Das vorliegende Werk versteht sich als Beitrag zur Cyborgologie, also der Lehre, wie sich die Cyborgisierung auf unser tägliches Leben auswirkt beziehungsweise auswirken wird. Dabei wird auf Erkenntnisse im Bereich der Cyborgisierung des Alters und dessen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem, im speziellen Fall der Pflege abgezielt. Der Autor selbst ist nicht nur Lehrbeauftragter an Fachhochschulen des Gesundheitswesens und übt bereits eine mehrjährige Tätigkeit als Lehrer an Krankenpflege- und Altenpflegeschulen aus, sondern erlernte den Beruf des Staatlich anerkannten Altenpflegers. Hierdurch ist das Hineinversetzen in den Pflegebereich durch eigene Berufserfahrung erleichtert.
Nach Vorstellung der Fragestellung werden die Ein- und Ausschlusskriterien genannt. Dabei bezieht sich die Arbeit auf ältere Menschen, inkludiert aber auch, dass es sich bei der Cyborgisierung des Alters auch um Menschen handelt, die bereits in jüngeren Jahren eine Mensch-Maschine-Hybridisierung erfuhren und nun alt geworden sind. Eingangs werden zwei empirische Untersuchungen vorgestellt. Zum einen handelt es sich um eine qualitative Abfrage bei Krankenkassen, die im Freistaat Bayern ihre Versicherungsleistungen anbieten. Zum anderen wird eine Befragung von Auszubildenden in der Altenpflege anhand einer quantitativen Studie vorgestellt. Dem folgt eine Definition des Begriffes Cyborg und unterschiedliche Varianten der Cyborgisierung nach der Art der Technik, nach der Fusionsdauer und nach dem Grad der Internalisierung. Im Weiteren werden Gründe zur Cyborgisierung sowie Zielbereiche der Cyborgisierung identifiziert. Auch wird die Frage nach rechtlichem und ethischem Anspruch des Menschen auf Cyborgisierung verfolgt.
Um sich der Cyborgisierung des Alters weiter anzunähern, werden insgesamt vier Alternsprozesse angesprochen, wobei der chronologische Alternsprozess aufgrund seiner exakten Bestimmbarkeit zur weiteren Beantwortung der Forschungsfrage präferiert wird. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft und insbesondere das Gesundheitswesen werden im Anschluss daran beleuchtet, um sich schließlich der Pflege, differenziert in die Bereiche der Pflegepraxis, des Pflegemanagements, der Pflegewissenschaft und der Pflegepädagogik, zu widmen. Es folgt die Beantwortung der Forschungsfrage und eine abschließende Zusammenfassung.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis V
0 Aufbau der Arbeit
1 Einführung
1.1 Motivation und aktueller Bezug
1.2 Fragestellung und Zielsetzung
1.3 Abgrenzung
2 Empirische Erhebungen
2.1 Umfrage bei Krankenkassen
2.2 Befragung von Auszubildenden in der Altenpflege
3 Cyborg
3.1 Cyborgisierung nach der Art der Technik
3.1.1 Human Enhancement Technologies (HET)
3.1.2 Organische und pharmazeutische Technologie
3.1.3 Gentechnik
3.2 Cyborgisierung nach der Fusionsdauer
3.3 Cyborgisierung nach dem Grad der Internalisierung
4 Cyborgisierung
4.1 Gründe zur Cyborgisierung
4.1.1 Restaurierung –
Wiederherstellung eines ehemaligen Zustandes
4.1.2 Normalisierung –
Herstellung eines normalen Funktionszustandes
4.1.3 Rekonfigurieren –
Wiederherstellung der Gestalt
4.1.4 Erweiterung –
Verbesserung eines funktionstüchtigen Zustandes
4.2 Ziel-Bereiche der Cyborgisierung
4.2.1 Physiologischer Ziel-Bereich
4.2.2 Psychischer Ziel-Bereich
4.3 Anspruch auf Cyborgisierung: Recht und Ethik
5 Cyborgisierung des Alters
5.1 Cyborgisierung im chronologischen Alternsprozess
5.2 Cyborgisierung im physiologischen Alternsprozess
5.3 Cyborgisierung im psychischen Alternsprozess
5.4 Cyborgisierung im sozialen Alternsprozess
6 Auswirkungen auf Gesellschaft und Gesundheitswesen
7 Auswirkungen auf die Pflege
7.1 Auswirkungen auf die Pflegepraxis
7.2 Auswirkungen auf das Pflegemanagement
7.3 Auswirkungen auf die Pflegewissenschaft
7.4 Auswirkungen auf die Pflegepädagogik
8 Beantwortung der Fragestellung
9 Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang 1: Die Mensch-Maschine
Anhang 2: Anschreiben an die Krankenkassen
Anhang 3: Erhebungsbogen an die Krankenkassen
Anhang 4: Angeschriebene Krankenkassen
Anhang 5: Rückantworten der Krankenkassen
Anhang 6: Fragebogen zur Befragung der Auszubildenden
Anhang 7: Ergebnisdarstellung der einzelnen Items
Anhang 8: Auswertung
Abbildungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabellenverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
0 Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit entstand im Studiengang Master in Health and Medical Management und ist als Beitrag zur Cyborgologie zu verstehen, also der Lehre, wie sich die Cyborgisierung auf unser tägliches Leben auswirkt. Dabei zielt sie auf Erkenntnisse im Bereich der Cyborgisierung des Alters und dessen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem, im speziellen Fall der Pflege ab. Eingangs wird die Motivation zur Themenwahl vorgestellt. Der Autor selbst ist nicht nur Lehr-beauftragter an Fachhochschulen des Gesundheitswesens und übt bereits eine mehrjährige Tätigkeit als Lehrer an Krankenpflege- und Altenpflegeschulen aus sondern erlernte den Beruf des Staatlich anerkannten Altenpflegers. Hierdurch ist das Hineinversetzen in den Pflegebereich durch eigene Berufserfahrung erleichtert. Nach Vorstellung der Fragestellung werden die Ein- und Ausschluss- kriterien genannt. Dabei bezieht sich die Arbeit auf ältere Menschen, inkludiert aber auch, dass es sich bei der Cyborgisierung des Alters auch um Menschen handelt, die bereits in jüngeren Jahren eine Mensch-Maschine-Hybridisierung erfuhren und nun alt geworden sind. Zum Einstieg werden zwei empirische Untersuchungen vorgestellt. Zum einen handelt es sich um eine qualitative Abfrage bei Kranken- kassen, die im Freistaat Bayern ihre Versicherungsleistungen anbieten. Zum anderen wird eine Befragung von Auszubildenden in der Altenpflege anhand einer quantitativen Studie vorgestellt. Dem folgt eine Definition des Begriffes Cyborg und unterschiedliche Varianten der Cyborgisierung nach der Art der Technik, nach der Fusionsdauer und nach dem Grad der Internalisierung dar. Im Weiteren werden Gründe zur Cyborgisierung sowie Zielbereiche der Cyborgisierung identifiziert. Auch wird die Frage nach rechtlichem und ethischem Anspruch des Menschen auf Cyborgisierung gefolgt. Um sich der Cyborgisierung des Alters weiter anzunähern, werden insgesamt vier Alternsprozesse angesprochen, wobei der chronologische Alternsprozess aufgrund seiner exakten Bestimmbarkeit zur weiteren Beantwortung der Forschungsfrage präferiert wird. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft und insbesondere das Gesundheitswesen werden im Anschluss daran beleuchtet um sich schließlich der Pflege, differenziert in die Bereiche der Pflegepraxis, des Pflegemanagements, der Pflegewissenschaft und der Pflegepädagogik zu widmen. Es folgt die Beantwortung der Forschungsfrage und eine abschließende Zusammenfassung.
1 Einführung
„Sie heißen Erna Müller, Leni Meier oder Paul Schmidt: Freundliche Senioren, die mit Kompressionsstrümpfen und Rollatoren auf der Terrasse des Alten- und Pflegeheimes sitzen. Sie freuen sich über den Besuch ihrer Enkel, trinken Kaffee und unterhalten sich. Aber sie verbergen ein Geheimnis, welches man ihnen nicht ansieht: Sie sind Cyborgs!“ So oder so ähnlich könnte eine Science-Fiction- Geschichte beginnen, die in zukünftigen Altenheimen spielen könnte. Doch weit gefehlt: Der Cyborg im Bereich der Altenhilfe und Altenpflege ist kein Ens rationalis, der bestenfalls in der Zukunft in Erscheinung tritt sondern beeinflusst mit seinem Dasein bereits heute, sozusagen als Ens reale, unsere Gesellschaft und insbesondere das Gesundheitswesen. Es ist dabei anzunehmen, dass durch den Demographischen Wandel auch die Cyborgisierung, insbesondere die Cyborgisierung des Alters zunehmen wird.
