Konzerte. Im Bereich Sprech- und Musiktheater werden pro Spielzeit zirka 2.500 Stücke in rund 5.800 Inszenierungen gezeigt. Dieses reichhaltige Angebot entwickelte sich vor allem aus dem staatlichen Kulturförderungsauftrag, der zu einer gegenwärtigen Subvention der öffentlich getragenen Theater und Orchester in Höhe von rund 2 Milliarden Euro durch die öffentliche Hand geführt hat.[61]
Während der deutschsprachige Raum traditionell auf ein weit verzweigtes Theatersystem mit einem öffentlich finanzierten Staats-, Stadt- oder Landes-theater in nahezu jeder größeren Stadt verfügt, konzentrieren sich in anderen Ländern die Theater meist auf wenige große Städte. Als Beispiele seien an dieser Stelle nur der berühmte Theaterbezirk West End in London und der Broadway in New York angeführt. Der überwiegende Teil der öffentlichen Theater wird als Mehrsparten- oder Repertoiretheater geführt, das heißt pro Spielzeit werden mit einem festen Ensemble mehrere Stücke, häufig aus allen drei Grundgattungen Schauspiel, Musiktheater und Ballett, einstudiert und in allabendlichem Wechsel gezeigt.[62] Da sich diese Betriebsform unter Kosten-gesichtspunkten als sehr ungünstig erweist[63], präsentieren Privattheater ihre Stücke bevorzugt im En-Suite- oder Stagione-System. Hierbei wird eine einzige Inszenierung über mehrere Wochen[64] bzw. im En-Suite-Betrieb solange bis das Publikumsinteresse erlahmt[65], täglich aufgeführt. Auf diese Weise lassen sich die hohen Kosten aufwendiger Produktionen wieder einspielen. Besonders die sehr kostenintensiven lizenzierten Musicals sind nur durch eine lange Aufführungsreihe finanzierbar. Aufgrund der Etablierung privat finanzierter Theater nach anglo-amerikanischen Vorbild durch die Musicalbetreiber und einer Privatisierungswelle als Lösung für die gestiegene Anzahl öffentlich subventionierter Theater nach der Wiedervereinigung, veränderte sich in den neunziger Jahren die Struktur des deutschen Theatersystems.[66]
Nach diesem Überblick über die traditionelle deutsche Theaterordnung erfolgt eine Analyse des Theatersystems in Hinblick auf die Gattung Musical. In wie vielen verschiedenen Theaterformen Musicals heute im deutschsprachigen Raum präsentiert werden, soll in Abschnitt 4.1 aufgezeigt werden. Nach der Entstehungsgeschichte des Genre im vorangegangen Kapitel wird nun die Entwicklung und Etablierung in Deutschland, Österreich und der Schweiz anhand wichtiger Stationen beleuchtet. Im abschließenden Abschnitt wird knapp auf die seit Jahren tobende „Kunst oder Kommerz?“-Diskussion der Journalisten, Kunstexperten und Befürworter der Kunstform Musical ein-gegangen.
4.1 Theaterformen in Deutschland
Die große Beliebtheit, welcher sich Musicals heute erfreuen, hat dazu geführt, dass sie in nahezu jeder Aufführungsform dem Publikum angeboten werden. Der Großteil wird hierbei von privaten Betreibern produziert, deren Haupt-augenmerk nach amerikanischem Vorbild auf einen wirtschaftlichen Erfolg bzw. die Vermeidung eines finanziellen Misserfolgs gerichtet ist. Im folgenden soll ein Überblick über die häufigsten Produktionsformen von Musicals im deutsch-sprachigen Raum gegeben werden.
