Krabben, Scheren und Dämonen

Zur Phänomenologie ozeanischer Segel


Essay, 2019

15 Seiten


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Leseprobe


KrabbenScherenundDämonen

Zur Phänomenologie ozeanischer Segel

Michel Felgenhauer, Berlin im Herbst 2018

Das Krabbenscherensegel (crabs claw sail) stammt aus Polynesien und wird auf Auslegerkanus (Proas) verwendet. Als der holländische Seefahrer und Entdecker Abel Tasman (*1603, †1659) im Jahre 1642 als erster Europäer Neuseeland erreichte war die Technik der Proas schon seit hunderten von Jahren wenn nicht seit Jahrtausenden entwickelt und etabliert. Die maritime Technik der Polynesier wurde nicht durch Schrift und Zeichnung von einer Generation zur nächsten übergeben, sondern durch Werk und Erzählung. Fundorte an der Westküste Perus weisen darauf hin, dass die Krabbenscherensegel der polynesischen Seefahrer schon vor 2000 bis 2700 Jahre vor unserer Zeitrechnung als tradierte Form und funktionstüchtige maritime Technik gegolten haben dürfen, letztendlich als resiliente Fahrsysteme mit Heimkehrvermögen. Die exzellente Technik der Polynesier und der Völker des pazifischen Raums, insbesondere die Navigations- und Schiffstechnik wurde von den Entdeckern in ihrer Exzellenz und Leistungs- fähigkeit vollkommen unterschätzt, missachtet, und mit einer gewissen Selbstgefälligkeit ignoriert, wohl weil diese merkwürdige Herangehensweise an Mobilitätsaufgaben den Konstruktionsparadigmen der alten Welt dieser Zeit nicht entsprach. Erst in jüngerer Zeit wurden theoretische Erklärungen der physikalischen Wirkungsweise und messtechnische Untersuchungen zur Leistungsermittlung der Krabbenscheren-segel unternommen (siehe auch: Marchaj, C. A. Sail Performance: Techniques to Maximise Sail Power [Marc-03]). Die Ergebnisse rezenter Forschung legen den Schluss nahe, dass von einem erheblichen Leistungs- und Effizienzpotential der Krabbenscherensegel ausgegangen werden muss. Allerdings geht die bekannt gewordene Forschung von der Interpretation des Krabbenscheren-Riggs als "Delta-Tragfläche" aus. Dies trifft für eine ganz bestimmte Betriebsart dieser Segel zu nämlich dann, wenn die geneigt liegende Dreiecksform, am Wind gefahren wird. In historischen Überlieferungen, Zeichnungen, Graphiken und Stichen der westlichen Seefahrer und Entdecker wird aber häufig die aufrecht stehende Dreiecksform der Krabbenscherensegel im Betrieb, am Wind und vor dem Wind gefahren, wiedergegeben.

Die Argumentation zur aerodynamischen Wirksamkeit der Krabbenscherensegel als geneigt liegende dreieckige und am Wind gefahren Deltaflügelform, ist Stand der Wissenschaft und kann der einschlägigen Literatur entnommen werden [Marc-64] [Marc-97] [Marc-00]. Für Beschreibung der aerodyn- amischen Wirksamkeit der Krabbenscherensegel als im Betrieb aufrecht stehende Dreiecksform, am Wind und vor dem Wind gefahren, werde ich die so genannte Wirbelspulenphänomenologie bemühen, die sich hinsichtlich der physikalischen (Wechsel-) Wirklichkeit der Tragfläche am Stand der Wissen- schaft orientiert, aber nicht zum Standardrepertoire rezenter Strömungslehre zählt; insbesondere die der physikalischen Phänomenologie vorausgesetzte Entstehung fluidmechanischer Wirbelspulen rührt ein schlecht strukturiertes Problem an, das seiner mutmaßlich nichtstationären Vorgänge wegen in der Strömungsmechanik gerne ausgespart wird.

