Ziel der Arbeit ist es, für Klarheit und Transparenz zu sorgen und neue Ansätze aufzuzeigen, die die derzeitigen Bemühungen im Innovationsmanagement tatsächlich voranbringen. In der qualitativ-empirischen Fallstudie wird eine erste agile Initiative eines führenden FMCG-Herstellers durch explorative Interviews mit Führungskräften und Mitarbeitern untersucht. Aus den theoretischen Grundlagen und den Ergebnissen der Untersuchung werden praktische Implikationen abgeleitet.
Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass als erster Schritt ein einheitliches Verständnis von Agilität innerhalb des Unternehmens vorhanden sein sollte. Im zweiten Schritt benötigen effiziente Innovationen genügend Traktion und Kundenfit. Dies können Unternehmen durch disruptive Ideen, die möglichst nah an ihrer Kernkompetenz angesiedelt sind, erreichen. Letztendlich sind das agile Mindset und eine konsequente Methodenkompetenz der Schlüssel, um ein agiles Innovations-Ökosystem erfolgreich zu etablieren. Diese Arbeit richtet sich in erster Linie an Führungskräfte und Mitarbeiter, die Interesse an effizienten Innovationen haben.
Die Lebenserwartung etablierter Großunternehmen nimmt langsam, aber stetig weiter ab. Mit agilen Methoden und durch disruptive Innovationen mischen Start-ups mittlerweile auch traditionelle Branchen auf und verschärfen den Wettbewerb. Durch die Implementierung von agilen Corporate Start-up-Konzepten versuchen Konzerne, die Stärken der Start-ups für sich zu nutzen und sie dadurch möglichst einzuholen, wenn nicht sogar zu überholen. Wie die nachhaltige Einführung agiler Methoden gelingen kann und wie die Erfolgschancen stehen, wird in dieser Master-Thesis behandelt. Zugleich wird ein allgemeiner Überblick zur Agilität gegeben und die Entwicklung eines InnovationsÖkosystems in einer Start-up-Welt diskutiert.
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anhangsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung etablierter Großunternehmen
1.1.1 Das „Innovator’s Dilemma“
1.1.2 Die „VUCA-Welt“
1.2 Zielsetzung der Arbeit
1.3 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
2 TheoretischeGrundlagen
2.1 Transformation Corporate Start-up
2.1.1 Begriffsbestimmung von „Corporate Start-up“
2.1.2 Relevanz und Aufstieg der Start-up-Ökonomie
2.1.3 Formen separater Innovationseinheiten
2.1.3.1 Interne neue Ideen: Innovation Lab/Hub und Company Builder
2.1.3.2 Externe bestehende Ideen: Inkubator und Accelerator
2.1.4 Heute: Illusion der separaten Innovationseinheiten
2.1.4.1 Das gegenwärtige Vorgehen etablierter Unternehmen
2.1.4.2 Das Problem der geringen wirtschaftlichen Erfolgschancen
2.1.4.3 Das Problem der mangelhaften Umsetzung
2.1.4.4 Eine provokante These: Die Ideen sind das Problem
2.1.5 In Zukunft: effiziente Innovationen durch Kundenzentrierung und Traktion
2.1.5.1 Herausforderungen für den langfristigen Innovationserfolg
2.1.5.2 Effiziente Innovationen durch Traktionserfolg
2.1.5.3 Erfolg durch effiziente Innovationen
2.1.5.4 Dualismus und Ambidextrie: das Gleichgewicht finden
2.2 Agilität: ein aktueller Überblick
2.2.1 Historische Entwicklung des Konzepts Agilität
2.2.2 Werte und Prinzipien nach dem Agilen Manifest
2.2.3 Adaption an den agilen betrieblichen Kontext
2.2.4 Definition der heutigen Agilität
2.2.5 Das Mindset: mehr als nur eine Grundhaltung
2.2.6 Bedeutung für Teams und Unternehmen
2.2.7 Holakratie und Agilität
2.2.8 Vorteile der agilen Arbeitsweise
2.2.9 Typische Fehler bei der agilen Transformation
2.2.10 Kompetenzen und Voraussetzungen für die erfolgreiche Transformation
2.2.11 Die Rolle der agilen Führungskraft
2.3 Ein agiles Innovations-Ökosystem in einer Start-up-Welt
2.3.1 Begriffsbestimmung von Innovation
2.3.2 Das Innovations-Ökosystem
2.3.3 Startpunkt: Innovationsportfolio
2.3.4 Agile Methoden und Techniken
2.3.4.1 Der Sprint im Mittelpunkt
2.3.4.2 Scrum
2.3.4.3 Design Thinking
2.3.4.4 Lean Start-up
2.3.4.5 Kanban
2.3.5 Fehler und Hürden in Innovationsprozessen
2.4 Resümee
3 Empirisch-qualitative Untersuchung 67
3.1 Fallstudie eines führenden FMCG-Herstellers
3.1.1 Relevanz von disruptiven Innovationen für FMCG-Hersteller
3.1.2 Bedrohung durch die Marktmacht des Handels
3.1.3 Bedrohung durch Start-ups
3.1.4 Ein Sprint als erste agile Initiative
3.2 Beschreibung der qualitativen Forschungsmethode
3.2.1 Das problemzentrierte Experteninterview als Erhebungsinstrument
3.2.2 Funktion des Interviewleitfadens
3.2.3 Funktion der Datenaufzeichnung
3.2.4 Vorgehensweise der Datenauswertung
3.3 Methodische Vorgehensweise der Untersuchung
3.3.1 Operationalisierung
3.3.2 Befragungsort, -dauer und -aufzeichnung
3.3.3 Aufbau und Struktur der Interviewleitfäden
3.3.4 Auswahl und Beschreibung der Stichprobe
3.3.5 Durchführung der Interviews
3.3.6 Durchführung der Auswertung
4 Ergebnisse
4.1 Auswertung der Ergebnisse aus der Perspektive der Führungskräfte
4.1.1 Dimension: Agilität
4.1.2 Dimension: Corporate Start-up
4.1.3 Dimension: FMCG
4.1.4 Dimension: Sonstige Themen
4.2 Auswertung der Ergebnisse aus der Perspektive der Sprint-Teilnehmer
4.2.1 Dimension: Sprint
4.2.2 Dimension: Agilität
4.2.3 Dimension: Corporate Start-up
4.2.4 Dimension: Sonstige Themen
5 Diskussion der Ergebnisse
5.1 Zusammenfassung und Zusammenführung der Ergebnisse
5.2 Interpretation der Ergebnisse vor dem theoretischen Hintergrund
5.3 Kritische Reflexion der Vorgehensweise und Methodik
6 Praktische Implikationen
6.1 Aufbau eines einheitlichen Verständnisses
6.2 Optimierung der Rahmenbedingungen
6.3 Integration von Mindset, Methoden und Techniken in den Arbeitsalltag
6.4 Ganzheitliche interne Sensibilisierung
6.5 Berücksichtigung von Kernkompetenzen und Restriktionen
6.6 Ein neues Innovations-Ökosystem: das stärkenorientierte 3i-Modell
6.7 Effiziente Innovationen durch ambidextres Denken
7 Fazit und Ausblick
7.1 Fazit
7.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Vorwort
Innovation bedeutet Mut.