„ D er demografische Wandel mit seiner Trias von steigender Lebenserwartung, prozentualem Anstieg des Anteils alter und hochbetagter Menschen und des prozentualen Schrumpfens des Anteils junger Menschen bringt erhebliche gesellschaftli- che Probleme mit sich.
(Weber 2017:338)
Unter dem Begriff „Demographischer Wandel“ werden mehrere Faktoren subsummiert, die sich aus der demographischen Entwicklung und dem daraus resultierenden sozialen Wandel ergeben. „Die Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung in Deutschland ist ein gut untersuchtes und intensiv diskutiertes Phänomen, zu dem zahlreiche, immer wieder aktualisierte Vorausberechnungen vorliegen.“ (Depner et al. 2010:7) Grundlage dieser Vorausberechnungen sind mehr oder weniger exakt begründete Plausibilitäts-annahmen. Diese bilden die Geburtenhäufigkeit pro Frau, die Lebenserwartung der Neugeborenen sowie die aktuelle Migration als grenzüberschreitende Mobilität – die sogenannte Außen- wanderung – als Saldo aus Zu- und Abwanderung der Menschen ab. (Depner et al. 2010:8) Kolb (2018:29-33) benennt die Bevölkerungszahl, Altersstruktur, Pflegebedürftigkeit, Kosten im Gesundheitswesen, Altersvorsorge, Immobilien- wirtschaft, Haushaltsform, Arbeitswelt, Wirtschaft, (staatliche) Infrastruktur und Bildung und Wissenschaft als Bereiche, die tangiert werden. Als möglichen Aspekt zur Minderung der Folgen werden Ambient Assisted Living (AAL) und Gerontechnologie (GT) vorgeschlagen. „Aufgrund des längeren Lebens, zum Teil hoch- und höchstbetagt, muss Gerontechnologie altersgerecht gestaltet sein und gezielt notwendige Hilfen im Alter geben.“ (Kolb 2018:32) Dieser Ansatz impliziert, dass durch den Einsatz von geeigneter Technik und technischer Assistenzsysteme im Alltag älterer und pflegebedürftiger Menschen den physischen wie auch psychischen und sozialen Auswirkungen des Alterns als auch des Demographischen Wandels begegnet werden kann. Bereits stehen auch zahlreiche AAL- und GT- Anwendungen für die Nutzung am Körper, im öffentlichen Raum und im Wohnumfeld älterer Menschen zur Verfügung. Für die Nutzung im Wohnumfeld sind vor allem Mobilitäts- und Aufrichthilfen wie Badewannenlifter, Sessel und Toiletten mit Aufstehhilfe oder Treppenlifter zu nennen. Auch der Hausnotruf, erweitert beispielsweise durch eine „Mir-geht-es-gut-Funktion“ („Alles-in-Ordnung-Taste“) hat in vielen Wohnungen älterer Menschen Einzug gehalten. Neuere Systeme bieten als Erweiterung des klassischen Hausnotrufsystems auch zusätzlich eine Kamera und einen Bildschirm zur Bildübertragung an und ermöglichen so die Übermittlung von Audio- und Videodaten, was den sozialen Austausch mit Verwandten ermöglicht, Ansatzpunkte einer kommenden Telemedizin beinhaltet und sogar das „virtuelle Altenheim“ in greifbare Nähe rückt. Sicherheitsaspekte, die einschlägige Literatur unterscheidet zwischen Safety und Security, werden durch Gefahrensensoren wie Wasser-, Temperatur- oder Bewegungsmelder sowie Falldetektoren und Schräglagesensoren, die eine Sturz- und Bewegungserkennung bzw. Positionsbestimmung ermöglichen, Rechnung getragen. Im Bereich Security sind Überwachungskameras, Lichtsysteme, Fensterüberwachungssysteme und andere zu nennen, die das Leben der Senioren nicht nur sicherer sondern auch angenehmer gestaltet. Ähnliche Systeme wie im Wohnumfeld können mit entsprechenden Erweiterungen auch im öffentlichen Raum eingesetzt werden. Interessanter stellen sich jedoch die rezenten Lösungen im AAL-/GT-Bereich dar, die von den Betroffenen unmittelbar am Körper getragen werden. Mittels Vitalparameter- Sensorik, die auf der Haut angebracht wird oder bereits in die entsprechende Klei- dung eingearbeitet wurde, können Werte wie Blutdruck (RR), Herzfrequenz (HF), Sauerstoffsättigung des Blutes (SpO2), Körpertemperatur (T) sowie die Atemfrequenz ermittelt, aufgezeichnet, gespeichert und an weitere Geräte beispielsweise im Hinblick auf die Nutzung der Telemedizin übertragen werden. Im Zuge der Miniaturisierung und Digitalisierung technischer Artefakte lösen sich die Grenzen zunehmend auf: Ist eine Differenzierung der AAL-/GT-Anwendungen im häuslichen Umfeld wie beispielsweise dem Smart Home und deren Nutzung im öffentlichen Bereich noch wahrnehmbar, so steigt die Tendenz der Techniknutzung nicht nur unmittelbar am Körper sondern diese auch zu inkorporieren, sie in den Körper zu integrieren. Wie bereits Kolb (2018:4) hinweist, hat die „Haut als äußere Begrenzung des menschlichen Körpers ihre Funktion verloren!“ „Die Haut kann nicht mehr als Außengrenze des eigenen Körpers gedacht werden. Vitaldaten werden extrakorporal eingesehen und es wird auf diese Daten kontrollierend und steuernd agiert […].“ (Wiegerling 2016:140) Nun kann zwar die Verschmelzung des menschlichen Körpers mit technischen Komponenten auf eine lange Geschichte zurückblicken, zu nennen sind hier beispielsweise die eiserne Hand des Gottfried („Götz“) von Berlichingen zu Homberg oder der nach Ernst Ferdinand Sauerbruch benannte „Sauerbruch-Arm“ aus dem 1. Weltkrieg, durch technische Unterstützung, die nun auch äußere Reize in den Körper leitet, wie beispielsweise einem Cochlea-Implantat oder dem „Eyeborg“ Neil Harbisson gewinnt die Cyborgisierung neu an Fahrt. Schließt Kolb (2018:4) noch mit den Worten „Der Weg zum Cyborg ist frei, wenn nicht bereits beschritten!“ kann inzwischen konstatiert werden, dass die Cyborgs unter uns leben. Es handelt sich ebenso um junge Menschen und zunehmend auch um ältere Menschen, die Cyborgisierung des Alters findet statt – Grund genug, sich dieser Thematik anzunehmen!
1.1 Motivation und aktueller Bezug
Die Motivation zur Bearbeitung des Themas „Cyborgisierung im Alter“ im Rahmen einer akademischen Arbeit basiert auf mehreren Beweggründen: Fundament ist sicherlich die eigene Ausbildung und Tätigkeit als Altenpfleger. Hier wurde der erste Kontakt zu zahlreichen technischen Geräten sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich hergestellt. Neben den üblichen Hilfsmitteln wie Badelifter, Aufstehhilfen oder elektrischen Rollstühlen, begeisterte bereits damals der Sauerbrucharm des in Lichtenfels lebenden Künstlers Hubert Weber. Etwa vier Monate dauerte die gemeinsame Zeit während einer Tätigkeit bei der Caritas- Sozialstation Lichtenfels im Jahre 2010. Der Ohnhänder Hubert Weber war auch 2004 Teil einer Betrachtung im Rahmen der Dissertation von Martin Friedrich Karpa aus Essen, die dieser zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin an der Hohen Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (Karpa 2004:191-195) einreichte und als PDF im Internet zu finden ist. Im Verlauf des eigenen Studiums des Studiengangs Master of Health Business Administration von 2015 bis 2017, speziell der Zusatzmodule „Ambient Assisted Living“ (2017) und „Telemedizin“ (2018) sowie des Studiengangs Master in Health and Medical Management von 2016 bis 2018 kam es immer wieder zu Berührungspunkten mit dieser Thematik, so dass zunächst das Interesse an Ambient Assisted Living (AAL) und Gerontechnolgie (GT) stieg und sich schließlich zur inkorporierten Techniknutzung in Gestalt der Cyborgisierung steigerte. Als sich der eigene Vater einer Hüftoperation unterzog und nunmehr durch die Implantierung einer Hüft-TEP ein Cyborg im nächsten familiären Umfeld lebte, drängte sich die Frage nach der Cyborgisierung im Alter, deren Vor- und Nachteile aber auch Folgen zunehmend auf. Letztlich muss auch der Blick auf die eigene Endlichkeit und etwaigen zukünftigen körperlichen Einschränkungen gerichtet werden, was Grund genug ist, sich dieser Thematik zu widmen.