Zur Wirbelspulenphänomenologie

Nach der Tragflügeltheorie von Kutta-Jankowski hängt die Auftriebskraft einer umströmten Tragfläche alleine von der Zirkulation ab. Überlagern sich an einem Strömungskörper (bei einer zweidimensionalen Modellvorstellung in der Profilebene des Strömungskörpers) ein translatorisches und ein rotatorisches Strömungsfeld, kommt es infolge der Zirkulation um diesen Körper zu Verzögerung der Strömung auf der einen und zu einer Beschleunigung der Strömung auf der anderen Seite. Nach der Bernoullischen Gleichung führt die Beschleunigung zu einer Druckminderung, die Verzögerung zu einer Druckerhöhung, was im Falle eines Tragflügels als Auftriebskraft spürbar wird. Für einen angeströmten, endlichen Tragflügel ist die Auftriebskraft elliptisch über den Auftrieb erzeugenden Körper verteilt. Infolge des Druckgradienten kommt es am materiellen Ende der Tragfläche zu einer Umströmung der Tragflächenkante. Im Nachlauf der Kantenumströmung bildet sich nun ein kompakter Wirbel aus, der als durch den Druckgradienten induzierter Randwirbel in der Literatur beschrieben wird. Der induzierte Randwirbel bindet einen erheblichen Anteil der zur Erzeugung der Auftriebkräfte des Systems aufgebrachten Energie. Der Wirbelzopf im Nachlauf einer Auftrieb erzeugenden Tragfläche ist sehr stabil. In Strömungsuntersuchungen am Windkanal aber auch durch numerische Strömungssimulationsrechnungen kann das Um strömungsgebaren an den Enden Auftrieb erzeugender Strömungskörper sichtbar gemacht werden. Jeder durch das Auftriebsgebaren einer Tragflügelfläche induzierter Wirbelzopf ist idealer Weise hinsichtlich seiner Geschwindigkeitsverteilung in seinem Querschnitt kompakt und bildet ein graduelles rotatorisches Fernfeld aus. Existieren zwei oder mehr kompakte Wirbelzöpfe gleicher Drehrichtung und ähnlicher, in einem günstigen Fall, gleicher Intensität, beginnen die Wirbelzöpfe im Nachlauf ihres Entstehungs- ortes um ein gemeinsames Zentrum zu rotieren. Ein schraubenartiges Wirbel- spulengebilde entsteht. Während die Wirbelzöpfe auf dem Mantel der Wirbelspule stromabwärts um eine gemeinsame zentrale Achse rotieren bildet sich innerhalb der Wirbelspule entlang des zentralen (gedachten) Stromfadens eine beschleunigte Strömung aus, die nach außen durch den Wirbelmantel begrenzt und geführt wird und in ihrem inneren Strömungsprofil rotorfrei ist. Dieses als „Wirbelspuleneffekt“ bezeichnete Phänomen wurde in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch messtechnische Unter-suchungen belegt, eine Theorie der Wirbelspule entwickelt und von Ingo Rechenberg in Berlin eine Windkraftanlage patentiert [Rech-85]. Die Beschleunigung der Strömung innerhalb der Wirbelspule ist intensiv; die Geschwindigkeiten können gegenüber der den Wirbelspuleneffekt hervorrufenden Flügelumströmung mehr als den dreifachen Wert annehmen. Aus Windkanal-messungen ist bekannt, dass zu einer den Auftrieb generierende Tragflächen der kumulierten Tragflügeltiefe t erzeugte Wirbelspule stromabwärts eine Länge von L>10t hinweg stabil existiert und über die gesamte Distanz einen rotorfreien Strömungs-Jet produziert. Das Geschwindigkeitsniveau der Innenströmung kann derart ansteigen, dass aufgrund der Druckabnahme im Jet (Bernoulli-Gleichung, Kontinuität) die umhüllende Mantelströmung implodieren kann und die den Effekt tragende Wirbelspule ihre schraubenförmige Struktur verliert und letztlich zerstört wird. Landsegelnde Vögel mit ihren kastenförmigen und an den Flügelenden mit Gefiederfinger ausgestatteten Tragflächen nutzen den Wirbelspuleneffekt [Nach-02]. Der durch die Wirbelspule erzeugte Strömungsjet spielt zu einem gewissen Maße die zur Generierung von Auftrieb eingesetzte Energie des Landseglers wieder ein.