Mut, auszubrechen, Grenzen zu überschreiten und von der Norm abzuweichen.
Fortschritt bedeutet, Werte zu schaffen. Neues Wissen in seiner ganzen Fülle freizusetzen. Unverfälscht und manchmal schmerzhaft. So scharf wie möglich und so sanft wie nötig.
In diesem Sinne ist diese Arbeit mit einem Umfang von 117 Seiten ein „Regelbruch“.
Meine persönlichen Ziele dieser Arbeit bestehen darin, Mehrwerte zu schaffen und die Leser zu inspirieren. Das Thema mit anderen Augen zu sehen und den Status quo zu hinterfragen. Unternehmen dabei zu helfen, noch besser zu werden. Mut zu machen, Pioniergeist zu be- weisen. Zu motivieren, neue, andere und auch eigene Wege zu gehen.
Dafür steht diese Arbeit.
Mein Dank gilt der ESB Business School Reutlingen für die Möglichkeit, an einer der re- nommiertesten Hochschulen Deutschlands zu studieren. In meinen Augen ist Bildung keine Selbstverständlichkeit. Ich bin sehr dankbar für die engagierte und unkomplizierte Unter- stützung durch die betreuenden Professoren und die Mitarbeiter der Fakultät. Außerdem möchte ich die exzellente Zusammenarbeit mit dem Partnerunternehmen hervorheben. Danke, Sören und Wendy, für die offenen Türen. Mein Dank geht auch an alle Inter- viewpartner für ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit mir zu teilen.
Ideas are cheap.
Ideas are easy.
Ideas are common.
Everybody has ideas.
Ideas are highly, highly overvalued.
Execution is all that matters.
Casey Neistat
Abstract
Diese Arbeit richtet sich in erster Linie an Führungskräfte und Mitarbeiter, die Interesse an effizienten Innovationen haben. Die Lebenserwartung etablierter Großunternehmen nimmt langsam, aber stetig weiter ab. Mit agilen Methoden und durch disruptive Innovationen mi- schen Start-ups mittlerweile auch traditionelle Branchen auf und verschärfen den Wettbe- werb. Durch die Implementierung von agilen Corporate Start-up-Konzepten versuchen Kon- zerne, die Stärken der Start-ups für sich zu nutzen und sie dadurch möglichst einzuholen, wenn nicht sogar zu überholen. Wie die nachhaltige Einführung agiler Methoden gelingen kann und wie die Erfolgschancen stehen, wird in dieser Master-Thesis behandelt. Zugleich wird ein allgemeiner Überblick zur Agilität gegeben und die Entwicklung eines Innovations- Ökosystems in einer Start-up-Welt diskutiert. Ziel der Arbeit ist es, für Klarheit und Trans- parenz zu sorgen und neue Ansätze aufzuzeigen, die die derzeitigen Bemühungen im Inno- vationsmanagement tatsächlich voranbringen. In der qualitativ-empirischen Fallstudie wird eine erste agile Initiative eines führenden FMCG-Herstellers durch explorative Interviews mit Führungskräften und Mitarbeitern untersucht. Aus den theoretischen Grundlagen und den Ergebnissen der Untersuchung werden praktische Implikationen abgeleitet. Als Ergeb- nis lässt sich festhalten, dass als erster Schritt ein einheitliches Verständnis von Agilität in- nerhalb des Unternehmens vorhanden sein sollte. Im zweiten Schritt benötigen effiziente Innovationen genügend Traktion und Kundenfit. Dies können Unternehmen durch disrup- tive Ideen, die möglichst nah an ihrer Kernkompetenz angesiedelt sind, erreichen. Letztend- lich sind das agile Mindset und eine konsequente Methodenkompetenz der Schlüssel, um ein agiles Innovations-Ökosystem erfolgreich zu etablieren
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1. Beispiele von Traktionsfaktoren
Tabelle 2. Unterschiede zwischen Theorie X und Theorie Y nach Kategorien
Tabelle 3. Unterschiede der klassischen und neuen Führungsrolle
Tabelle 4. Historische Entwicklung der Definition von Agilität
Tabelle 5. Typische Fehler bei der Einführung von Agilität
Tabelle 6. 5C-Prozess in der Gesamtübersicht
Tabelle 7. Schritt 1 des 5C-Prozesses: Configuration
Tabelle 8. Schritt 2 des 5C-Prozesses: Customization
Tabelle 9. Schritt 3 des 5C-Prozesses: Compilation
Tabelle 10. Schritt 4 des 5C-Prozesses: Construction
Tabelle 11. Schritt 5 des 5C-Prozesses: Conversion
Tabelle 12. Interviewpartner Führungskräfte
Tabelle 13. Interviewpartner Sprint-Teilnehmer
Tabelle 14. Grundlegende agile Techniken
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1. Lebenserwartung der im S&P-500-Index gelisteten Unternehmen
Abbildung 2. Dichte der Start-up-Unicorns im zeitlichen Verlauf
Abbildung 3. Verankerung der separaten Innovationseinheiten mit dem Unternehmen
Abbildung 4. Formen von separaten Innovationseinheiten
Abbildung 5. Die häufigsten Gründe für das Scheitern von Start-ups
Abbildung 6. Effiziente Innovationen: hoher Kundenfit und hohe Traktion
Abbildung 7. Agile Organisationsstruktur mit Squads und Tribes
Abbildung 8. Unterschiede zwischen einer traditionellen und einer agilen Organisation
Abbildung 9. Vorteile der Agilität
Abbildung 10. Top 5 Erfolgsfaktoren für die agile Transformation
Abbildung 11. Stage-Gate-Innovationsprozess
Abbildung 12. Agiles Innovations-Ökosystem als zirkulärer Prozess
Abbildung 13. Einseitige Innovationsorientierung vieler Unternehmen
Abbildung 14. Portfoliomanagement mit dem „Modell der drei Horizons“
Abbildung 15. Innovationsportfolio nach Nagji und Tuff
Abbildung 16. Bausteine des agilen Projektmanagements
Abbildung 17. Scrum Prozess
Abbildung 18. Design Thinking Prozess
Abbildung 19. Lean Start-up-Zyklus nach Ries
Abbildung 20. Sprint Kanban für die Entwicklung
Abbildung 21. Die größten Innovationshemmnisse in Großunternehmen
Abbildung 22. Systematischer 5C-Prozess
Abbildung 23. Untersuchungsdesign und Ergebnisse der Studie von Galetic und Vukelic
Abbildung 24. Gesamtkonzept der Agilität
Abbildung 25. Umsatzwachstum der Top 50 Konsumgüterhersteller 2011 bis
Abbildung 26. Modell der ambidextren Innovationen
Abbildung 27. Ganzheitliches Transformationskonzept
Anhangsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
90 % der Fortune-500-Firmen aus dem Jahre 1955 sind heute nicht mehr auf dieser Liste wiederzufinden (Kawohl et al., 2016, S. 4). Betrug Mitte des 20. Jahrhunderts die durch- schnittliche Lebenserwartung der 500 größten öffentlich gelisteten Unternehmen noch sech- zig Jahre (vgl. Abbildung 1), so sorgen heutzutage neue Industrien und immer schneller werdende Innovationszyklen dafür, dass die durchschnittliche Lebenserwartung mittlerweile auf achtzehn Jahre geschrumpft ist (Rettig, 2017). Diesen Wandel beobachtete Richard Fos- ter, Professor an der Yale School of Management, schon im Jahr 2012 in seiner Studie für das Beratungsunternehmen Innosight. Er untersuchte den Börsenindex „Standard & Poor’s 500“ und kam bereits seinerzeit zu diesem Ergebnis (Innosight, 2012, S. 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Lebenserwartung der im S&P-500-Index gelisteten Unternehmen (Innosight, 2012, S. 2)
In den letzten fünfzehn Jahren fielen 52 % der gelisteten Unternehmen wie Kodak oder die New York Times aus dem Index heraus und wurden z. B. durch Google, Amazon oder Net- flix ersetzt. Nach aktueller Datenlage wird alle zwei Wochen ein Unternehmen aus dem S&P-Index durch ein nachrückendes Unternehmen ersetzt (Bachfischer, 2018, S. 19f). Dies führt verständlicherweise bei 65 % der CEOs globaler Großunternehmen zu Angst und Sorge, von disruptiven Start-ups überholt zu werden (KPMG, 2016, S. 10ff).