Dabei hat die Cyborgisierung einen durchaus aktuellen Bezug: Alleine im Juli 2018 zeigte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) zwei Filme, die auf die Nutzung von Technik im Körper Bezug nehmen. Während es sich zum einen um eine kurze Sendung für Kinder handelte, ging der Film „Die Mensch-Maschine“ aus der Serie „Der Kriminalist“ diesem Phänomen nach. Der aus dem Jahre 2016 stammende Spielfilm wurde am 21.07.2018 ausgestrahlt und verfolgt den Tod des jungen Erwachsenen „Leo Grotkamp“, der mittels Implantaten die Grenzen seiner Wahrnehmung zu erweitern sucht. (Koopmann, & Pfitze 2016) Näheres hierzu ist dem Anhang 1 zu entnehmen.
1.2 Fragestellung und Zielsetzung
Die Anzahl älterer Menschen mit chronischen Erkrankungen nimmt ebenso zu, wie auch die Technisierung, Miniaturisierung und Digitalisierung in weiten Teilen des Lebens fortschreitet. Zunehmend ist der Trend zu erkennen, Technik nicht nur im Umfeld und am menschlichen Körper zu nutzen sondern diese auch zu inkorporieren. Unter dem Begriff „Cyborg“ wird das daraus entstehende Mischwesen aus menschlichem Körper und technischen Artefakten verstanden. Durch den Einsatz von Prothesen und Enhancements werden die (älteren) Menschen unter- stützt, bestehende körperliche Schwächen behoben und zukünftig wohl auch die Leistungs-fähigkeit verbessert. Dabei betrifft dies sowohl Ältere als auch derzeit noch jüngere Menschen, die im Verlauf ihres Lebens mit dieser Technik in ihrem Körper altern und schließlich selbst der Personengruppe älterer Menschen zuzurechnen sind. Die Cyborgisierung des Alters wirkt sich nicht nur auf den Gesundheitszustand und die Lebensqualität also das Erleben älterer Menschen aus. Er werden auch weite Teile der Gesellschaft und insbesondere des Gesundheitssystems beeinflusst (werden). Hier soll daher ein Überblick über den aktuellen Stand der Cyborgisierung im Alter gegeben und mögliche Auswirkungen auf das Gesundheitssystem diskutiert werden. Konkret wird auf Aufgaben und Veränderungen im Bereich der Pflege ein- gegangen.
Es ergibt sich somit die Forschungsfrage:
We lche Auswirkungen könnte die Cyborgisierung des Alters auf die Pflege mit sich bringen?
Zur Operationalisierung dieser Forschungsfrage ist die Klärung der in ihr genannten Begrifflichkeiten notwendig.
Unter dem Begriff „Auswirkungen“ sind „Folgen, Konsequenzen einer Handlung“ (Wiktionary 2018:1) also Effekte und Wirkungen (Wiktionary 2018:1) zur verstehen, die zunächst neutral und ohne jegliche Wertung anzusehen sind.
Die „Cyborgisierung“ beschreibt den Übergang vom Menschen zum Cyborg. Im Zusammenhang der Forschungsfrage, die auf die „Cyborgisierung des Alters“ abzielt, ist daher zu verstehen, wie sukzessive immer mehr Menschen im Alter zu Cyborgs werden bzw. bereits in jüngeren Jahren zu Cyborgs wurden und nun sich in der Lebensphase des Alters befinden. Eine genauere Eingrenzung und Definition des Begriffes „Cyborg“ findet sich in einem späteren Kapitel.
Für die Definition der Lebensphase „Alter“ gilt, dass es sich um einen Zeitraum han- delt, in dem Menschen ab dem 65. Lebensjahr leben. Zwar nutzt die Weltgesund- heits-organisation (World Health Organization, WHO) folgende Einteilung:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
und Zeller (2003:1) erweitert um die Begriffe „hochbetagt“ für Menschen im Alter zwischen dem 76. und dem 90. Lebensjahr und „höchstbetagt“ für Menschen im Alter zwischen dem 91. und dem 100. Lebensjahr, allerdings soll dem allgemeinen Empfinden gefolgt werden, dass es sich bei diesen Personen um sogenannte „Senioren“ handelt. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint der Begriff „Senioren“ „die zusammenfassende Bezeichnung für Menschen oberhalb eines bestimmten Lebensalters“ (Senioren 2011:1). Der Duden definiert „Senior“ vom lateinischen „senior“, also „älter“ vom Adjektiv „senex“ mit der Bedeutung „alt“ und erläutert, dass diese Bezeichnung ursprünglich der „Bezeichnung des Vaters zur Unterscheidung vom Sohn, besonders bei Gleichheit von Vor- und Zunamen […]“ (Duden 2018:1) diente. Wann im allgemeinen Befinden allerdings Menschen zu den sogenannten „Senioren“ zählen, darüber gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten. „Am häufigsten werden in Deutschland 50, 55, oder 60 Jahre als Altersgrenze genannt. Aber auch das reale Renteneintrittsalter eines Menschen wird gelegentlich als Altersgrenze angegeben, jenseits derer dieser Mensch als ‚Senior‘ gilt“ (Senioren 2011:1). Um diesem Faktor „Renteneintrittsalter“ gerecht zu werden, gelten im Rahmen dieser Arbeit, Menschen im Alter ab dem 65. Lebensjahr als der interessierenden Altersgruppe zugehörig.
Schließlich meint „Pflege“ zunächst die Tätigkeit der Pflegenden als das Formalob- jekt (obiectum formale), nämlich die Hilfe und Unterstützung bei Alltagsproblemen, am Materialobjekt (obiectum materiale) Mensch, im Sinne des Sozialgesetzbuch (SGB) - Elftes Buch (XI) - Soziale Pflegeversicherung, gleichgültig ob von ausgebildeten oder angelernten Personal der professionellen Pflege oder als Pflegeperson nach § 19 SGB XI, als auch die institutionalisierte Form in Gestalt von Pflegeeinrichtungen.
1.3 Abgrenzung
Wie noch darzustellen ist, existieren engere und weitere Definitionen um das Phänomen des Cyborgs zu beschreiben. Die hier aufgeführte Fragestellung bezieht sich daher ausschließlich auf in den menschlichen Körper implantierte Technik und schließt die rein äußerliche Techniknutzung, wie diese beispielsweise im Konzept des Ambient Assisted Living (AAL) besteht, aus. Nutzung von Technik durch ältere Menschen, insbesondere Ambient Assisted Living (AAL) und Gerontechnologie (GT) werden an anderen Stellen der Literatur eingehend beschrieben und sind daher nicht Gegenstand dieser Arbeit.
Unabhängig ist auch, ob die Menschen sich freiwillig einer Cyborgisierung unterzo- gen und mögliche Auswirkungen auf ihr Leben und das anderer zuvor abschätzen konnten oder ob aufgrund einer Notfallsituation die Cyborgisierung notwendig wurde und der einzige Schritt zur Verlängerung des Lebens war.
2 Empirische Erhebungen
Zur Vorbereitung auf die Beantwortung der Forschungsfrage und zum vertieften Einstieg wurden zwei Befragungen durchgeführt. Im Weiteren werden diese kurz vorgestellt wobei weitere Einzelheiten dem Anhang entnommen werden können.
2.1 Umfrage bei Krankenkassen
Um zunächst einen groben Überblick über den Umfang der Cyborgisierung zu erhalten wurden am 18.11.2017 insgesamt 54 Krankenkassen (Anhang 4) postalisch mittels Brief (Anhang 2) und beigefügtem Erhebungsbogen (Anhang 3) kontaktiert.