Musicals im traditionellen Repertoire-Betrieb
In den öffentlichen Stadttheatern hat das Musical, genau wie die Operette, nach wie vor einen festen Platz im Repertoire. Allerdings greifen die Intendanten seit Jahrzehnten auf dieselben bewährten Klassiker zurück und nur die wenigsten haben den Mut, ein in Deutschland eher unbekanntes Werk oder gar eine Uraufführung auf die Bühne zu bringen. Bedingt durch den allabendlichen Wechsel des Programms werden diese Stücke zumeist mit Mitgliedern des Hausensembles, also keinen ausgebildeten Musicaldarstellern, besetzt und die Bühnenausstattung fällt weniger aufwendig aus. Folgende fünf Musicals könnte man, gemessen an der Häufigkeit ihrer Inszenierungen, als Standardrepertoire der öffentlichen Theater bezeichnen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Musical-Standardrepertoire öffentlicher Theater[67]
Theater mit Stagionesystem; Gastspieltheater
Das Stagionesystem erfreut sich zunehmender Beliebtheit im Musicalbereich. Gegenüber dem Repertoirebetrieb bietet es sowohl finanzielle als auch künst-lerische Vorteile. Die Produktionen werden innerhalb eines Spielzeitabschnitts, der von einigen Wochen bis etwa zwei Monate reicht, durchgehend gezeigt. Zum einen ist es möglich aufwendigere Kulissen zu verwenden, da sie nicht täglich abgebaut werden müssen und zum anderen wird speziell für diese eine Produktion ein Ensemble zusammengestellt, das ausschließlich dieses Stück spielt. Durch die beschränkte Laufzeit und die Tatsache, dass es sich bei diesen Theatern in den seltensten Fällen um rein öffentlich finanzierte Häuser handelt, ist ein größeres Maß an Werbung notwendig. Nach dem gleichen Blocksystem verfahren die Gastspieltheater. Allerdings ohne selbst Stücke zu produzieren, sondern kaufen diese bereits als fertige Produkte von anderen Theatern oder Tourneeveranstaltern. Das Deutsche Theater in München ist mit rund 1.600 Plätzen das größte Gastspieltheater in Deutschland.[68]
Tournee-Musicals
Wie groß das Interesse der Bevölkerung am Genre Musical ist, zeigt sich daran, dass neben den großen Musical-Palästen und den Stadttheatern auch noch eine Reihe Tourneeveranstalter ihr Publikum finden. Diese „rein erwerbs-wirtschaftlich ausgerichtete[n]“[69] Tourneetheater reisen mit ihren Produktionen quer durch Deutschland, hin und wieder sogar durch ganz Europa und spielen in Gastspieltheatern oder Stadthallen. Große Anziehungskraft haben dabei jene Wandertruppen, die sich mit Prädikaten wie „Original Broadway Production“ oder „London Musical Theatre“ schmücken dürfen. Die Musicals der beiden erfolgreichsten deutschen Produzenten „BB-Promotion“ und „Wolfgang Bocksch Concerts“ müssen den Vergleich mit den großen En-Suite-Musicals nicht scheuen, da sie oft ähnlich aufwendig und qualitativ hochwertig produziert sind. Zudem schicken seit einiger Zeit Theaterbetreiber vermehrt ihre nicht vorrangig für den Tournee-Betrieb konzipierten Musical-Eigenproduktionen auf Gastspielreise durch eine ausgewählte Anzahl größerer Theater.
Sommermusicals in den Theaterferien
Da sich Musicals als zugkräftige Publikumsrenner erwiesen haben, nutzen immer mehr öffentlich subventionierte Theater die traditionellen Theaterferien
im Sommer, um ihr Budget für die nächste Spielzeit etwas aufzubessern. Hierzu stellen die Intendanten entweder ihr Theater für Gastspiele zur Verfügung oder sorgen für eigene Inszenierungen. Am Theater Aachen erfolgten beispielsweise während der Intendanz von Elmar Ottenthal im Sommer Musical-Urauf-führungen, von denen sich sogar ein Stück als Long-Run-Musical etablieren konnte. Die Sommerpause der Vereinigten Bühnen Wien nutzt vor allem die Stadt Amstetten, die sich mit ihrem Musical-Sommer zu einem Mekka der österreichischen Musical-Fans entwickelt hat. Die spritzigen und sehr tanz-lastigen Inszenierungen haben bereits einige Male den Sprung auf die großen Bühnen in Wien geschafft.
Freiluftfestspiel
Seit einigen Jahren erobern Musicals nun auch die Freilichtbühnen im deutschsprachigen Raum. Trotz Wetterabhängigkeit und begrenzter Spieldauer eröffnen sich hierbei für Regisseure in den teilweise einzigartigen Naturkulissen neue Möglichkeiten. Sind heute Tiere auf der Bühne eine Seltenheit, so zog 2002 der Jesus-Darsteller in der Tecklenburger „Jesus Christ Superstar“-Inszenierung auf einem echten Esel in Jerusalem ein. Verstärkt wird inzwischen darauf geachtet, durch die Besetzung der Hauptrollen mit populären Musicaldarstellern auch Musical-Touristen aus dem ganzen Bundesgebiet anzulocken. Zu den bekanntesten Freiluftspielen, die regelmäßig Musicals in ihrem Programm haben, gehören: Bad Gandersheimer Domfestspiele, Festspiele in Bad Hersfeld, Schlossfestspiele Ettlingen, Tecklenburger Freilichtspiele, die Thuner Seespiele in der Schweiz und in Österreich die Seebühnen in Bregenz und Klagenfurt, sowie bis 2003 das Musicalfestival in Bruck an der Leitha.
