In dieser Arbeit werden verschiedene Forschungspositionen aus den letzten vier Jahrzehnten zu Kafkas „Die Verwandlung“ im Hinblick auf die Annahme einer Schuld in der Erzählung betrachtet, miteinander verglichen und auf ihre Schlüssigkeit hin überprüft. In Bezug auf die Frage nach einer Schuld Gregors Samsas werden Analysen, die rein werkimmanent argumentieren genauso herangezogen, wie psychoanalytische, metaphysische und biographische Deutungsansätze.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Die Forschungspositionen
1.2 Schuld als Grundelement
2. Die Arbeitsmisere des Handlungsreisenden
2.1 Politzers Existenzverfehlungsthese
2.2 Ein schwerwiegendes Versäumnis
2.3 Kritische Betrachtung der Positionen Politzers und Schlingmanns
2.4 Der Konsens
3. Individuelle oder kollektive Schuld?
3.1 Ruf, Emrich, Politzer: Drei Positionen im Vergleich
3.2 Ruf: Ein perfider Betrug
3.3 Kritische Betrachtung der Position Rufs
3.4 Emrich: Lüge und Schuld im Konflikt zwischen Arbeit und Ich
3.5 Kritische Betrachtung der Position Emrichs
3.6 Politzer: Dem Geschäft verpfändet
4. Sexualität
4.1 Triebverdrängung
4.2 Inhaltsleere Existenz
4.3 Kritische Betrachtung der Positionen Politzers und Schlingmanns
4.4 Hiebel: Ein psychoanalytischer Ansatz
4.5 Kritische Betrachtung der Position Hiebels
5. Metaphysische Ansätze
5.1 Der Apfel als Sinnbild für Schuld und Erkenntnis
5.2 Kritische Betrachtung der Position Politzers
5.3 Die Umkehrung des Sündenfalls
5.4 Kritische Betrachtung der Position Schlingmanns
5.5 Keine Erbsünde
6. Fazit
Literaturliste
1. Einleitung
1.1 Die Forschungspositionen
In dieser Arbeit werden verschiedene Forschungspositionen aus den letzten vier Jahrzehnten (1961-2004) zu Kafkas „Die Verwandlung“, im Hinblick auf die Annahme einer Schuld in der Erzählung, betrachtet, miteinander verglichen und auf ihre Schlüssigkeit hin überprüft. Im Bezug auf die Frage nach einer Schuld Gregor Samsas, werden rein werkimmanent argumentierende Interpretationen genauso herangezogen, wie psychoanalytische, metaphysische und biographische Deutungsansätze. In 1.2 erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über die in dieser Arbeit dargestellten Forschungspositionen.
1.2 Schuld als Grundelement
Heinz Politzer hat in seinem 1965 veröffentlichten Aufsatz zur „Verwandlung“ darauf hingewiesen, dass die Schuld des Helden das „Grundelement“ dieser Erzählung Kafkas sei. Dabei scheine jedoch „die allmähliche Ent-Wicklung der Antwort auf diese [Schuld-]Frage […] souverän vernachlässigt.“[1] So finde sich der Leser in der „unbequemen Lage eines Detektivs, der den Verbrecher in sicherem Gewahrsam vor sich sieht, jedoch über die Schuld dieses Verbrechers und die Berechtigung seiner Verfolgung in völligem Zweifel schwebt.“[2]
Wie Politzer selbst, so betätigten sich eine Reihe von Interpreten – von Wilhelm Emrich (1961) über Carsten Schlingmann (1968), Urs Ruf (1974) und Hans Hiebel (1987) bis Hartmut Binder (2004) – als Detektive und haben auf unterschiedlichste Weise versucht, die Schuld des Verbrechers Gregor Samsa entweder zu ergründen, zu relativieren oder aber vollkommen zu negieren.