In 5 übergeordneten Items wurde gebeten, Fallzahl und Kosten bzw. Ausgaben für die entsprechenden Leistungen anzugeben. Die übergeordneten Items waren:
- Knochen- und Gelenkersatz
Hier fand eine weitere Untergliederung nach Gelenkersatz mit Auflistung der wichtigsten Gelenke, Wirbel- und Bandscheibenersatz mit Differenzierung nach Wirbelkörper- und Bandscheibenersatz und Knochenersatz mit Aufteilung nach Femur, Humerus und sonstigen Knochen statt.
- Implantierte Kunstherzen und Herzunterstützungssysteme
Dieses Item wurde zunächst nach den möglichen Varianten für Kunstherzen also LVAD, RVAD, BiVAD und TAH zur genaueren Beantwortung gesplittet und des Weiteren nach Herzschrittmachern und der Untergruppe Herzschrittmacher und Cardioverter aufgeteilt.
- Neuroimplantate (sogenannte Hirnschrittmacher)
Da sich diese nach der Art der Erkrankung unterscheiden wurden die
Unteritems Z. n. M. Parkinson, Epilepsie, Apoplex und sonstige angeboten.
- Hörhilfen
Hier wurde lediglich Fallzahl und Kosten für Cochlea-Implantate abgefragt.
- Sehhilfen
Innerhalb dieses Items konnte die Antwortoption Netzhaut-Implantat und sonstige genutzt werden.
Darüber hinaus verfügt der Fragebogen über die Möglichkeit einer Freitexteingabe am Ende unter der Rubrik „Anmerkungen“.
Der Rücklauf erfolgte im Zeitraum vom 22.11.2017 bis 05.01.2018. Insgesamt erfolgten 12 Antworten von 11 Krankenversicherungen, was einer Rücklaufquote v on 20,3% entspricht. Die Differenz von einer Antwort ergibt sich daraus, dass die bahn bkk mit E-Mail vom 22.11.2017 zunächst mitteilte, dass die Anfrage an ihr Kompetenz-Center in Münster weitergeleitet werde und die abschließende Antwort von dort per Brief am 01.12.2017 erfolgte. Der Rücklauf erfolgte über 9 E-Mails und 3 Briefe.
Keine der angeschriebenen Krankenkassen erteilte eine Antwort auf die in den Items gefragten Fallzahlen bzw. Kosten / Ausgaben. Vielmehr verwiesen die Antworten auf folgende Gründe keine weitere Auskunft zu erteilen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Anmerkung: Mehrfachnennungen möglich)
Eine Beantwortung der Items und somit dem Forschungsanliegen, einen ersten Überblick über die Dimensionen unterschiedlicher Implantate und somit der rezenten Cyborgisierung zu erhalten konnte somit nicht erreicht werden.
Als mögliche Ursachen könnten in Betracht gezogen werden:
- Einzelne Anfragen privater Forscher werden als zu gering bewertet und den
Forschern zu wenig Reputation zugemessen.
- Es bestehen tatsächlich Schranken durch den Datenschutz.
- Der Datenschutz wird vorgeschoben um nicht tätig werden zu müssen.
- Der Aufwand ist tatsächlich zu groß.
- Seitens der Krankenkassen besteht wenig / kein Interesse an solcher For- schung und den daraus ableitbaren Erkenntnissen.
Die durchgeführte Befragung zeigte, dass es für einen Einzelnen schwer ist, an entsprechende Daten zu gelangen. Deutlich einfacher wäre dies sicherlich für staatliche oder zumindest durch den Staat unterstützte Forschungsstellen. Das Argument des Datenschutzes scheint vorgeschoben zu sein. Schließlich wurden die Items so anonym und grobgerastert abgefragt, dass sich die Frage stellt, wessen Daten hier aus Sicht der Krankenkassen geschützt werden sollen. Ein rechtlicher Datenschutzaspekt ist schwer auszumachen. Glaubwürdiger wirkt die Aussage, dass die Bearbeitung mit Aufwand verbunden sei. In wie weit die innerhalb einer digitalen Welt allerdings noch nachvollziehbar ist, ist auch hier fraglich!
2.2 Befragung von Auszubildenden in der Altenpflege
Um einen Blick in die Praxis zu erhalten und auch zu sondieren, wie künftige Altenpflegefachkräfte mit der Thematik zur Cyborgisierung des Alters umgehen, fand im Zeitraum November 2017 bis Januar 2018 eine Erhebung mittels Fragebogen in insgesamt 5 Klassen einer Berufsfachschule für Altenpflege statt. Es handelte sich dabei um 2 Klassen des 1. Ausbildungsjahres, 2 Klassen des 2. Ausbildungsjahres und 1 Klasse des 3. Ausbildungsjahres (Abschlussklasse).
Der Fragebogen wurde am 11.11.2017 einem Pretest unterzogen. Testerin war eine Staatl. anerk. Altenpflegerin mit circa 16 Jahren Berufserfahrung. Der Pretest ergab eine Ausfüllzeit von 4 Minuten. Alle Fragen wurden als verständlich und einfach zu beantworten beurteilt.
Der Fragebogen (Anhang 6) weist zu Beginn einen Begrüßungstext mit kurzer Erklärung zur Thematik und der Bitte um Teilnahme auf. Im folgenden Teil A werden Angaben zur Person des Probanden wie dem Geschlecht, dem Ausbildungs- jahr und dem Geburtsjahr erhoben. Der Teil B erhebt in 11 Items Daten zum spezifi- schen Teil und schließt mit dem Dank zur Teilnahme.
Die Fragebogen wurden jeweils im Rahmen einer Unterrichtsstunde an alle anwesenden Auszubildenden verteilt. Der Rücklauf, bezogen auf die anwesenden Auszubildenden, war somit 100%. Eine Verweigerung zur Teilnahme fand nicht statt. Die Auszubildenden hatten in den davor stattfindenden Unterrichtssequenzen themenbezogene Inhalte wie beispielsweise zur Prothetik. Die Auswertung und Berechnung der statistischen Lagemaße erfolgte mit MS-Excel 2010. Zur Berechnung wurde eine gerade endpunktbenannte Intervallskala von 1 = „stimme zu“ bis 6 = „stimme nicht zu“ verwendet. Verneinungen weisen also hohe Werte, Zustimmung eher niedrige Werte auf.
Die exakte Auswertung ist aus Platzgründen dem Anhang zu entnehmen, so dass im Folgenden lediglich auf die wichtigsten Zusammenhänge eingegangen wird. Es nahmen insgesamt 73 Probanden, davon 13 männliche (h(x) = 17,8%) und 60 weibliche (h(x) = 82,2%) im Alter von 16 bis 54 Jahren (R = 38) teil. Das Durchschnittsalter lag bei MW = 27,9 Jahren (SD = 10,0; Median = 25).
Über alle 5 Klassen hinweg existieren keine größeren Unterschiede in der Ausprä- gung der Antworten, so dass hier von einer relativen Homogenität der Aussagen ausgegangen werden kann und lediglich die Gesamtdarstellung beschrieben wird. Aus den Antworten der Auszubildenden aller 3 Jahrgangsstufen ist deutlich zu entnehmen, dass eine hohe Zustimmung (MW = 2,03; SD = 0,95) besteht, dass zum Ausgleich körperlicher Defizite die Nutzung von Technik im Körper als sinnvoll (Item 1) angesehen wird. Demgegenüber werden reine Verbesserungen bestehender körperlicher Eigenschaften, wie diese beispielsweise als Enhancement der Fall sind (Item 2), abgelehnt (MW = 4,09; SD = 1,70) werden. Insgesamt stehen die Auszubildenden einer Verbindung von Mensch und Technik (Item 3) eher ablehnend (MW = 4,31; SD = 1,61) gegenüber. Deutliche Zustimmung besteht darin, dass mit der Cyborgisierung im Alter neue Aufgaben auf die Altenpflege (Item 4) (MW = 1,99; SD = 1,12) zukommen werden und diese sich auf die zukünftige Altenpflege (Item 5) (MW = 2,26; SD = 1,10) auswirken wird. Älteren Menschen, die ihr Leben verbessern möchten (Item 6) würden die Probanden mit leichter Tendenz eher abraten (MW = 3,14; SD = 1,37), was sich mit dem Antwortverhalten von Item 2 gut in Einklang bringen lässt. Auch die Zustimmung (MW = 2,06; SD = 1,23) zur Aussage, dass man sich selbst ein Implantat oder eine Prothese einsetzen ließe, sofern eine Erkrankung festgestellt würde, die sich mittels Technikeinsatz heilen oder lindern lasse (Item 7) bestätigt nochmals Item 1. Cyborgs selbst stehen die Auszubildenden unvoreingenommen gegenüber (MW = 5,76; SD = 0,84) und hätten kein Problem damit, wenn die anvertrauten Pflegebedürftigen technische Komponenten (Item 8) in sich tragen. Diese Einstellung bekräftigen sie im Item 9 „Die Vorstellung einen ‚Cyborg‘ zu pflege, würde mich belasten“ indem sie die Aussage deutlich verneinen (MW = 5,15; SD = 1,29). Mit der Thematik der Cyborgisierung im Alter (Item 10) haben sich bisher die wenigsten (MW = 5,56; SD = 1,05) auseinandergesetzt, wobei eine große Zustimmung (MW = 2,08; SD = 1,19) jedoch dafür besteht, dass den Auszubilden das Thema interessiert (Item 11).