Long-Run-Musicals in Theatern mit En-Suite-Betrieb
Die bekannteste Form Musicals zu präsentieren ist das En-Suite-Konzept der großen privat betriebenen Musicaltheater. Seinen Ursprung hat dieses System in dem seit Jahrhunderten kommerziell betriebenen englischen und amerika-nischen Theatergewerbe.[70] „Seit Eröffnung der ersten Theater am Broadway (...) bildeten sich von Anfang an das sogenannte Long-run System mit einer Serie von ensuite gegebenen Vorstellungen (...) heraus.“[71] Bei der Produktion eines Musicals am Broadway fällt dem Produzenten die entscheidende Rolle zu: er wählt das Stück, sorgt für die Finanzierung durch private Geldgeber, mietet das Theater, stellt das Produktionsteams zusammen, engagiert das Ensemble und Orchester und trägt bis zur letzten Vorstellung die Verantwortung für die gesamte Produktion.[72] Da mit den großen Musicals ein sehr hoher Kostenaufwand – der sich auf mehrere Millionen US-$ belaufen kann – ver-bunden ist, hat ein Flop große finanzielle Verluste zur Folge[73], was dazu führt, dass am Broadway sofern sich der Publikumserfolg nicht unmittelbar nach der Premiere einstellt, Stücke sehr schnell wieder schließen. Die privaten deutschen Musicalbetreiber übernahmen in den achtziger Jahren dieses System, da die großen Produktionen wegen der hohen laufenden Kosten nur en suite spiel- und finanzierbar sind. Dies bedeutet ein Musical "wird an einem Standort nahezu täglich und teilweise mit Doppelvorstellungen bei optimiertem Personaleinsatz so lange gespielt, bis das Zuschauerinteresse und die Einnahmen unter die kalkulierte Gewinngrenze rutschen.“[74] Die Einführung dieser Produktionsweise und der damit verbundenen modernen Vermarktung von Theatervorstellungen ist für den Musical-Boom verantwortlich und folglich Auslöser des Musical-Tourismus. Heute gibt es im deutschsprachigen Raum drei Anbieter, die über mehrere Häuser verfügen: Vereinigte Bühnen Wien, Stage Holding und die Produzentengruppe Thomas Krauth, Michael Brenner und Andrea Friedrichs. Daneben gibt es noch einige, meist kleinere Privat-theater, die sich auf Musicals spezialisiert haben.
4.2 Entwicklung des Musicals im deutschen Sprachraum
Die Entstehung und Etablierung des Genre in den anglo-amerikanischen Ländern wurde in Kapitel 3.1 bereits geschildert, nicht jedoch wie die Ent-wicklung im deutschsprachigen Raum verlief. Viele Autoren vertreten die Meinung, dass die Gattung Musical mit der Inszenierung von „My Fair Lady“ 1961 im Berliner Theater des Westens seinen Weg nach Deutschland fand, jedoch erst mit „Cats“ 1986 in Hamburg richtig beliebt wurde. Dies ist zwar im Prinzip nicht falsch, entspricht jedoch auch nicht ganz der Wahrheit.