1.1 Problemstellung etablierter Großunternehmen
Aufgrund dieser Bedrohung sehen sich in der heutigen Zeit immer mehr Konzerne bzw. etablierte Großunternehmen gezwungen, die scheinbar erfolgreichen Methoden aus dem Si- licon Valley zu kopieren. Dieser Ort scheint den Code für eine erfolgreiche Unternehmung entschlüsselt zu haben und neue Start-ups in der Größenordnung von Dropbox, Uber oder Airbnb mit Leichtigkeit und in einer kaum fassbaren Geschwindigkeit reproduzieren zu kön- nen. Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass langjährig erfolgreiche Unternehmen durch kleine Start-ups so stark unter Druck gesetzt werden und in eine solch defensive Po- sition geraten können.
1.1.1 Das „Innovator’s Dilemma“
Ein Paradebeispiel ist der einstige Branchenprimus Kodak. Noch heute wird intensiv darüber diskutiert, wie das Unternehmen den Trend hin zur Digitalfotografie verpassen konnte (De la Merced, 2012). Ein ähnliches Missgeschick unterlief dem namhaften Handy-Hersteller Nokia, der die Entwicklung zum Smartphone einfach nicht beachtete (Doz & Wilson, 2018). Warum Unternehmen dieses Problem nicht ignorieren sollten, zeigt die Aufzählung großer gescheiterter Namen aus verschiedenen Branchen: Schlecker, Chrysler, Grundig, Agfa, Commodore, General Motors, Karstadt, Hertie, Saab, Sun Microsystems, AOL etc.
Christensen, der als Vater des „Innovator’s Dilemmas“ gilt, hat die Logik des Scheiterns in drei Prinzipien gegliedert und zusammengefasst (Christensen et al., 2013, S. 11ff):
1. Disruptive Innovationen: Im Gegensatz zu inkrementellen Innovationen bringen disrup- tive Produkte oder Dienstleistungen noch neu zu erfindende Märkte hervor. Inkremen- telle bzw. evolutionäre Innovationen sorgen für Verbesserungen in existierenden Märk- ten und bei der Stammkundschaft (Christensen et al., 2013, S. 11ff). Etablierte Unternehmen haben klare Vorteile, was inkrementelle Innovationen angeht, jedoch be- sitzen sie (noch) keine vernünftige Infrastruktur, um sich mit disruptiven Innovationen effizient und wettbewerbsfähig auseinanderzusetzen. Dafür sind die Prozesse zu träge und zu starr (Hays, 2018, S. 17).
2. Rationale Investitionen: Aus der Perspektive etablierter Unternehmen ist eine Investi- tion in disruptive Innovationen irrational, weil damit zu Beginn kaum Geld zu verdienen ist oder die Unsicherheit und Komplexität zu hoch ist. Theoretisch wäre dies eine Entscheidung gegen die Vernunft und die zahlengetriebene Sicht vieler Unternehmen und somit im ersten Schritt nicht argumentierbar (Christensen et al., 2013, S. 14).
3. Technologien entwickeln sich schneller als Marktbedürfnisse: Etablierte Unternehmen neigen dazu, „Overengineering“ zu betreiben und an den Bedürfnissen des Kunden vor- bei zu entwickeln. Sie verlieren sich in ihrer eigenen Welt und vergessen die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Kunden und des Marktes (Christensen et al., 2013, S. 16).
Viele Konzerne und große Unternehmen haben diese Problematik in ihrer eigenen Innova- tionsentwicklung erkannt und bereits erste Initiativen zur Adaption von Innovationsmetho- den erfolgreicher Start-ups umgesetzt.
1.1.2 Die „VUCA-Welt“
Warum es trotz allem immer wieder zu Fehleinschätzungen und somit zu Fehlentscheidun- gen kommt, die für etablierte Unternehmen sogar existenzbedrohend sein können, lässt sich mit dem Modell der „VUCA-Welt“ erklären. Manager und Führungskräfte müssen in einer komplexen Welt unter hoher Unsicherheit und in einer immer schneller werdenden Abfolge Entscheidungen treffen. Die Konsequenzen lassen sich in dieser derart komplexen Umwelt nicht mehr sauber ableiten, und so muss jederzeit davon ausgegangen werden, dass heute getroffene Annahmen innerhalb kürzester Zeit nicht mehr gültig sind (Leendertse, 2018).
Das Akronym VUCA steht für:
1. Volatility (auf Deutsch: Volatilität)
Am besten lässt sich Volatilität mit hoher Schwankungsbreite, Unbeständigkeit und Sprunghaftigkeit beschreiben (Reiber, 2018, S. 2). Die Dynamik der vorherrschenden Umwelt wird immer extremer, und Änderungen treten immer häufiger und schneller auf. Beispielsweise sind Trends, Aktienmärkte oder Social-Media-Phänomene stark von Volatilität geprägt (Lasnia & Nowotny, 2018, S. 36).
2. Uncertainty (auf Deutsch: Unsicherheit)
Viele Ereignisse sind nicht mehr vorhersehbar. Trends und Veränderungen tauchen scheinbar aus dem Nichts auf. Sicher geglaubte Vorhersagen zu zukünftigen Ereignissen erweisen sich als falsch. Neuartig auftauchende Phänomene lassen sich nicht mehr voll- ständig erklären, und wenn überhaupt, dann nur mit zeitlicher Verzögerung. Vieles ist unsicher geworden: Durch veränderte politische Rahmenbedingungen können beispielsweise komplette Geschäftsmodelle innerhalb kürzester Zeit einfach zunichtege- macht werden (Reiber, 2018, S. 2).