Wird im Zuge einer Triangulation die eigene Erfahrung ins Feld geführt, so stimmen die gemachten Ergebnisse sehr gut mit der eigenen Wahrnehmung, wie sie auch durch Kollegengespräche erhoben wurden überein. Es scheint besonders im sozialen Sektor und insbesondere im Bereich der Altenpflege deutlich verankert zu sein, dass zahlreiche Mittel – somit auch die Cyborgisierung – eingesetzt werden sollen und dürfen um körperliche Gebrechen zu heilen oder zu lindern. Selbstverbesserungen wie Enhancements zum Zwecke der Leistungssteigerung oder zum Erwerb zusätzlicher Kompetenzen werden meist abgelehnt, was auch diese Erhebung gut darstellt. Dem Berufsethos folgend wird der Mensch und nicht seine technischen Komponenten in der Wertschätzung oder Ablehnung berücksichtigt.
Die folgende Abbildung stellt das Gesamtergebnis der Erhebung nochmals graphisch dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Gesamtdarstellung des Ergebnisses (Eigene Darstellung, generiert mit MS-Excel 2010)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Überblick der statistischen Lagemaße (Eigene Darstellung, generiert mit MS-Excel 2010)
3 Cyborg
Den von Filippo Tommaso Marinetti (1876 – 1944) im Jahre 1909 veröffentlichten „Manifeste des Futurismus“ (Marinetti 2018) wird die Textpassage
„ Mit uns beginnt die Herrschaft des von seinen Wurzeln abgetrennten Menschen. Die des vervielfältigten Menschen, der sich mit dem Eisen vermischt und von Elektrizität nährt. Bereiten wir die bevorstehende und unvermeidliche Verschmelzung des Menschen mit dem Motor vor.“
(Mraček 2004:166)
fälschlicherweise zugeschrieben. Inzwischen wird angenommen, dass es sich um eine Behauptung von Paul Virilio (1994:141) handelt, der dieses Zitat den Futurischen Manifesten zuschrieb. (Mraček 2004:166) Gleichwohl trifft es die heraufziehende Cyborgisierung sehr gut!
Der Begriff „Cyborg“, ein Kompositum der Wörter „cybernetic“ (Kybernetik) und „organism“ (Organismus) geht auf die beiden Mediziner Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline zurück, die diese Bezeichnung Anfang der 1960er Jahre mit der Idee in Verbindung brachten, dass ein natürlich-organischer Körper mit künstlich-technologischen Elementen möglichst friktionsfrei zu verschmelzen. (Spreen 2015:28) Die Bezeichnung „Cyborg“ (cyb ernetic org anism) lässt dabei zunächst einmal offen, um welchen Organismus es sich handelt. „Zumeist werden damit Menschen beschrieben, deren Körper dauerhaft durch künstliche Bauteile ergänzt werden“ (Educalingo 2018:1), vorstellbar sind aber auch andere Lebewesen wie beispielsweise Tiere. „Da Cyborgs technisch veränderte biologische Lebensformen sind, zählen sie nicht zu den Robotern und sollten auch nicht mit deren Untergruppe, den Androiden, verwechselt werden.“ (Educalingo 2018:1) Eine relativ einfache Definition zum Einstieg bietet Bendel (2018:1) an, indem er in einem Cyborg ein Lebewesen sieht, „das technisch ergänzt oder erweitert ist.“ Bezogen auf den Menschen ist der Cyborg
„ eine Ausprägung des Human Enhancement. Dieses dient der Vermehrung menschlicher Möglichkeiten und der Steigerung menschlicher Leistungsfähigkeit und damit – aus Sicht der Betroffenen und Anhänger – der Verbesserung und Optimierung des Menschen.“
(Bendel 2018:1)
Bendel (2018:1) weist im Weiteren bereits daraufhin, dass die Auslegung, ab welchem Grad und Zeitpunkt von einem Cyborg gesprochen werden kann, recht unbestimmt ist. So gibt es Vertreter, die davon ausgehen, dass bereits die Nutzung von Werkzeugen, Kleidung oder Verkehrsmitteln den oben beschrieben Tatbestand des technisch ergänzten oder erweiterten Menschen erfüllen. „Bei einem weiten Begriff ist bereits ein Mensch mit einem Pullover oder einem Rock ein Cyborg. Daneben können Brille und Uhr zu dieser Benennung führen, nicht erst in ihrer smarten Variante.“ (Bendel 2018:1)
3.1 Cyborgisierung nach der Art der Technik
Zur Cyborgisierung eines Lebewesens – hier eines Menschen – wird Technik eingesetzt. Dabei kann die Handlungstechnik von der Sachtechnik unterschieden werden. (Wikipedia 2018:1) Bei der Handlungstechnik oder auch Organisations- technik geht es darum, „wie“ etwas getan wird, also beispielsweise die Technik des Operierens. Sie gibt an, wie auf eine bestimmte Weise gehandelt wird. (Schulz-Scheffer 2000 zit. in Edel 2016) Die Handlungstechnik innerhalb der Cyborgisierung würde also die Frage beantworten, durch welche Maßnahmen ein Mensch zum Cyborg wurde. Demgegenüber bezeichnet die Sachtechnik die materielle Kultur (Wikipedia 2018:1), das Artefakt und beantwortet die Frage nach dem „Was?“ sowie dessen Qualität bzw. Grad der Entwicklungsreife. Die VDI-Richtlinie 3780 führt dementsprechend aus, dass
„ Technik […] die Menge der nutzenorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte oder Sachsysteme); die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen; [und]die Menge menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden [umfasst].“
(VDI 2000:4)
Zur Realisierung der Sachtechnik kann diese nach Regnier & Pynoos (1992) in drei unterschiedlichen Komplexitätsebenen unterschieden werden:
- Low technology (Werkzeuge, Fahrrad, Brille, Endoprothese, Zahnprothese, Sauerbruch-Arm)
- Mid-level technology (Auto, Bahn, Zug, Aufzug, Herzschrittmacher, Kunstherz, Wearables, Exoskelett)
- High level technology (Neuroimplantante,Neuroenhancement)
3.1.1 Human Enhancement Technologies (HET)
Im Zusammenhang mit dem Technikbegriff der Cyborgisierung taucht gelegentlich die Bezeichnung „Human Enhancement Technologies“ (HET) auf. HET bedeutet dabei so viel wie „Technologien zur Erweiterung menschlicher Fähigkeiten“. (TH 2014:1) Es geht allerdings um weit mehr als eine Erweiterung beispielsweise „zur Krafterhöhung (Kran), Geschwindigkeitserhöhung (Fahrrad, Auto), des Sehvermögens (Fernrohr, Mikroskop), zur Informationsverfügbarkeit (Internet, Augmented Reality) oder zur Verbesserung des Immunsystems (Impfung, Medikamente).“ (TH 2014:1) HET beabsichtigen die menschliche Biologie, Physiologie und Psychologie in ihren Fähigkeiten zu erweitern.