Eine Reihe von Interpreten (Politzer, Schlingmann, Emrich, Ruf) haben dabei das Verhältnis Gregors zu seiner Arbeit als entscheidenden Orientierungspunkt im Bezug auf eine potentielle Schuld des Handlungsreisenden gesehen. Dieser Aspekt bildet den ersten großen Komplex dieser Arbeit. Den zweiten Analysekomplex bildet – ebenfalls im Zusammenhang mit dem Verhältnis Gregors zu seinem Beruf – das Verhältnis Gregors zu seiner Familie (dazu Schlingmann, Emrich, Ruf, Politzer). Daran schließt sich eine Betrachtung des Aspektes von Sexualität und Schuld an (hierzu Hiebel, Politzer, Schlingmann), die den dritten Komplex dieser Arbeit bilden wird. Zuletzt erfolgt eine Darstellung des Versuchs, anhand eines metaphysischen Interpretationsansatzes (dazu Politzer, Schlingmann) die Schuld des Handlungsreisenden zu erklären, bzw. sie vollkommen in Frage zu stellen (hierzu Binder).
Jeder dieser vier Komplexe ermöglicht dem Rezipienten eine bestimmte Lesart der „Verwandlung“ im Hinblick auf das Thema Schuld. Welcher Ansatz oder aber welche Lesart im Rahmen dieser Thematik die plausibelste ist wird, hier im Folgenden überprüft.
2 Die Arbeitsmisere des Handlungsreisenden
2.1 Politzers Existenzverfehlungsthese
Politzer und Schlingmann sehen beide in dem Verhältnis Gregors zu seiner Arbeit einen Hinweis auf eine Schuld des Handlungsreisenden. Beide Interpreten verdeutlichen den Charakter dieses Verhältnisses anhand des Motivs der Zeit, vertreten dabei allerdings völlig gegensätzliche Auffassungen über dessen Bedeutung. Während Politzer die Schuld Gregor Samsas in einer Existenzverfehlung vermutet, die u.a. aus einer selbstverschuldeten, von der Zeit diktierten und von Gregor verhassten Lebensführung resultieren könnte, vertritt Schlingmann die Position, dass Gregor Schuld auf sich geladen habe, gerade weil er an jenem Morgen, an dem er sich in ein „ungeheures Ungeziefer“[3] verwandelt hat, verschlafen habe, somit aus jenem von der Zeit diktierten Lebensrhythmus ausgebrochen und auf diese Weise zu einem unnützen Mitglied der Gesellschaft, zu einem Ungeziefer geworden sei.
Politzer weist darauf hin, dass sich Gregor einem „merkantilen Betrieb […] verdungen“[4] habe und macht mit dieser Formulierung unmissverständlich klar, dass die Handlung des Sich-Einordnens in den Betrieb, also des sich „Verdingens“, von Gregor selbst ausgeht, dass Gregor eigenverantwortlich handelt. Gregor „verdingt“ sich diesem Beruf, obgleich dieser ihm ein „graue[s] und reglementierte[s] Dasein [aufzwingt]“[5]. Seine Existenz werde von einer Arbeit beherrscht, die er als „kalt“ und „regelmäßig“, wie das „unaufhörliche Ticken des Weckers“[6], empfinde. Dabei werde das „Ziffernblatt des Weckers [..] zum Rad der Zeit, an das der Handlungsreisende Gregor Samsa gefesselt ist“[7]. Man könnte auch, die Aussage Politzers nuancierend, sagen, dass sich Gregor Samsa selbst an das Rad der Zeit gefesselt hat.
Mit diesem Gefühl des „Gefesseltseins“, von dem Politzer spricht, wird Gregors Abneigung gegen diese, von der Zeit diktierte Lebensführung, angedeutet. Diese Abneigung lässt sich anhand von Textstellen genauso plausibel belegen, wie Gregors Unfähigkeit, sich aus diesem System zu befreien: Gregor klagt zwar, dass ihn „[dies] frühzeitige Aufstehen […] ganz blödsinnig [mache]“ und dass der Mensch „seinen Schlaf haben [müsse]“, dennoch kann er fortlaufend nur in Zeitkategorien denken. So stellt Politzer fest, dass „der Versuch des Ungeziefers, das Bett zu verlassen […] ununterbrochen von Zeitangaben begleitet [wird]“.[8] In der Erzählung heißt es: „Es war halb sieben Uhr […], es war sogar halb vorüber, es näherte sich schon dreiviertel […]. Der nächste Zug ging um sieben Uhr […]. Gerade schlug der Wecker dreiviertel Sieben […]. Schon sieben Uhr’, sagte er sich beim neuerlichen Schlagen des Weckers, ‚schon sieben Uhr’ […] ‚Ehe es einviertel acht schlägt, muß ich unbedingt das Bett vollständig verlassen haben’“[9].