3. Complexity (auf Deutsch: Komplexität)
Die Dichte der Vernetzungen und Verknüpfungen nimmt rapide zu. Vorkommnisse werden durch viele, zum Teil unbekannte Variablen bestimmt. Es treten nicht nur einseitige Wirkungszusammenhänge auf, sondern die Wechselwirkung zwischen den auftretenden Variablen ist vielfältig. So können einzelne oder mehrere Prädiktor-Variablen gemeinsam einen Einfluss auf eine abhängige Variable ausüben. Diese Verkettungen und Verknüpfungen kann eine einzelne Person ohne technische Hilfsmittel nur noch unvollstän- dig überblicken (Lasnia & Nowotny, 2018, S. 36).
Wichtig ist hierbei die klare Unterscheidung zwischen komplex und kompliziert. Ist et- was kompliziert, so lässt es sich mit logischem Sachverstand und viel Mühe irgendwann verstehen, optimieren und lösen. Ein komplexer Sachverhalt hingegen ist geprägt von unvorhersehbaren Dynamiken und Zusammenhängen sowie von einer aus dem dynamischen System heraus generierten Eigendynamik. Zuverlässige Prognosen unter hoher Komplexität lassen sich so kaum noch treffen (Nowotny, 2018, S. 250).
4. Ambiguity (auf Deutsch: Ambiguität)
Unter Ambiguität ist die Viel- oder Mehrdeutigkeit einer Sache zu verstehen. Zum sel- ben Zeitpunkt können unterschiedliche sowie sich widersprechende Ereignisse und Phä- nomene auftreten. Menschen fällt es schwer, mit Mehrdeutigkeiten umzugehen und diese zu kategorisieren. Möglicherweise ist die Anzahl der zur Verfügung stehenden Fakten mehr als ausreichend, jedoch zu vielschichtig, um daraus valide Informationen zu ge- winnen und die richtigen Schlüsse zu ziehen (Nowotny, 2018, S. 247ff).
Die komplexe Welt, in der sich Unternehmen heute bewegen, ist auch als ein komplexes System zu verstehen. Nach Dörner kann ein komplexes System mit folgenden Merkmalen definiert werden: Das System ist offen, besitzt eine Vielzahl an Variablen, ist in verschie- dene Richtungen vernetzt, äußerst intransparent und verhält sich im Kern dynamisch sowie polytelisch1 (Dörner, 2003, S. 58ff).
Etablierte Unternehmen und Konzerne müssen sich zwangsweise dem „Innovator’s Di- lemma“ und der „VUCA-Welt“ stellen. Eine rational plausible Vorgehensweise scheint auf den ersten Blick darin zu bestehen, den aufstrebenden und disruptiven Start-ups mit deren eigenen Stärken bzw. Methoden zu begegnen und sie auf diese Weise einzuholen, wenn nicht gar zu überholen.
1.2 Zielsetzung der Arbeit
Die vorliegende Master-Thesis befasst sich intensiv mit der Fragestellung, ob und wie die Einführung agiler Methoden und die Transformation der Organisation in ein Corporate Start- up nachhaltig gelingen kann. Ziel der Arbeit ist es, mehr Klarheit und ein allgemeingültiges Verständnis von Agilität im Rahmen des „modernen“ Innovationsmanagements in der der- zeit vorherrschenden Start-up-Welt zu schaffen. Die Masterarbeit richtet sich in erster Linie an Führungskräfte und Mitarbeiter, die Interesse an effizienten Innovationen haben und ver- stehen möchten, wie das agile Mindset aus der Start-up-Welt gewinnbringend eingesetzt werden kann.
Anhand dieser Forschungsfragen soll ein klarer thematischer Rahmen abgesteckt werden:
1. Welches Verständnis existiert zur Agilität und zum Konzept Corporate Start-up?
2. Welche Vor- und Nachteile sind durch die Transformation Corporate Start-up und den Einsatz agiler Arbeitsweisen zu erwarten?
3. Welche Grundvoraussetzungen begünstigen eine erfolgreiche Transformation, und welche Hürden sind zu erwarten?
4. Als wie hoch wird der agile Reifegrad im Unternehmen eingeschätzt?
Zusätzlich werden im Rahmen dieser Master-Thesis zwei Hypothesen überprüft:
1. Das Sprint-Format als agile Arbeitsmethode wird von den Mitarbeitern akzeptiert.
2. Die aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen für die FMCG-Branche erfor- dern dringendes Handeln.
1.3 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
Die Forschungsfragen und die aufgestellten Hypothesen werden in einem triangulierten Vor- gehen beantwortet bzw. behandelt. Im ersten Schritt wird das benötigte Grundlagenwissen aus der Theorie erarbeitet. Danach werden acht Interviews mit Führungskräften aus dem betrachteten Unternehmen geführt, um Einblicke in das Topmanagement zu gewinnen. Die dritte und letzte Perspektive umfasst siebzehn Interviews mit Mitarbeitern, die an der ersten agilen Initiative in Form eines Sprint-Projekts teilgenommen haben und zusätzlich zu den Forschungsfragen auch zur Beantwortung der Hypothese 1 beitragen werden.
Die vorliegende Arbeit ist in fünf Hauptabschnitte gegliedert. Nach der Einführung in die Thematik in Kapitel 1 stehen in Kapitel 2 die Transformation Corporate Start-up, die Agilität und die Grundlagen eines agilen Innovations-Ökosystems im Fokus. Es wird auf die aktuelle Situation eingegangen und darüber hinaus auch die mögliche zukünftige Entwicklung des agilen Innovationsmanagements diskutiert.
In Kapitel 3 wird die für die Arbeit durchgeführte Fallstudie bei einem FMCG-Hersteller vorgestellt und ausführlich auf die darauf aufbauende empirisch-qualitative Untersuchung eingegangen. Dabei wird zuerst die methodische Vorgehensweise beschrieben und im an- schließenden Kapitel 4 eine gründliche Auswertung der Interviews vorgenommen.
Die aus den Interviews gewonnenen Erkenntnisse werden in den Kapiteln 5 und 6 analysiert, diskutiert und interpretiert. Die daraus aggregierten Ergebnisse dienen der Ableitung prak- tischer Implikationen. Ein Fazit und Ausblick schließen in Kapitel 7 die Arbeit ab.
2 Theoretische Grundlagen
Die für die Themenstellung relevanten theoretischen und empirischen Grundlagen werden im nachfolgenden Kapitel ausführlich erarbeitet. Im ersten Abschnitt wird ein detaillierter Überblick zu den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Transformation Corporate Start- ups gegeben. Es wird auf die Frage eingegangen, wie sich agile Methoden aus der Start-up- Welt zukünftig zu einem wertvollen Innovationsinstrument für etablierte Unternehmen ent- wickeln können. Im darauffolgenden Abschnitt wird eine Einführung in die Thematik der Agilität gegeben, um Verständnis für das agile Innovationsmanagement zu schaffen. Ab- schließend werden gegenwärtig beliebte Methoden der Agilität vorgestellt und die verschie- denen Themenfelder zielführend miteinander verknüpft.