„ Als Beispiele könnten genannt werden:
- Erhöhung des Wahrnehmungsspektrums (z. B. Ultraschall, Magnetfelder, UV- und Infrarot-Strahlung etc. selbst wahrnehmen zu können)
- Erweiterung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten
- Eine direkte Kommunikation zwischen Gehirn und Computer (bspw. über Gehirn-Computer-Schnittstellen anstatt über Ein- / Ausgaben via Tastatur und Bildschirm)
- Eine signifikante Verlängerung der natürlichen gesunden Lebensspanne (z. B. durch künstliche Reparationsmechanismen oder genetische Modifikationen)
- Eine effizientere Sauerstoffversorgung des Körpers (z. B. mit noch hypothetischen künstlichen roten Blutkörperchen)“
(TH 2014:1)
Bereits heute existieren HET-Anwendungen wie krafterhöhende Exoskelette oder neuartige Prothesen, die Sportlern mit Behinderungen es ermöglichen sogar bessere Leistungen als ihre unversehrten Kollegen zu erbringen. Als Beispiel sei hier der Streit zwischen dem südafrikanischen Leichtathleten Oscar Leonard Carl Pistorius und seinem Kritiker Elio Locatelli vom Weltleichtathletikverband IAAF genannt. Im Hinblick auf bereits bestehende erfolgreiche HET-Anwendungen sind ebenso semi-therapeutische Überwachungssysteme für Körperfunktionen oder auch „Menschen, die durch Implantate neue Fähigkeiten erwerben, wie bspw. das Aufspüren von Magnetfeldern.“ (TH 2014:2) Was die ebenfalls ins Feld geführten, jedoch umstrittenen, Nootropika betrifft, so wird auf den nächsten Gliederungspunkt verwiesen.
3.1.2 Organische und pharmazeutische Technologie
Je nachdem, wie weit der Technikbegriff gefasst wird, werden von einzelnen Autoren auch organische und pharmazeutische Technologien als Möglichkeit zur Cyborgisierung angesehen. Der Übergang zwischen diesen beiden Technologien ist, wie anhand von Medikamenten aus monoklonalen Antikörpern (MAK) ersichtlich, fließend. Ebenso kann nicht trennscharf zwischen rein unter Menschen ausgetauschten Homotransplantaten und dem Austausch zwischen Tier und Mensch, der Xenotransplantation, unterschieden werden. Bei MAK wie z. B. Aducanumab werden zunächst Mäuse mit einem Antigen immunisiert um anschließend deren antikörperproduzierende Zellen zu gewinnen. Letztlich entsteht ein Medikament, dem von außen seine tierische Herkunft nicht anzusehen ist. Inwieweit solche Techniken standardisiert sind, ist daran zu erkennen, dass therapeutisch eingesetzte monoklonale Antikörper einer internationalen Terminologie der Weltgesundheits-organisation (WHO) unterliegen, die diese Nomenklatur im Annex 3 der INN (The use of stems in the selection of International Nonproprietary Names (INN) for pharmaceutical substances) (WHO 2009) fixierte. So enden die Namen aller monoklonalen Antikörper abschließend auf den Suffix „-mab“ für monoclonal antibody. (Kolb 2018a:39) „Im Gegensatz zu den meisten anderen Pharmazeutika verwendet die monoklonale Antikörpernomenklatur verschiedene vorangestellte Wortteile (Morpheme) abhängig je nach Struktur bzw. Funktion.“ (Wikipedia 2018a:1) Der Buchstabe vor der Endung „-mab“ bezeichnet dabei die Spezies von der der monoklonale Antikörper stammt.
Es gilt dabei folgende Konvention:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(WHO 2009:168)
Auch biologische Herzklappen bestehen vorwiegend aus nativen Herzklappen vom Schwein oder Herzbeutelmaterial vom Rind weshalb diese als Xenografts bezeichnet werden. (UKGM 2018:1) Spreen (1997:91) spricht hingegen ernsthafte Bedenken gegen diese Xenotransplantationen, den Einbau tierischer Organe und Hirnsubstanz in Menschenkörper aus.
„ M an hat zwar keine Probleme, abgetriebenen menschlichen Feten neuronale Substanz und hirntoten, aber ansonsten noch lebendigen Menschen, Organe zu entnehmen, aber ist es gestattet, Primaten zu züchten, um sie bei lebendigen Leibe auszuschlachten? Könnte es nicht sein, daß man dabei auf die Idee kommt, gleich eine Menschenzucht anzulegen? Anders steht es mit Xenostransplantaten, die von (evtl. genetisch manipulierten) Schweinen produziert werden, denn – so ein Gutachten des unabhängigen britischen Nuffield Council on Bioethics – ‚it is difficult to see how, in a society in which the breeding of pigs for food and clothing is accepted, their use for live-saving medical procedures […] could be unacceptable‘ (Science, Vol. 271, 8.3.1996, 1357; [Anm.: Es handelt sich um O’Brien 1996:1357] vgl. Koechlin 1996). Hier sprechen Anthropologen: Als Schweinefleisch essenendes, verdauendes und ausscheidendes Wesen, ist der Mensch Schwein.“
(Spreen 1997:91-92)
Neben diesen beiden, sich zum Teil gegenseitig bedingenden Technologien, kann eine rein chemische Substanz, die ebenso hier unter den Technikbegriff fallen kann, zur Cyborgisierung eingesetzt werden. Gemeint ist ein pharmakologisches Neuro-Enhancement, auch „Hirndoping“ genannt. Dabei ist der Wunsch zur Verbesserung der Gehirnfunktion nicht neu. (Förstl 2009) Neue Möglichkeiten eröffneten sich vor allem mit der Entwicklung der Psychostimulanzien in den 1930er-Jahren, bei denen an erster Stelle die Amphetamine standen. (Franke & Lieb 2010) „So diente etwa Metamphetamin (Pervitin®) im Zweiten Weltkrieg unter den Spitznamen Panzerschokolade oder Stuka-Tabletten als Mittel zur Dämpfung des Angstgefühls und zur Steigerung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit von Soldaten“ (Schweim 2009 zit. in Heyn 2012) Auf eine breite Palette psycho- aktiver Substanzen kann hingegen heutzutage zurückgegriffen werden. Hierzu zählen beispielsweise Psychostimulanzien, Antidementiva, Antidepressiva und Betablocker (DAK 2009; Franke & Lieb 2010) Daneben finden auch natürliche Substanzen wie Koffein oder Phytopharmaka wie Ginkgo biloba als Neuro-Enhancer Verwendung. (Heyn 2012)
3.1.3 Gentechnik
Innerhalb der derzeitigen Literatur wird der Einsatz von Gentechnik zur Cyborgisierung wenig diskutiert oder sogar davon ausgegangen, dass es sich um zwei voneinander getrennte Wege handle. So weist Friedrich (2003:19) daraufhin, dass Cyborg-Technologien zur Anpassung des Menschen an die Anforderungen seiner Umwelt zu ermöglichen. Es handle sich um die nachträgliche Manipulation der physischen Ausstattung des Menschen. „Somit konzentriert sich die Cyborg-Wissenschaft in schulmedizinischer Tradition auf die Behebung der Symptome. Die Erscheinungsform, mithin der Phänotyp eines Individuums, wird so beeinflusst.“ (Friedrich 2003:19) Im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen geht Marion Friedrich (2003:19) sogar soweit, dass sie die Gentechnologie weitgehend von der Cyborgisierung abgrenzt. Gentechnologie, so Friedrich (2003:19) setze ihren „Fokus auf die Ursachenbeseitigung. Gendefekte sollen behoben werden, bevor sie sich im Phänotyp und somit in der Erscheinungsform des Lebewesens manifestieren können.
Da beide Technologien Eingriffe in die natürliche Ausstattung des Organismus darstellen, ergeben sich aus beiden Forschungsrichtungen tendenziell ähnliche ethische Fragestellungen. Dennoch weisen die Wissenschaftsgebiete der Genmanipulation und der Cyborg-Technik […] viele konzeptionelle Unterschiede auf […].“
Friedrich (2003:19)
Prima facie und vor allem im Hinblick auf eine rein ethische Betrachtungsweise bezogen, mögen die Einwände Friedrichs zutreffen, was allerdings im Zuge der modernen gegenwärtigen und vielleicht in der zukünftigen Cyborgisierungsdebatte nicht außer Acht gelassen werden sollte, ist die Möglichkeit zur genmanipulierten Organzüchtung und damit zunächst dem Einsatz der Gentechnik um anschließend mittels dieser organischen Technologie (vgl. vorangegangenen Gliederungspunkt) zu cyborgisieren. So verfügen heute bereits transgene Mäuse über spezielle Eigenschaften, die ursprünglich außerhalb ihres Erbgutes liegen. Spezielle Gene, die für spezielle Lichtempfindlichkeiten sorgen oder das Gewebe selbst zum Leuchten bringen, werden aktuell untersucht und im Tierexperiment realisiert. Die Gentechnik kann somit dafür eingesetzt werden, organisch-pharmazeutische Technologie zu generieren und diese zur Cyborgisierung zu nutzen! Einen noch größeren Schritt geht dabei Spreen (1997:93-94) der natürlich im Begriff des Cyborgs ebenso ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Technik erkennt, jedoch mit der These provoziert, dass ja auch bereits im Vorfeld über Gentechnik und bewusste „Menschenzüchtung“ ja bereits die Komponente Mensch an die Technik und deren Nutzung angepasst werden könnte.