Bereits in den zwanziger Jahren gab es in Berlin Tendenzen zur Entwicklung von musikalischem Unterhaltungstheater und 1925 wurde mit „No No Nanette“ sogar ein amerikanisches Musical der ersten Generation aufgeführt.[75] Jedoch erfolgte durch das Naziregime ein jähes Ende jener Tendenzen und viele kreative Köpfe dieser Zeit sahen sich zur Emigration gezwungen, was auf der einen Seite zu einer Beeinflussung der Theaterszene im Ausland durch diese Künstler führte.[76] Auf der anderen Seite dagegen wurde das deutsche Musiktheater von der internationalen Entwicklung isoliert und verlor dadurch zusehends an Bedeutung.[77] Nach dem Kriegsende war der Nachholbedarf an zeitgemäßem unterhaltsamen Musiktheater in der Bevölkerung sehr groß und da man im Grunde auf keine eigenen Werke zurückgreifen konnten, wurde Anfang der fünfziger Jahre damit begonnen Musicals aus den USA zu impor-tieren.[78] Den Anfang machte Kurt Weill’s „Lady in the Dark“ unter dem eingedeutschten Titel „Das verlorene Lied“ am 24. Mai 1951 im Staatstheater Kassel, gefolgt von Weill’s „Street Scene“ als „Eine Straße in New York“ 1955 in der Düsseldorfer Oper, ebenfalls 1955 wurden „Kiss me, Kate“ als „Küss mich, Kätchen!“ am Frankfurter Schauspielhaus und „Fanny“ im Münchner Theater am Gärtnerplatz aufgeführt. In Österreich erlebten in der Wiener Volksoper 1956 „Wonderful Town“ und 1957 „Annie get your gun“ ihre deutschsprachigen Erstaufführungen und das erste Musical, dass in der Schweiz gespielt wurde, war Cole Porter’s „Can-Can“ im Stadttheater Basel 1959.[79] Am 25.10.1961 hatte die eingangs erwähnte „My Fair Lady“-Inszenierung im Berliner Theater des Westens Premiere. Diese Produktion setzte hinsichtlich der Aufführung von Musicals in Deutschland neue künstlerische Maßstäbe[80] und markierte die endgültige Etablierung der zeitgemäßen Musiktheatergattung in den Spiel-plänen deutscher Theater. Zudem prägte sich der Begriff „Musical“ erst mit „My Fair Lady“ in Deutschland ein, da die früheren Stück oft als „amerikanisches Theaterstück“, „musikalisches Spiel“ oder „musikalische Komödie“ bezeichnet wurden.[81] Ferner wussten die meisten Menschen nicht, dass viele Schlager aus dem Radio in das Deutsche übersetzte Musicalsongs waren. Das Theater-publikum war begeistert und so entwickelten sich englische und amerikanische Musicals in den öffentlich subventionierten Theatern zu „zugkräftige[n] Repertoirestücke[n] und Stützen der Spielpläne.“[82] Anfang der siebziger Jahre spricht der Theaterkritiker Jens Wendland sogar von einer regelrechten Musical-Schwemme[83] und bald überrundete das neue Genre, gemessen an der Anzahl der Aufführungen, die altbewährte Operette.[84] Wieso es angesichts der Beliebtheit dieses Genre beim Publikum zu keiner Entwicklung einer großen Zahl eigener Musicals in Deutschland kam, ist wohl hauptsächlich der Ignoranz der Theaterdirektoren und dem Subventionssystem der deutschen Theater zu verdanken. „Die Erklärung, warum Deutschland wohl ein für allemal 'unfrucht-barer Boden' für dieses anglo-amerikanische Unterhaltungstheater bleiben müsse, wurden mit der Unübersetzbarkeit der Originalversionen und dem Fehlen jener Darsteller begründet, die singen, tanzen, spielen und sprechen konnten. Außerdem war davon die Rede, daß die Theaterstruktur in Deutschland auf das Spielen in Serien (...) nicht eingerichtet sei und das Publikum bei den ästhetischen Standards der Operette verharre.“[85] Mag auch das Subven-tionssystem als idealer Nährboden für neue Stücke angesehen werden, da es den Produzenten vor einem finanziellen Desaster schützt, so erweißt es sich in der Praxis häufig als Grab der jungen Werke. Aufgrund der hohen Kosten, die mit einer Produktion am Broadway verbunden sind, testen und bearbeiten die
[...]
[1] Vgl. Stage Holding 2004
[2] z.B.: Simone Kaczerowski, Let’s go Musical, ECON, 1997
[3] Vgl. Opaschowski 1993, S. 13
[4] Vgl. Franck 1999, S. 76
[5] Agricola zitiert nach: Schäfer 1998, S. 37
[6] Vgl. Opaschowski 1993, S. 25
[7] Vgl. Opaschowski 1993, S. 23
[8] Vgl. Schäfer 1998, S. 39
[9] Heinze 1999, S. 2
[10] Vgl. Heinze 1999, S. 2
[11] Opaschowski 2000b, ohne Seitenangabe
[12] Vgl. Schäfer 1998, S. 44
[13] Gebhardt, Hitzler, Pfadenhauer 2000, S. 10
[14] Schäfer 1998, S. 44
[15] Vgl. Opaschowski 2000a, S. 55
[16] Opaschowski 2000a, S. 55
[17] Vgl. Opaschowski 1997, S. 25
[18] Vgl. Opaschowski 1997, S. 28
[19] Opaschowski 2000a, S. 64
[20] Vgl. Hennings 2000, S. 1
[21] Vgl. Hennings 2000, S. 2 ff.