2.1 Transformation Corporate Start-up
Zwar wurde die Dringlichkeit des Innovationsdilemmas bereits durch mehrere Studien iden- tifiziert, jedoch sind die Bemühungen und Initiativen der etablierten Großunternehmen zu dessen Behebung ernüchternd. In einer globalen Studie von PWC mit 1.757 teilnehmenden Führungskräften aus über dreißig Branchen waren sich 93 % der Befragten einig, dass das zukünftige organische Wachstum durch Innovation abgebildet und den wesentlichen Anteil am Unternehmenserfolg ausmachen wird. Über 80 % der Befragungsteilnehmer bewerteten Innovationen als einen wichtigen oder sehr wichtigen Bestandteil des nachhaltigen Unter- nehmenserfolgs. Die gesteckten Wachstumsziele der Unternehmen scheinen ohne ausrei- chende Innovationskraft kaum noch erreichbar (PWC, 2015, S. 7).
Wie in Kapitel 1 erwähnt, versuchen betroffene Unternehmen, das Defizit in der Innovati- onsentwicklung durch die Adaption agiler Start-up-Methoden zu kompensieren. Allerdings sind die Ergebnisse bislang nicht vielversprechend. Julian Kawohl hat in einer gemeinsamen Studie mit dem Beratungsunternehmen Infront festgestellt, dass gegenwärtig aus betriebs- wirtschaftlicher Sicht noch kaum etwas erreicht wurde. Bisher konnte kein Unternehmen als Corporate Start-up ein signifikantes Neugeschäft generieren. Nur das systematische Gene- rieren von Ideen konnte verbessert werden und funktioniert relativ gut (Infront Consulting, 2018). Die Details zu den aktuellen Entwicklungen werden in Kapitel 2.1.4 behandelt.
2.1.1 Begriffsbestimmung von „Corporate Start-up“
Der Ausdruck „Start-up“ ist wirtschaftsgeschichtlich noch relativ neu und hat in den letzten Jahren im deutschen Sprachgebrauch stark an Popularität gewonnen. Jedoch ist seine Aus- legung und Anwendung nicht immer ganz verständlich. Häufig wird die Frage gestellt, ab wann ein Unternehmen als „Start-up“ bezeichnet werden darf und ab wann nicht bzw. nicht mehr. Noch neuer ist der Begriff „Corporate Start-up“, für den zum aktuellen Zeitpunkt noch kein Eintrag im Gabler-Springer Wirtschaftslexikon vorliegt.
Den Begriff „Start-up“ beschreibt das Wirtschaftslexikon von Gabler-Springer als eine Un- ternehmensgründung, deren Geschäftsidee innovativ ist und hohes Wachstumspotenzial auf- weist. Bei einer Erweiterung des Suchbegriffs auf „Start-up-Unternehmen“ wird die Defini- tion durch den Zusatz „noch nicht etablierte junge Unternehmen mit geringem Startkapital“ ergänzt. (Achleitner, 2017). Schramm und Carstens vertreten eine sehr ähnliche Ansicht: „Ein Start-up ist ein junges, innovatives und noch nicht etabliertes Unternehmen auf der Suche nach einem nachhaltigen, skalierbaren Geschäftsmodell“ (Schramm & Carstens, 2014, S. 11). Ries, der Begründer von Lean Start-up, beschreibt ein Start-up als eine mensch- liche Institution, die in einem Umfeld extremer Ungewissheit agiert und neue Produkte oder neue Dienstleistungen entwickelt (Ries, 2015, S. 33). Die Definition der Universität Siegen vervollständigt schließlich das Gesamtbild:
„ Das Ziel des Start-up Prozesses besteht nicht nur darin, Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, wie man ein tragfähiges Geschäftsmodell aufbaut. Mit geringem Kapitaleinsatz und hoher Effizienz sollen die Ideen in kurzen iterativen Schritten in eine ständig verbessernde Lösung überführt werden“ (Universität Siegen, 2018).
Auf die Frage, welche Kriterien eine Unternehmensgründung erfüllen muss, um als Start-up zu gelten, legt beispielsweise das Beratungsunternehmen KPMG folgende Kriterien fest: Das gegründete Unternehmen muss jünger als zehn Jahre sein und ein signifikantes Wachs- tum, was Mitarbeiterzahl und Umsatz betrifft, aufweisen bzw. anstreben. Das Alter und die Größe des Unternehmens alleine scheinen allerdings nicht die ausschlaggebenden Kriterien zu sein. Sicherlich würde bei der Gründung einer gewöhnlichen Großbäckerei oder einer industriellen Wäscherei keinesfalls von einem Start-up gesprochen werden. Eine weitere wichtige Eigenschaft ist demnach ein (hoch-)innovatives Geschäftsmodell oder eine dem- entsprechende Technologie (KPMG, 2017, S. 16). Nicht ohne Grund gelten viele Neugrün- dungen in der Digitalbranche als Start-up, weil ein digitales Geschäftsmodell hinter der Un- ternehmensgründung steht. Dass der Grat zwischen „Start-up“ und „kein Start-up“ sehr schmal ist, sollen die folgenden Beispiele verdeutlichen: Würde die oben genannte Großbä- ckerei einen Onlineshop mit einem Lieferservice betreiben, würde sie nach Definition als „Start-up“ bezeichnet. Gleiches würde für die industrielle Wäscherei gelten, wenn sie ihre Anlagen mit Sensoren ausstattet, die miteinander vernetzt automatisiert arbeiten und darüber hinaus einen angehängten Cloud-Service zum Kunden aufweisen.
Die direkte Übersetzung von „Corporate“ variiert je nach Kontext erheblich und kann so viel bedeuten wie gemeinschaftlich, überbetrieblich oder vereinigt. Im Kontext von Start-ups und im Sinne dieser Arbeit lässt es sich als Zusatz mit der Bedeutung
- Konzern-,
- Unternehmens-,
- Firmen-,
- Gesellschafts-
übersetzen. Mit der Ergänzung „Corporate“ kann also ein (etabliertes) Unternehmen, Groß- unternehmen, eine Firma oder ein Konzern bezeichnet werden (LEO, 2018). Der Einfachheit halber wird in dieser Arbeit immer von (etablierten) Großunternehmen gesprochen.
Nach der Betrachtung der Begriffe „Start-up“ und „Corporate“ kann für die Bezeichnung „Corporate Start-up“ nun folgende Definition festgehalten werden:
„ Ein Corporate Start-up ist ein etabliertes Großunternehmen, das so denkt und handelt wie ein Start-up. Es ist häufig eine im Unternehmen verankerte, separate junge Institution bzw. Einheit, die unter hoher Unsicherheit und mit geringem Kapitaleinsatz hocheffizient agiert, mit dem Ziel, neue Produkte und Services in hochinnovative Geschäftsmodelle oder Technologien zu überführen. Stetig verbessernde Lösungen in kurzen, iterativen Schritten und starkes Wachstumspotenzial sind charakteristisch für ein Corporate Start-up.“
Wichtig ist die Tatsache, dass es sich beim Konzept „Corporate Start-up“ vorwiegend um die Erzeugung neuer Ideen und um innovative Start-ups handelt. Es geht nicht um die Parti- zipation oder Förderung bereits existierender Ideen und Start-ups wie beispielsweise bei ei- nem Accelerator oder Inkubator. Die Verkörperung als separate Innovationseinheit erfolgt bei einem Corporate Start-up vorwiegend durch Gründung eines Innovation Labs/Hubs oder eines Company Builders. Die verschiedenen Formen der separaten Innovationseinheiten werden in Kapitel 2.1.3 behandelt.