„ W erden in Zukunft genetische Manipulationen vorbeugend die diversen Abwehr- reaktionen therapieren, mit denen der Körper auf übermäßige Technisierung oder auf organische Fremdpartikel in seinem Inneren zu reagieren pflegt (Immunreaktionen, Phantomschmerz, Schock)? Offensichtlich ist der menschliche Körper nicht immer in der Lage zu erkennen, was gut für ihn ist, so daß es sich medizinisch-ethisch gerechtfertigt erweisen kann, einen zum Implantat passenden Körper zu züchten. Wäre es nicht verantwortungslos, kommende Generationen leiden zu lassen, indem man ihnen die Einlösung der Versprechungen des Cyborgs verwehrt?“
Spreen (1997:93-94)
Damit kann Dierk Spreen, der diese Thematik bereits 1997 zur Diskussion stellt, als eine Vordenker im Hinblick auf eine Cyborgisierung durch Gentechnik bzw. genetisches Enhancement betrachtet werden. Sorgner (2016:41-43) greift diesen Aspekt ebenfalls auf und wirft den Begriff der Eugenik in diesem Zusammenhang erneut in die Runde. Er differenziert, indem er ausführt, dass im
„ U nterschied zur staatlichen Eugenik [er verweist kurz davor auf das „Dritte Reich“], bei der der Staat entscheidet, wie und in welcher Form eine Verbesserung der Erbanlagen, und nichts anderes bedeutet das Wort Eugenik, realisiert werden soll, trifft diese Entscheidung im Rahmen der liberalen Eugenik entweder die betroffene Person selbst (autonome liberale Eugenik) oder sie wird von Eltern für ihre Kinder getroffen (heteronome liberale Eugenik).“
Sorgner (2016:42)
Es scheint damit immer deutlicher zu werden, dass einerseits von Teilen der Wissen- schaft Cyborg-Technik und Gen-Technik als zwei voneinander getrennte Entitäten angesehen werden, die Vordenker der Cyborg-Technologie und insbesondere Transhumanisten oder gar Posthumanisten hingegen erkennen in der Vernetzung beider Bereiche Synergien, die die Cyborgisierung mittels Gentechnik bzw. genetischem Enhancement fördern und sowohl quantitativ, höhere Stückzahlen führen zu einer Preisreduktion und machen damit Cyborgisierung erschwinglich, als auch qualitativ, mehr Forschung und stete Verbesserung erhöhen die Qualität, voran- treiben.
3.2 Cyborgisierung nach der Fusionsdauer
Entsprechend der Definition, nach der ein Cyborg ein Lebewesen – ein Mensch – ist, dessen natürliche Fähigkeiten durch den Einsatz von Technik erweitert werden, kann in Bezug auf die Dauer und Umkehrbarkeit der Cyborgisierung diese unterschieden werden. Folgende Differenzierung kann hierzu herangezogen werden:
Kurzfristig
Bei einer kurzfristigen Cyborgisierung erfolgt diese sehr schnell und wird bereits nach Minuten wieder rückgängig gemacht. Vorstellbar sind hier die Nutzung von Werkzeugen, Liftern oder Aufzügen.
Mittelfristig
Eine mittelfristige Cyborgisierung erfolgt meist im Bereich von Sekunden bis Minuten und verbleibt über einen Zeitraum von mehreren Minuten, eher aber über Stunden hinweg. Hier ist die Nutzung von Wearables, Fahrzeugen (auch Rollstühlen), Exoskeletten, Brillen oder Hörgeräten inbegriffen.
Langfristig
Zur langfristigen Cyborgisierung bedarf es bereits in der Vorbereitungszeit einige Minuten bis Stunden. Die Technikkomponenten verbleiben über Monate und Jahre, können aber wieder so entfernt werden, dass der Organismus ggf. wie vor der Cyborgisierung, (über)-leben kann. Hier sind implantierte Artefakte wie Cochlea- Implantate, Harnschließmuskel, Penis-Erektions-Prothesen oder implantierte Defibrillatoren zu nennen.
Dauerhaft irreversibel
Findet eine dauerhaft irreversible Cyborgisierung statt, so dauert diese meist in der Vorbereitungszeit über Stunden und verbleibt dauerhaft. Die Irreversibilität kommt dadurch zustande, dass das Entfernen der technischen Artefakte zum Tod des Cyborgs führen würde bzw. auch die vor der Cyborgisierung bestehende, eventuell geminderte Funktionsfähigkeit einer Struktur, nicht wieder herstellen könnte. Dauerhaft irreversible Cyborgisierung liegt durch den Einsatz von Knochenprothesen und -substanzersatz, Kunstherzen oder Herzklappen, Gelenk- oder Kehlkopfersatz vor.
3.3 Cyborgisierung nach dem Grad der Internalisierung
Die genutzte Technik und der Mensch können unterschiedlich miteinander verschmolzen bzw. kombiniert werden. Dabei geht es von der rein äußerlichen Handhabung einer additiven Nutzung der Technik, bei der diese beispielsweise in der Hand gehalten wird (Werkzeug, Maschine) oder der Mensch zum Cyborg wird, indem er darauf steht (Segway) oder sitzt (Rollstuhl, Lifter), die Artefakte als Add-on zu betrachten sind, über einen involventen Technikgebrauch, bei der der Mensch sozusagen in die Technik implantiert wird (wraped) wie beim Gebrauch ei- nes Autos, Flugzeuges oder Aufzugs, bis hin zur internalisierten Form, bei der die Technik teilweise (Cochlea-Implantat) oder vollständig (Kunstherz) in den menschli- chen Körper implantiert wird. Zur übersichtlicheren Darstellung dient die folgende
Abbildung, die die drei Ausprägungsgrade der Internalisierung nochmals darstellt.
Additiv (Add-on)
Die Technik befindet sich am Körper.
Werkzeug, Fahrzeug wie Fahrrad, Segway oder Motorrad, Lifter, Rollstuhl, externe Prothesen, Brille, Hörgerät, Wearables, offene Exoskelette.
Involvent (Wraped)
Der Mensch befindet sich innerhalb des technischen Artefakts.
Fahrzeug wie geschlossene Autos, Bus, Zug, Flugzeug, Aufzug
Internalisiert (Internal)
Die Technik ist ganz oder teilweise inkorporiert. Interne Prothesen (TEP), Neuroimplantate, Herzschrittmacher, Kunstherz, Knochenersatz, im- plantierte Zahnprothese.
Abb. 2: Ausprägungsgrade der Internalisierung (Eigene Darstellung)
4 Cyborgisierung
Wie dargestellt wurde, kann die Cyborgisierung eines Menschen unter mehreren Aspekten betrachtet werden. Doch auch die Frage, wann denn nun tatsächlich ein Cyborg entstanden ist, kann unter Verwendung unterschiedlich weitgehender Definitionen ambivalent ausfallen. Wer hier die Wahrheit sucht, wird sie aufgrund einer fehlenden allgemeingültigen Nominaldefinition nicht finden. Eine Definition des Begriffes „Cyborg“ kann immer nur eine Realdefinition sein, die zur Festsetzung des Cyborg-Begriffs innerhalb einer festgesetzten Limitierung den Sachverhalt bzw. den Forschungsgegenstand beschreibt. Günstig zum Verständnis hierfür ist die sogenannte Fuzzy-Logik – auch „Logik der Unschärfe“ – wonach die Frage zum Beginn und Ende eines Cyborg-Daseins beschrieben werden kann. Sofern ein Problem in normaler Sprache beschrieben werden soll, erstellen wir ein verbales Modell der Situation, das deren Komplexität auf ein überschaubares menschliches Maß reduziert. Die drei Unsicherheitsquellen (1.) Komplexe Ausgangssituation, die nicht genau beschrieben werden kann; 2.) Eigene Unsicherheit über die zu beschreibende Entität und 3.) Unsicherheit über unbekannte Dinge und die Zukunft) hindern uns nicht, Entscheidungen zu fällen, die dann aber nicht eindeutig beschrieben werden können. Dabei ist Präzision über ein gewisses Maß hinaus auch nicht sinnvoll, wie der Begründer der Fuzzy Logic, der Mathematiker Lotfi A. Zadeh von der Universität von Kalifornien in Berkeley, 1973 in seinem „Prinzip der Inkompatibilität“ dargelegt. (Zimmermann 1993:90)
Denn in
„ d e m gleichen Maße, in dem die Komplexität eines Systems steigt, vermindert sich unsere Fähigkeit, präzise und zugleich signifikante Aussagen über sein Verhalten zu machen. Ab einer gewissen Schwelle werden Präzision und Signifikanz (Relevanz) fast sich gegenseitig ausschließende Eigenschaften.“
(Zimmermann 1993:90)
Die Abbildung 3 zeigt zum einen die dichotome Sichtweise, nachdem es sich entweder um Mensch, Cyborg oder Roboter – im hier diskutierten Fall exakter um Androiden also menschenähnliche Maschinen handelt und darunter den Aspekt der Cyborgisierung unter zunehmender Technisierung aus Sichtweise der Fuzzy-Logik.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Dichotome Sichtweise und Sichtweise der Fuzzy-Logik auf die Cyborgisierung durch zunehmende Technisierung (Eigene Darstellung)
4.1 Gründe zur Cyborgisierung
Um zu verstehen, warum Menschen zu Cyborgs werden, welche Motivation dahinter steckt, werden im Folgenden mögliche Gründe zur Cyborgisierung dargestellt. Sicherlich existieren neben diesen auch Mischformen.