[22] Opaschowski 2000a, S. 63
[23] Opaschowski 1993, S. 23
[24] Böttger 2002, S. 660
[25] Vgl. Böttger 2002, S. 660
[26] Vgl. Böttger 2002, S. 660
[27] Böttger 2002, S. 662
[28] Vgl. Weck 1986a, S. 7
[29] Vgl. Böttger 2002, S. 663
[30] Böttger 2002, S. 661
[31] Vgl. Bartosch 1997, S. 56
[32] Vgl. Böttger 2002, S. 661
[33] Vgl. Böttger 2002, S. 672
[34] Vgl. Bartosch 1997, S. 17 f.
[35] Vgl. Böttger 2002, S. 677
[36] Vgl. Geraths 2002, S. 11
[37] Vgl. Kowalke 2002, S. 137
[38] Vgl. Kowalke 2002, S. 138 f.
[39] Vgl. Geraths 2002, S. 12
[40] Vgl. Ziegenbalg 1994, S. 29
[41] Vgl. Sonderhoff 1986, S. 102
[42] Geraths 2002, S. 10
[43] o.V. 2004a, ohne Seitenangabe
[44] Vgl. o.V. 2002a, S. 41
[45] Vgl. o.V. 2000a, S. 27
[46] Vgl. Knopf 2001, S. 4
[47] Vgl. o.V. 2002a, S. 41
[48] Vgl. Bartosch 1997, S. 8
[49] Vgl. Schäfer 1998, S. 56
[50] Schmidt-Joos zitiert nach: Krettenauer 1999, S. 13
[51] Vgl. Kaczerowski 1995, S. 8, Krettenauer 1999, S. 18
[52] Vgl. Krettenauer 1999, S. 15
[53] Vgl. Böttger 2002, S. 678
[54] Hammerstein zitiert nach: Bartosch 1997, S. 7
[55] Vgl. Böttger 2002, S. 678
[56] Vgl. Ziegenbalg1994, S. 18 f.
[57] Vgl. Böttger 2002, S. 678
[58] Vgl. Ziegenbalg 1994, S. 18
[59] Vgl. Böttger 2002, S. 702
[60] Schäfer 1998, S. 50
[61] Vgl. Deutscher Bühnenverein 2004, ohne Seitenangabe
[62] Vgl. Schäfer 1998, S. 64
[63] Vgl. Hilger zitiert nach: Schäfer 1998, S. 64
[64] Vgl. Jacobshagen 2002, S. 372 f.
[65] Vgl. Jacobshagen 2002, S. 357
[66] Vgl. Mertens 2004, ohne Seitenangabe
[67] Quelle: Werkstatistiken des Deutschen Bühnenvereins
[68] Vgl. o.V. 2004b, ohne Seitenangabe
[69] Schäfer 1998, S. 66
[70] Vgl. Schäfer 1998, S. 56
[71] Schäfer 1998, S. 56
[72] Vgl. Jacobshagen 2002, S. 251
[73] Vgl. Schäfer 1998, S. 59 f.
[74] Mertens 2004, ohne Seitenangabe
[75] Vgl. Böttger 2002, S. 711
[76] Vgl. Schäfer 1998, S. 69
[77] Vgl. Krettenauer 1999, S. 22
[78] Vgl. Schäfer 1998, S. 70, Gauert 2000, S. 7, Jacobshagen 2002, S. 250
[79] Vgl. Gauert 2000, S. 7, Böttger 2002, S. 711
[80] Vgl. Fischer 1996, S. 13
[81] Vgl. Bartosch 1997, S. 457
[82] Jacobshagen 2002, S. 250
[83] Vgl. Krettenauer 1999, S. 22
[84] Vgl. Gauert 2000, S. 7
[85] Schäfer 1998, S. 70
- Quote paper
- Anna Schmittner (Author), 2005, Entwicklung des Musical-Tourismus im deutschsprachigen Raum, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46907
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