2.1.2 Relevanz und Aufstieg der Start-up-Ökonomie
Ein Blick in die Kultur etablierter Großunternehmen verdeutlicht, wie träge sich die Bereit- schaft, auf neue Gegebenheiten zu reagieren, oftmals gestaltet. Beispielsweise sind Aussa- gen zu hören wie
- „Der Business Case ist nicht groß genug.“
- „Dafür haben wir keine Kompetenzen und nicht genügend Ressourcen.“
- „Das wurde bereits versucht und hat nicht funktioniert.“
- „Das wird bei unseren Investoren nicht gut ankommen.“
- „Unsere Branche funktioniert anders, deshalb wird es niemals skalieren.“
- „Der Zeitpunkt ist nicht der richtige.“
- „Das Risiko ist zu groß.“
Es lässt sich nicht leugnen, dass Mitarbeiter etablierter Großunternehmen oftmals das Gefühl haben, in starren, schlecht manövrierbaren „Tankern“ zu sitzen und von den Start-up- „Schnellbooten“ mit Leichtigkeit überholt werden (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 2).
Aufgrund der Tatsache, dass Start-ups in den letzten Jahren immer häufiger erfolgreich in vermeintlich etablierte Märkte vordringen (vgl. Abbildung 2), haben viele Unternehmen be- reits mit ersten Versuchen begonnen, die Innovationsmethoden der Start-ups für die eigene Innovationsentwicklung nachzuahmen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2. Dichte der Start-up-Unicorns2 im zeitlichen Verlauf (CBInsights, 2017)
Aus dem Report 2017 der Startup Genome geht hervor, dass das europäische Start-up-Öko- system nicht so stark ausgeprägt ist. Außerdem erweist sich die Akquisition von Finanzie- rungen als problematisch, was möglicherweise auch durch das vergleichsweise niedrigere Kompetenzniveau der verfügbaren Talente bedingt ist. (Startup Genome, 2017). Um den Anschluss nach oben nicht ganz zu verlieren, zieht es immer mehr europäische Unternehmen in die Start-up-Metropolen, insbesondere ins Silicon Valley, das eine besonders hohe Dichte erfolgreicher Start-ups aufweist. Das Ziel dieser Außenposten ist das frühzeitige Identifizie- ren und Monitoring von neuen Trends und zukunftsträchtigen Technologien sowie das Ver- netzen mit Talenten, Experten und Kooperationspartnern (Bachfischer, 2018, S. 64).
Zusätzlich zu diesen Außenposten hat sich parallel die Anzahl der sogenannten Innovation Labs/Hubs, Company Builders, Acceleratoren und Inkubatoren vervielfacht. Es gibt mittler- weile kaum ein DAX-30-Unternehmen, das nicht auf solche separaten Innovationseinheiten setzt (mm1, 2018). Die agilen Methoden der Start-ups lassen sich zwar technisch in ein klas- sisches Unternehmen implementieren, jedoch sind die kundenzentrierten Vorgehensweisen nicht hundertprozentig mit den vorherrschenden Strukturen und Prozessen der Großunter- nehmen kompatibel. Dies hat zur Folge, dass die generierten Ideen nur suboptimal oder überhaupt nicht umgesetzt werden. Aus diesem Grund wurde die Idee der separaten Innova- tionseinheiten entwickelt, um mit ähnlichen Rahmenbedingungen wie Start-ups an Innova- tionen arbeiten zu können (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 2). Die Grundidee sowie die externen und internen Schnittstellen sind wie in Abbildung 3 dargestellt verankert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3. Verankerung der separaten Innovationseinheiten mit dem Unternehmen (Eigene Darstellung in Anlehnung an [Schuh et al., 2017, S. 4])
Wie im nachfolgenden Abschnitt kurz dargestellt wird, gibt es die separaten Innovationsein- heiten in verschiedenen Formen. Wird in dieser Arbeit im Kontext von Corporate Start-ups über separate Innovationseinheiten gesprochen, sind damit die Formen Innovation Labs/Hubs und die Company Builder gemeint.
2.1.3 Formen separater Innovationseinheiten
Der Hauptgrund für die Verlagerung der Innovationsaktivitäten in separate Einheiten ist die strukturelle und prozessuale Komplexität in den etablierten Großunternehmen, die oftmals auch als „Brownfield“ 3 bezeichnet wird. Um im Innovationsprozess diesem komplexen Konstrukt zu entgehen, versuchen Großunternehmen, die Gegebenheiten der Start-ups zu imitieren, die sich überwiegend auf dem „Greenfield“4 abspielen. Die Formen der separaten Innovationseinheiten lassen sich in zwei Stoßrichtungen untergliedern (vgl. Abbildung 4).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4. Formen von separaten Innovationseinheiten (Eigene Darstellung in Anlehnung an [Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2016])
Für bestehende Ideen und Start-ups, die von außerhalb in eine Organisation stoßen, kommt in der Regel ein Accelerator oder Inkubator zum Einsatz, was auch als Outside-In-Vorgehen bezeichnet werden kann. Die zweite Stoßrichtung ist die Bereitstellung eines Ökosystems im Rahmen eines sogenannten Innovation Labs/Hubs oder Company Builders, der auf die Generierung völlig neuer Ideen und Start-ups ausgerichtet ist (Inside-Out-Vorgehen). Der Fokus eines Corporate Start-ups liegt auf der zweiten Variante (Sulzmaier, 2018).
2.1.3.1 Interne neue Ideen: Innovation Lab/Hub und Company Builder
I nnovation Lab/Hub: Für gewöhnlich wird dieses Format innerhalb einer Organisation auf- gebaut und ist meist in der zeitlichen Nutzung begrenzt. In einem kreativen Umfeld sollen innovative Geschäftsmodelle, Produkte, Services oder Prozesse von Grund auf entwickelt werden. Projektteams bestehen fast immer aus Mitarbeitern der eigenen Organisation, die häufig interdisziplinär zusammengestellt werden. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die eigenen Labs und Hubs auch von externen Partnern genutzt werden dürfen (Bachfischer, 2018, S. 79). Der Vorteil besteht in der Nähe zum Unternehmen und in den kurzen Wegen. Der Informationsaustausch und die Berücksichtigung der Unternehmensbedürfnisse können so besser ausgesteuert werden. Die volle Kontrolle des Unternehmens ermöglicht ein vari- ableres Eingreifen in die Projekte und Investitionen. Unternehmensziele können dadurch besser integriert und zielgerichtet unterstützt werden (Viki et al., 2017, S. 257).