Gregor hat, Politzer deutet es mehrfach an, sein Leben, seine ganze Existenz nach den Zeigern seiner Uhr ausgerichtet, sich – drastisch gesprochen – einer Diktatur der Zeit unterworfen, sich einem System „verdungen“, das er als eine „Fessel“ empfindet, aus dem er sich aber nicht löst. Gregor entsagt dem „verhaßten Broterwerb“ nicht und trifft keine „freie Entscheidung“, um einem „‚ersehnten unbekannten’ Beruf“[10] nachzugehen. Stattdessen führt er eine reglementierte, graue Existenz, in der er unterdrückt wird und die ihm verhasst ist. Politzer sagt später, im Bezug auf diese Lebensführung, dass „Gregor nicht gelebt [habe]“[11]. In diesem „Nicht-Gelebt-Haben“, dieser „tödlich verfehlte[n] Existenz“[12] vermutet der Interpret Gregors Schuld.
2.2 Ein schwerwiegendes Versäumnis
Schlingmann stellt die Schuld Gregor Samsas ebenfalls in einen Kontext mit der Zeitproblematik, leitet sie aber – anders als Politzer – aus einem Versäumnis ab: Gregor habe „die Zeit um mehrere Stunden verschlafen […]. Durch diesen einen Verstoß gegen seine Pflicht dem Beruf und der Familie gegenüber wird aus ihm, dem ausschließlich ‚nützlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft’, das Nutzloseste, was es in unseren Augen gibt: ein Ungeziefer.“[13]
Gregor mache sich demnach gerade deshalb schuldig, weil er es gewagt habe, durch sein Verschlafen seinem, von der Zeit diktiertem Dasein zu entgehen. Dabei wird die Verwandlung hier als eine Strafe für Gregors Schuld, für sein, wie Schlingmann es formuliert, „schwerwiegende[s] Versäumnis“[14] gedeutet. Allerdings revidiert Schlingmann diesen Interpretationsansatz auch ein Stück weit, wenn er sagt, dass „das Versäumnis [Gregors] nicht nur die peinliche Folge seiner Verwandlung, sondern zugleich auf eine geheimnisvolle Weise auch eine ihrer Ursachen [sei]“[15].
2.3 Kritische Betrachtung der Positionen Politzers und Schlingmanns
Politzer vertritt eine These die – wie sich gezeigt hat – einer textimmanenten Überprüfung standhält. Dem Wortlaut des Textes wird nicht widersprochen und es wird sich in den folgenden Kapiteln noch zeigen, dass sich Politzers Existenzverfehlungsthese auch auf weitere Aspekte der Erzählung, im Hinblick auf die Schuldfrage, plausibel anwenden lässt.
Schlingmanns Position hingegen ist problematisch: Wenn Gregors Verwandlung auf „geheimnisvolle“ Weise zugleich die Folge und die Ursache seines Versäumnisses ist, dann wird Gregor verwandelt, weil er verschläft und verschläft, weil er verwandelt wird. Da aber Schlingmann darauf verzichtet, dieses „geheimnisvolle“ Paradox aufzulösen, bleibt die Frage nach der Schuld des Handlungsreisenden unentschieden: Verschläft Gregor, weil er sich verwandelt hat, so trägt er keine Schuld an seinem Versäumnis. Verwandelt er sich hingegen, weil er verschläft, so könnte die Verwandlung Gregors als Strafe und somit als ein Hinweis auf seine Schuld in Betracht gezogen werden. Wenn nun Schlingmann von einem Schuld-Strafe-Mechanismus in der Erzählung ausgeht, so impliziert er die Schuld, aber nicht die Unschuld des Handlungsreisenden. Somit stellt der Interpret seinen eigenen Interpretationsansatz in dem Moment in Frage, in dem er eine Unschuld Gregors in Betracht zieht.