Emergenz und Veränderung

Die Rede über Veränderung und Verwandlung, über Bewegung, Entstehen und Vergehen von Fluidstruktur gehört in der lehrbaren Physik und insbesondere in der Strömungsmechanik nicht zu meinen Lieblingsvorträgen. Die herrschende Meinung über das Auftauchen neuer Eigenschaften ist alles andere als homogen. Unterschiedliche Betrachtungsweisen, verschiede Ebenen der Beschreibung dieser komplizierten Prozesse und Bewegungsabläufe und in einer ganz eigentümlichen Ausprägung eben die Prozesse der Entstehung neuer Eigenschaften komplexer Fluidsysteme sind entweder nahezu unerklärt, oder liegen in einer für einen Ingenieur oder Designer schwer zugänglichen Form vor. Wesen, Verwesen und Umwandlung, für Aristoteles eine originäre Ortsveränderung, stellen verallgemeinerte Hylemorphismen dar, in denen beispielsweise Wachstum ist nicht ohne eine qualitative Veränderung des Systems möglich ist, wobei endliche Substanzen aus zwei verschiedenen Prinzipien bestehen, nämlich dem Stoff oder der Materie (griechisch hýlē) und der Form (griechisch morphḗ). Veränderungsprozesse des Ortes sind von der Entstehung des Neuen verschieden. Entstehen, vergehen und Wesen, verwesen erfordern keine Ortsveränderung. Aristoteles geht der Frage nach wie Werden überhaupt möglich ist, wenn unter Werden sowohl Entstehung als auch Veränderung zu verstehen sei, das Werden weder aus einem absoluten Sein noch aus einem absoluten Nichtsein heraus stattfinden könne. Daher nimmt Aristoteles ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein an als Voraussetzung dafür, dass sich in der Gegensätzlichkeit von Seiendem und Nichtseiendem ein Werden vollziehen kann. Dieses das Werden Ermöglichende und ihm damit Zugrundeliegende nennt er Materie. Was aber hilft uns das bei der Betrachtung des Entstehens oder der Umwandlung komplexer Wirbelstrukturen?

Ein Rauchring ist spektakulär. Der Rauchringbläser – nennen wir ihn der Einfachheit halber Onkel Willi - erzeugt einen (Fluid-) Strahl hoher Geschwindigkeit so dass ein Ringwirbel entsteht. Wabernd schwimmt er achterlich fort. Onkel Willi hat uns Kindern das gerne vorgeführt damals, als man noch nicht zum Rauchen auf den Balkon musste. In der belebten Natur – und nicht nur dort – generiert ein Ringwirbel die Beschleunigung eines diskreten Massestroms. Rudi B1., auch ein Raucher - zeigte mir (zwischen zwei Rauchpausen, hätte ich beinahe geschrieben) die Farbspuren der Wirbelfäden „fliegender“ Pinguine in einem Wasserkanal. Beim aktiven Pinguinflug ist die Relativgeschwindigkeit der Tragflügelspitzen kurzzeitig kleiner Null, der Flügel fährt also gegen die Hauptbewegungsrichtung des Körpers vor, und mein erster Gedanke ist: warum macht dieses Tier das? Wir werden das Phänomen hier nicht klären oder auch nur ein ganz klein wenig zu seiner Entschlüsselung beitragen, aber die Botschaft von Willi und Rudi ist bedeutungsvoll: der Prozess induzierten Massenbeschleunigung funktioniert offenbar in beide Richtungen. Während der Rauchringbläser den Fluidstrom einen Ringwirbel, einen Torus generieren lässt, ist der Pinguin selbst die Masse, die im Ringwirbel be- schleunigt wird. Sowohl der kompakte Ringwirbel als auch die Wirbelröhre, sind Gebilde unterschiedlichen topologischen Geschlechts. Darauf werden wir sobald zu sprechen kommen.