Company Builder: Die sogenannten Company Builder sind ähnlich wie Innovation Labs/Hubs ausgerichtet. Der Fokus liegt auf der kompletten Begleitung und Unterstützung der partizipierenden Projektteams durch alle Phasen. Durch die ganzheitliche Betreuung kann die Laufzeit je nach Art und Verlauf des Projekts variieren. Die längerfristige Investi- tion geht damit einher, dass der Company Builder sehr konkret über das Innovationsprojekt bestimmt und sogar zum Teil die Besetzung der Teams vorgibt. Meist werden zu Beginn in geringem Umfang Unternehmensanteile gesichert, da aus den Unternehmungen durchaus tragbare Geschäftsmodelle resultieren und daraus Spin-offs 5 gebildet werden können (Hajizadeh-Alamdary & Kuckertz, 2015, S. 9ff).
2.1.3.2 Externe bestehende Ideen: Inkubator und Accelerator
Inkubator: Die Grundidee hinter einem Inkubator ist die Bereitstellung von finanziellen und materiellen Ressourcen. Zudem bieten sie Möglichkeiten der Vernetzung zu Branchenex- perten und Mentoren (Hajizadeh-Alamdary & Kuckertz, 2015, S. 10). Normalerweise wer- den keine Innovationsschwerpunkte vorab definiert, und es wird bewusst auf externe Start- ups gesetzt, die nicht aus dem Kerngeschäft kommen. Ziel eines Inkubators ist es, eine op- timale „Brutstätte“ für eine unabhängige Idee zu sein und dieser zur bestmöglichen Ge- schäftsreife zu verhelfen. Die Verweildauer eines Start-ups in diesem Programm beträgt im Allgemeinen maximal 12 Monate, in Ausnahmefällen kann sie auch bis auf 24 Monate ver- längert werden (Bachfischer, 2018, S. 80). In dieser Form der Zusammenarbeit geben teil- nehmende Start-ups normalerweise Unternehmensanteile als Ausgleich für die „Beschleu- nigung“ bzw. den „Anschub“ ab (Lichtenberg, 2000, S. 91).
Accelerator: Charakteristisch für den Accelerator ist die begrenzte Laufzeit von bis zu 6 Monaten. Auch hier liegt der Fokus auf externen Start-ups, die in ihrer Frühphase gefördert werden. Wie auch beim Inkubator werden finanzielle und materielle Ressourcen bereitge- stellt, und es besteht die Möglichkeit der Vernetzung mit Mentoren und Experten (Hajizadeh-Alamdary & Kuckertz, 2015, S. 10). Überzeugt die Idee, wird in manchen Fällen bereits vor dem Start eine Investition in Firmenanteile getätigt. Es kommt nicht selten vor, dass Start-ups schon in der Gründungs- oder Wachstumsphase finanzielle Zuwendungen erhalten (Viki et al., 2017, S. 258). Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Ge- schäftsmodellen und Prototypen mit dem Ziel, innerhalb kürzester Zeit zur Marktreife zu gelangen. Nicht ohne Grund wird der Accelerator oftmals als „Bootcamp“ für die Gründer bezeichnet, da er einen enormen Wachstumsschub verspricht. (Bachfischer, 2018, S. 80).
2.1.4 Heute: Illusion der separaten Innovationseinheiten
Zu Beginn von Kapitel 2.1 wurde auf die grundsätzliche Unwirtschaftlichkeit separater In- novationseinheiten hingewiesen. Was gut funktioniert, ist die Produktion von Ideen inner- halb der separaten Innovationseinheit. Allerdings fehlt die betriebswirtschaftliche Tragfä- higkeit und somit die Existenzberechtigung der Innovationseinheit (Infront Consulting, 2018). Nur jedem zweiten Unternehmen gelingt die Synchronisierung der Unternehmens- strategie mit den Innovationsbemühungen (Staack & Branton, 2017, S. 7). Um im Wettbe- werb bestehen zu können, müssen Unternehmen kreativ sein und für Innovationen sorgen. Doch die Kreativität ist nicht immer ein effizienter Prozess, wodurch Spannungsfelder zwi- schen der Kreativität und der für das Tagesgeschäft dringend benötigten Effizienz entstehen (Barth, 2017). Dass eine konsequente Abstimmung und effiziente Ausführung ausschlagge- bender für den Erfolg ist als die Höhe des Budgets, zeigt der Vergleich zwischen Nokia und Apple. Im Zeitraum von 2004 bis 2007 investierte Nokia 22,2 Milliarden US-Dollar in die Forschung und Entwicklung, wohingegen Apple lediglich 2,5 Milliarden US-Dollar ein- setzte (Bachfischer, 2018, S. 21).
2.1.4.1 Das gegenwärtige Vorgehen etablierter Unternehmen
Grundsätzlich ist die Idee der etablierten Unternehmen, separate Innovationseinheiten zu betreiben, nicht falsch. Innovative Ideen im Innovation Lab/Hub oder im Company Builder frei von Restriktionen in tragfähige und wachstumsstarke Geschäftsmodelle zu überführen, scheint eine vernünftige Vorgehensweise zu sein (Infront Consulting, 2017, S. 5). Die etab- lierten Großunternehmen erhoffen sich durch das Ignorieren der gegebenen Rahmenbedin- gungen aus dem Brownfield das scheinbar Erfolg versprechende Greenfield bzw. dieselben Grundvoraussetzungen für die Entwicklung neuer disruptiver Innovationen, wie sie auch in Start-ups gegeben sind. Mit agilen Methoden soll eine höhere Kundenzentrierung erreicht und eine effiziente Weiterentwicklung der Ideen durch selbst organisierende Teams sicher- gestellt werden. Es werden Design-Thinking-Abteilungen mit kreativitätsfördernden Möbelstücken, Post-its und Sitzsäcken gegründet. Erste Lösungen werden anhand eines Pro- totyps gemeinsam mit dem Kunden validiert, was zusätzlich noch dazu beiträgt, Probleme frühzeitig zu erkennen. Die Kundennähe stellt sicher, dass nicht am Kunden vorbei entwi- ckelt wird. Der Kunde wird somit zum Kern des Innovationsprozesses. Kundenprobleme werden durch Befragung und Beobachtung identifiziert und die passenden Ideen in kreativen Teamsessions erzeugt. Im Idealfall werden noch die Lean Start-up-Prinzipien hinzugezogen, um die Idee anhand eines Prototyps am Kunden zu testen und aus den Ergebnissen zu lernen (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 15f).
Die Herausforderung der etablierten Großunternehmen gegenüber den jungen Start-ups be- steht darin, die Balance zwischen Kern- und Neugeschäft zu finden. Start-ups beginnen auf einem Greenfield und brauchen keine oder nur wenige interne Restriktionen zu berücksich- tigen. Etablierte Großunternehmen hingegen sind durch ihre komplexen Strukturen relativ steif. Sie müssen sich an feste Strategien, Pläne und Prozesse halten, und die Entscheidungs- wege sind häufig lang. Außerdem sind ohne Unterstützung des Topmanagements die Res- sourcen stark beschränkt. Das Verhalten wird durch die Abhängigkeit von internen und ex- ternen Stakeholdern beeinflusst, zudem ist das Unternehmen an Besitz und Mitarbeiter gebunden. (Ellenberg, 2017, S. 39).