Dennoch erscheint die Auffassung, es handle sich bei der Verwandlung Gregors um einen Schuld-Strafe-Mechanismus, der bei Schlingmann – zwar mit Vorbehalten, aber immerhin – angedeutet wird, um einen plausiblen Interpretationsansatz. Denn die Tatsache, dass Kafka zeitweilig plante, die „Verwandlung“ „als Teil eines Buches zu veröffentlichen, das den Titel ‚Strafen’ tragen sollte“[16], legt den Deutungsansatz nahe, dass es sich bei der Verwandlung um eine Strafe handeln könnte – insbesondere Binder (vgl. FN 17) hat sich mit dieser Thematik sehr ausführlich auseinandergesetzt.[17]
2.4 Der Konsens
Zwischen den beiden Positionen Politzers und Schlingmanns besteht, bei aller Gegensätzlichkeit, allerdings auch ein Konsens: Beide sehen den Handlungsreisenden in einer Arbeitsmisere und beide wählen diesen Aspekt als Grundlage für ihre Schuldthesen. Somit stellt sich aber zwangsläufig die Frage, wer die Schuld an diesen Lebensumständen Gregors trägt. Denn ist die Existenzmisere des Handlungsreisenden selbstverschuldet, so ist die Frage nach einer Schuld geklärt, stellt sich aber heraus, dass der Zwang der Arbeit, dem Gregor sich aussetzt, kollektiv oder gar von der Familie allein verschuldet ist, so würde dieser Sachverhalt Gregor zumindest ein Stück weit entlasten. Im folgenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob Gregors Lebensmisere individuell oder kollektiv verschuldet ist und in diesem Zusammenhang das Verhältnis des Handlungsreisenden zu seiner Familie betrachtet.
3 Individuelle oder kollektive Schuld?
3.1 Drei Positionen im Vergleich
Während Ruf vermutet, dass Gregor einen perfiden Plan verwirklichen wolle und jene Arbeitsmisere, in die er gerate, eine selbstverschuldete Begleiterscheinung dieses Plans sei, führt Emrich Gregors Misere, die er als „Konflikt zwischen Arbeit und Ich“[18] bezeichnet, auf eine tief in der Familienstruktur verwurzelte Lüge zurück, an der sowohl die Eltern als auch Gregor selbst schuld seien. Politzer hingegen schreibt den Eltern die Hauptschuld an Gregors Lebensmisere zu – ohne den Handlungsreisenden jedoch zu entlasten.
[...]
[1] Politzer, Heinz: Franz Kafka, der Künstler. Frankfurt am Main 1965, S. 104.
[2] Ebd.
[3] Kafka, Franz: Die Verwandlung. In: Kafka, Franz: Erzählungen. Hrsg. v. Müller, Michael. Stuttgart 1995, S. 67.
[4] Politzer (wie Anm. 1), S. 106.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 105.
[8] Ebd., S. 105-106.
[9] Kafka (wie Anm. 3), S. 69-72.
[10] Politzer (wie Anm. 1), S. 121.
[11] Ebd., S. 124.
[12] Ebd.
[13] Schlingmann, Carsten: Die Verwandlung. In: Interpretationen zu Franz Kafka. Das Urteil. Die Verwandlung. Ein Landarzt. Kleine Prosastücke. München 1968, S. 122.
[14] Ebd.
[15] Ebd.
[16] Binder, Hartmut: Die Verwandlung. Entstehung. Deutung. Wirkung. Frankfurt am Main und Basel 2004, S. 479.