Aus topologischer Sicht besteht zwischen einer Scheibe und einem Zylinder kein Unterschied. Transformationen, bei denen Randpunkte wieder in Randpunkte übergehen und benachbarte Konturpunkte in der Verformung ihre Nachbarschaft erhalten sind toplogisch äquivalent oder homöomorph. Strecken, Geraden, Kurven und auch Winkel können sich bei diesem Vorgang durchaus verändern; Die transformierten Strukturen dürfen - bei gleichem Erzeugendensystem - sogar extrem von ihrer Ursprungsgestalt abweichen. Immer wird es sich um Verwandlungen handeln, bei denen die Proportionalität geometrische Beziehungen erhalten bleibt. Nicht aber finden wir unmittelbar eine homöomorphe Transformation, die eine Röhre erzeugt. (Siehe auch: Pille, Zylinder und Röhre, nebenstehend). Dennoch kommen uns diese Strukturen „natürlich“ vor. Aber wie entstehen sie? Offenbar findet hier ein Vorgang statt, der proportionalitätserhaltene Prozesse durch irgendetwas anders ersetzt. Da wir uns auf diesem Weg an einem kritischen Punkt befinden, machen wir uns nun in einem Gedankenexperiment auf die Suche nach den Zwischenschritten von einer Fadenstruktur zu einer Röhrengestalt. Das Ziel dieser Untersuchung wäre nicht weniger als das Aufspüren von Emergenz, dem Auftauchen neuer Qualitäten in der betrachteten fluidischen Struktur oder um sie herum. Wird es uns also gelingen, die Transformation eines Wirbelfadens in eine Wirbelröhre in homöomorphe Zwischenschritte zu zerlegen? Wir wollen ja erklären, wie sich das Auftauchen einer neuen Qualität, die Emergenz in der Verwandlung eines Wirbelfadens in eine Wirbelröhre vollzieht. Hierzu ist eine semiologische Sichtweise, die die Betrachtung von Bedeutungen bevorzugt durchaus erwünscht. Zuerst sehen wir – und daran sollte man sich nicht stören – dass die neue Qualität des fluidischen Systems aus einem ordinären Loch besteht. Dieses Loch existiert als konzentrische Nicht-Struktur. Das Loch ist quasi die Abwesenheit von Wirbelkörperstruktur.

Wenn wir so etwas wie Zufall erst einmal ausschließen wollen,kann essich beim Auftauchen des Lochs also nur um ein Wunder handeln. Das ist natürlich alles andere als wunderbar. Für Wunder werden in der klassischen Strömungs- mechanik gelegentlich „Dämonen“ postuliert. Eine gewisse Berühmtheit in der

[...]


1 Die Natur steht bei der Entwicklung von Fischen und Vögeln vor denselben Problemen wie Ingenieure, die Schiffe und Flugzeuge bauen. http://www.mare.de/index.php?article_id=2085 Auf dem Weg zur idealen Stromlinienform – das Pinguin-Prinzip, http://www.biokon.de/bionik/best-practices/

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Details

Titel
Krabben, Scheren und Dämonen
Untertitel
Zur Phänomenologie ozeanischer Segel
Autor
Jahr
2019
Seiten
15
Katalognummer
V457695
ISBN (eBook)
9783668873179
ISBN (Buch)
9783668873186
Sprache
Deutsch
Schlagworte
krabben, scheren, dämonen, phänomenologie, segel
Arbeit zitieren
Michel Felgenhauer (Autor:in), 2019, Krabben, Scheren und Dämonen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/457695

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