De Almeida Vieira Monteiro & Curado (2016:145) identifizieren in ihrem Essay folgende vier Gründe:
- Restorative (Restaurierung – Wiederherstellung eines ehemaligen Zustandes)
- Normalizing (Normalisierung – Herstellung eines normalen Funktionszustandes)
- Reconfiguring (Rekonfigurieren – Anpassung an neue Anforderungen)
- Enhancement (Erweiterung – Verbesserung eines funktionstüchtigen Zustandes)
(de Almeida Vieira Monteiro & Curado 2016:145)
Und sie verweisen im Weiteren auf die heutige Trivialität solcher Maßnahmen indem sie zusammenfassen:
„ T hese processes, which began with the emergence of modern medicine at the dawn of technical rationality, are now completely trivial. The beginning and end of human life, the possibilities of extending life through aggressive biotechnologies, the reconfiguration of biologically predetermined standards or the limits of body plasticity are issues that pose new questions about the meaning of person-centered care.”
(de Almeida Vieira Monteiro & Curado 2016:145)
Bevor nun die von de Almeida Vieira Monteiro & Curado (2016:145) genannten Gründe zur Cyborgisierung kurz vorgestellt werden, ist zu betonen, dass diese nicht immer trennscharf voneinander unterschieden werden (können) – es handelt sich sozusagen auch hier um „Mischwesen“.
4.1.1 Restaurierung – Wiederherstellung eines ehemaligen Zustandes
Der Duden beschreibt das Verb „restaurieren“ damit, dass „ein schadhaftes, unansehnlich gewordenes, […] Bauwerk“ wiederhergestellt, „wieder in seinen ursprünglichen Zustand“ (Duden 2018a:1) gebracht wird und gibt als Synonyme Verben wie „aufarbeiten, […], ausbessern, […] reparieren, […] sanieren, […] wiederherstellen; […] [oder] richten“ (Duden 2018a:1) an. Bei einer restaurativen Cyborgisierung liegt der Grund folglich darin, dass der Mensch einen Zustand, eine Funktion hatte, diese verloren ging und nun mittels eines technischen Artefakts dieser ehemalige Zustand oder die ehemals vorhanden Funktion wiederhergestellt wird. Additiv handelt es sich vor allem um die bereits sehr alten Prothesen, zunehmend werden diese internalisiert, dass unter dieser Rubrik auch Gelenk- und Knochenersatz oder Kunstherzen zu nennen sind.
4.1.2 Normalisierung – Herstellung eines normalen Funktionszustandes
Ist der Grund zur Cyborgisierung in der Herstellung eines normalen Funktions- zustandes zu suchen, ist diese eng mit einer Therapie (Treatment) assoziiert, Hier sind im Bereich der genutzten Technik Add-ons wie Brillen oder Hörgeräte, im inkorporierten Spektrum Neuroimplantate bei Morbus Parkinson oder Epilepsie aber auch Herzschrittmacher oder die Anlage eines Shunts bei Normaldruck- Hydrocephalus zur Ableitung überschüssigen Hirnwassers (Liquor cerebrospinalis) zu nennen. Kombinationen mit restaurativer Cyborgisierung im Bereich von Penisprothesen oder Harnschließmuskeln sind ebenso denkbar.
4.1.3 Rekonfigurieren – Anpassung an neue Anforderungen
Je nachdem, wie weit der Begriff der Sachtechnik ausgelegt wird und ebenso, je nach Weite des Cyborg-Begriffes besteht die (re)konfigurative Cyborgisierung bereits seit Langem! So bezeichnet das Verb „konfigurieren“, dass etwas neu angeordnet bzw. neu gestaltet wird bzw. durch „Ergänzung von Modulen“ an neue Anforderungen angepasst wird um die eigentliche „Funktionsfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen“. (Duden 2018b) Ein hier tangierter Bereich ist die Nutzung von Kleidung durch den Menschen. Im Prinzip ist jedes hergestellte Kleidungsstück geeignet, den Menschen an neue Anforderungen, vor allem Kälte und Nässe anzupassen. Ein Zwischenschritt der „einfachen Funktionswäsche“ (Funktionstextilien), die meist aus Chemiefasern hergestellt wird, ist beispielsweise Gore-Tex® mit der Membran Sympathex®. Hier beruht „die Technik“ darauf, dass die Gore-Tex®-Membran aus 0,2μm großen Poren besteht und somit wesentlich kleiner als Regentropfen (ca. 2mm) sind. Somit können die Wassertropfen aufgrund ihrer Größe nicht eindringen, der Schweiß hingegen, verdunstet zu Wasserdampf und kann nach außen gelangen. (Paaßen & Paaßen 2010:1) Allerdings ist die Bekleidungsindustrie bereits viel weiter und bietet inzwischen „Smart Clothes“ (Wearables) an. Hierunter ist Bekleidung mit intelligenter Funktion zu verstehen und vor allem deshalb „smart“ weil intelligente, meist elektronische Komponenten (Electronic wear) integriert sind. So werden unter der Kategorie Smart Clothes unter anderem folgende Funktionen angeboten:
- Leuchtende Textilien
- Integration von Elektronikmodulen
- Energieerzeugende Textilien
- Identifizierende Textilien
- Schützende Textilien
- Stoffabgebende Textilien
- Adaptive Textilien
- Sensorische Textilien
- Wärmende / heizende Textilien
(Wikipedia 2018b:1)
Die folgende Abbildung zeigt die Smart Jacket 2.0 der Firma Hallam P. und verdeutlicht, welche Möglichkeiten (angegeben werden insgesamt 40 Funktionen) in zukünftigen Smart Clothes als Wearables zur (re)konfigurative Cyborgisierung zur Verfügung stehen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Hallam Smart Jacket 2.0 (Hallam 2018:1)
Neben diesem, recht augenscheinlichem Aspekt, weist Haller (2015) daraufhin, dass Kleidung, insbesondere Mode, überdies Hybride, sie spricht dabei häufig von „Mode-Körper-Hybride“ erzeugt. Mode bzw. Kleidung, lediglich durch eine ephemere Grenze differenziert, verändert nach ihrer Ansicht den menschlichen Körper.
Dem zugrunde liegt die These, dass die Materialität von Mode/Kleidung Mode-Körper- Hybride konstituiert, die in der Verbindung mit Mode/Kleidung-tragenden Körpern entstehen. Das Verhältnis von Mode und Körper wurde weder in der Modetheorie, noch in der Körpersoziologie bislang ausgiebig aufgearbeitet […].“
(Haller 2015:190)
Haller (2015:190) stellt dabei die Frage, ob Kleidungsstücke dabei selbst körperlich werden. Durch die Materialität der Modekleidung kann sich diese zu einer Skulptur verselbständigen und den menschlichen Körper zum Trägerobjekt reduzieren, der als raumgebendes Element benötigt wird. Dadurch kann Mode in der Zuspitzung dieser Betrachtung nicht nur den Körper „machen“ sondern tut dies tatsächlich, so dass dieser als „Modekörper“ (Hybrid) in Erscheinung tritt. (Lehnert 2013:52)
[...]
- Quote paper
- Horst Siegfried Kolb (Author), 2019, Die Cyborgisierung des Alters, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/463158
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