[17] Der Theorie eines Schuld-Strafe-Mechanismus widerspricht Binder entschieden: Der Hauptfehler der meisten Interpreten bestünde darin, dass sie „ohne nähere Prüfung voraussetzten, Kafka bilde in der Verwandlung eine gerechte Welt ab, in der Schuld und Strafe in einem ethisch begründbaren Verhältnis zueinander stünden.“ (Binder (wie Anm. 16), S. 479) Binder wirft den Interpreten, die solche Vorstellungen vertreten, vor, dass sie sich nicht die Frage stellten, „ob Schicksale anderer Art denkbar seien, die Kafka möglicherweise als Erzählgegenstand reizten.“ (Ebd.) In einem Tagebucheintrag Kafkas vom 13. Dezember 1914, sieht Binder einen Hinweis auf die Irrigkeit dieser Vorstellung, dass die fiktiven von Kafka dargestellten Welten als gerechte aufgefasst werden könnten. Kafka vermerkte in seinem Tagebuch, im Bezug auf die von ihm bisher verfassten Sterbeszenen: „An allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt, daß es ihm sehr schwer wird, daß darin ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser meiner Meinung nach rührend wird.“ (Kafka, Franz: Tagebücher in der Fassung der Handschrift. Hrsg. von Koch, Hans-Gerd, Müller, Michael und Pasley, Melcolm. New York 1990, S. 708.) Dass Kafka bei dieser Formulierung u.a. „an Gregor Samsa gedacht haben muß, ist offensichtlich.“ (Binder, S. 480) Wenn nun im Tod der Figuren ein „Unrecht und wenigstens eine Härte“ liege, so könne das nur bedeuten, „daß dieser Sachverhalt, auch und gerade in der Verwandlung, als schweres Schicksal erscheinen sollte, das nicht unter der Herrschaft zwingender Gerechtigkeit steht.“ (Ebd.) Zudem belege der „Brief an den Vater“, dass das in der „Verwandlung“ „dargestellte Strafmuster eine Urerfahrung Kafkas zum Ausdruck bringt, die sein Lebensgefühl seit der frühesten Kindheit bestimmte.“ (Ebd.) So habe Kafka stets die Vorstellung gehabt, von seinem Vater, „fast ohne Grund“ (Koch, Hans-Gerd (Hrsg.): Franz Kafka: Brief an den Vater. Wagenbach 2004.), auf „schreckliche Weise bestraft worden zu sein.“ (Ebd.) Diese Erlebnisse hätten dazu geführt, dass die andauernde Unzufriedenheit des Vaters mit dem Verhalten seines Sohnes, in dem Sohn „Schuldgefühle hervorriefen, denen keine Taten entsprochen hatten.“ So habe Kafka, wenn er z.B. den Zorn Felicens erregt hatte, sich „schuldig [gefühlt] und bereute, ohne Schuld auf sich geladen zu haben.“ (Ebd.)Angesichts dieser Sachverhalte liege es nahe, dass Kafka in seiner Erzählung, die er in dem Sammelband „Strafen“ veröffentlichen wollte, „ungerechtfertigte Bestrafungen“ darstellen wollte. (Ebd., S. 481.) Gegen eine Schuldthematik in der „Verwandlung“ bringt Binder eine Reihe starker Argumente auf und sicherlich kann einem biographischen Ansatz, wie ihn dieser Interpret vertritt, nicht ohne weiteres widersprochen werden – denn Kafka gibt Binder durch seine eigenen Äußerungen im Endeffekt recht. Dennoch bleibt es ein fragwürdiges Unterfangen, werkimmanente Bezüge bei der Interpretation eines Werkes vollkommen auszusparen und sich vollkommen auf biographisches Material zu verlassen – insbesondere auf solches, das z.T. Jahre nach der Erzählung selbst aufgeschrieben wurde, denn somit muss, im Bezug auf die Intention der Erzählung, die Frage offen bleibt, ob Kafka während des Schreibprozesses die gleiche Auffassung über die Bedeutung der von ihm verfassten Sterbeszenen vertreten hat, wie zu jenem Zeitpunkt, als er den „Brief an den Vater“ verfasste oder seine Tagebucheinträge niederschrieb. Zudem hat Binder eine ganze Reihe von Forschungspositionen zur Schuldthematik nicht berücksichtigt. So widerspricht Binder zwar generell dem Schuldaspekt in der „Verwandlung“, jedoch ohne z.B. eine Existenzverfehlungsthese Polizers, die sich – wie bereits gezeigt wurde – bei textimmanenter Überprüfung als durchaus plausibel erweist, außer Kraft zu setzen: Binder hat diese gar nicht berücksichtigt. Zu dem Aspekt Arbeit und Schuld äußert er sich genauso wenig. Somit zeigt sich, dass einem biographischen Ansatz, wie er von Binder vertreten wird, zwar nur schwerlich widersprochen werden kann, weil es an Gegenbeweisen fehlt, dass ihm aber auch nicht unbedingt zugestimmt werden muss, weil er, wenn er werkimmanente Aspekte ausspart, niemals den Gesamtkomplex dieser Thematik fassen und somit auch nicht den Schuldaspekt einfach negieren kann.
[18] Emrich, Wilhelm: Franz Kafka. 3., unveränderte Auflage. Frankfurt am Main 1961, S. 118.
- Quote paper
- Benjamin van Well (Author), 2005, Forschungspositionen zum Aspekt der Schuld in Kafkas "Die Verwandlung" in kritischer Sicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45981
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