2.1.4.2 Das Problem der geringen wirtschaftlichen Erfolgschancen
Es stellt sich die Frage, warum im Augenblick so häufig auf Innovation Hubs/Labs oder Company Builder gesetzt wird. Zum einen fehlt es derzeit an vernünftigen Alternativlösun- gen, zum anderen handelt es sich bei Best Practices scheinbar um kostensparende und nach- ahmungswürdige Modelle (Vollmer, 2014, S. 52). Unternehmen schauen sich die Methoden und Vorgehensweisen der erfolgreichen Start-ups ab, in der Hoffnung, damit mindestens genauso erfolgreich zu werden. Wie auch Nora Jakob und Oliver Voß in ihrem Artikel fest- stellten, grassiert seit geraumer Zeit das „Gründerfieber“ in den Konzernen, bislang aller- dings ohne großen Erfolg (Jakob & Voß, 2016). Dass dieser Lösungsansatz oftmals eine Illusion und eine fatale Fehlentscheidung darstellt, zeigt sich in den mangelhaften Ergebnis- sen (Infront Consulting, 2017). Junge, motivierte Führungskräfte lassen sich oft von der An- zahl der generierten Ideen blenden, anstatt die tatsächlich wirtschaftlich relevanten Daten und Fakten zu beachten. Die ProSiebenSat1 Group beispielsweise gab ihren Inkubator Epic Companies im Herbst 2014 nach nur eineinhalb Jahren auf und folgte damit dem Mediengiganten Bertelsmann, der kurz zuvor im Sommer 2014 seinen Inkubator Bevation aufgelöst hatte. Die Gründe waren die zu hohe Burn-Rate und die fehlende wirtschaftliche Perspektive (Kroker, 2015).
Rational betrachtet ist die Erfolgswahrscheinlichkeit einer solchen Nachahmung verschwin- dend gering. Da die geschaffenen Grundvoraussetzungen in der Ideenentwicklung denen der konkurrierenden Start-ups entsprechen und sich die Skalierung sowie die Integration der Ideen in die bestehenden Strukturen und Prozesse des Unternehmens als äußerst schwierig gestalten, entsprechen die absoluten Erfolgschancen ungefähr denen jedes anderen Start-ups. Es wird berichtet, dass neun von zehn Gründungen scheitern und damit eine Überlebens- wahrscheinlichkeit am Markt von gerade einmal 10 % gegeben ist (Hoffmann & Roock, 2018). Eine Untersuchung von Jonathan Moules kam zu dem Ergebnis, dass nur 1 % der Start-ups die Stufe des Scale-ups erreichen. Definiert wurde der Scale-up dabei mit einem Mindestwachstum von 20 % in der Mitarbeiter- oder Umsatzzahl innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren. Somit kann sich nur eines von zehn Start-ups erfolgreich am Markt behaup- ten, wobei hier noch die Definition von Erfolg zu berücksichtigen ist. Wenn diese Innovation Hubs/Labs und Company Builder mit ihren Start-ups zu einem spürbaren Unternehmenser- folg beitragen sollen, setzt dies einen signifikanten Wertbeitrag voraus. Für unabhängige Start-ups sind diese Wertbeiträge viel geringer, da sie bereits mit viel weniger Umsatz als erfolgreich gelten. Wird von einem Wertbeitrag von 500 Millionen USD innerhalb von zehn Jahren ausgegangen, beträgt die Erfolgswahrscheinlichkeit lediglich 1:17.000. Bei einer Re- duzierung des erwarteten Wertbeitrages auf 100 Millionen USD verbessert sich die Erfolgs- wahrscheinlichkeit zwar auf 1:500 (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 18). Praktisch gesehen ist jedoch bei Start-ups aus den eigenen Reihen die Erzielung eines signifikanten Wertbei- trags und Innovationserfolgs mit einer äußerst hohen Unsicherheit verbunden.
Die anfänglichen Erfolgsfaktoren der Start-ups, wie die allgemeine Einfachheit und Schnel- ligkeit in Strukturen, Prozessen und Kommunikation, können im Verlauf der Skalierung zum Verhängnis werden. Durch die Abspaltung vom Kerngeschäft wird die Rückführung in das Unternehmen zu einer nicht zu vernachlässigenden Hürde. Die konkreten Gründe, weshalb sich separate Innovationseinheiten bisher nicht durchsetzen konnten, sind vielfältig. Zum Beispiel werden schlechte Modelle nicht frühzeitig abgeschaltet, vielversprechende Talente gründen lieber unabhängig, und der Wettbewerb um Finanzierungen hat erheblich zugenommen (Kaczmarek, 2014). Weitere Faktoren für das Scheitern von Start-ups im Ent- wicklungsverlauf sind in Abbildung 5 dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5. Die häufigsten Gründe für das Scheitern von Start-ups (Cantamessa et al., 2018, S. 10)
Dass es sich bei den ausgegliederten Innovationseinheiten nicht um eine vollkommen neue Idee handelt, zeigen einige Beispiele aus der Vergangenheit. Mit dem Ziel der Entwicklung neuer Technologien und Innovationen außerhalb des Kerngeschäfts der Fotokopierer grün- dete Xerox im Jahr 1979 das „Palo Alto Research Center“ (Dennis, 2018). Dort wurden zwar revolutionäre Technologien entwickelt (z. B. die Netzwerktechnik Ethernet oder die grafi- sche Oberfläche GUI), jedoch konnte Xerox keine dieser Innovationen selbständig profitabel vermarkten. Wegen der mangelhaften Umsetzung verharrten diese Technologien unter der Schirmherrschaft von Xerox im Stadium einer vielversprechenden Invention. Innovationen machten jedoch andere Unternehmen daraus.6 Lediglich der Laserdrucker, der nah am Kern- geschäft angesiedelt war, entwickelte sich zu einer erfolgreichen Innovation aus dem Hause Xerox selbst. Ein weiteres Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit war die Innovationsein- heit „Commerz NetBusiness AG“ der Commerzbank aus dem Gründungsjahr 1999 (Karasch, 2001). Das dreißigköpfige Team um die Mitbegründerin Britta Gayko entwickelte Lösungen für das Banking der Zukunft auf einem Greenfield. Nach einer gewissen Zeit ohne Erfolg wurde das Team jedoch dezimiert und in eine interne Strategieberatung umfunktio- niert, deren Schwerpunkt auf kerngeschäftsnahen Innovationen liegt (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 21).
2.1.4.3 Das Problem der mangelhaften Umsetzung
Ein weiteres Problem besteht darin, dass die vielversprechenden kreativen Ideen aus den Innovation Labs/Hubs und Company Buildern nicht effizient umgesetzt werden können. Selbst gute Konzeptideen mit optimalem Kundenfit stoßen in den stark auf Effizienz ausge- richteten Unternehmen schnell an ihre Grenzen. Die existierenden Ressourcen, Prozesse, Strukturen und die zahlreichen Stakeholder, die ihre eigenen Interessen verfolgen, entwi- ckeln sich zu einer Umsetzungsbarriere (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 16f). Zusätzlich herrschen in den Abteilungen, in denen die Idee zur Innovation umgesetzt werden soll, an- dere Prioritäten, Zielsetzungen und Kriterien vor. Die Kollegen aus der umsetzenden Abtei- lung zeigen oftmals wenig Verständnis für die zusätzliche Aufgabe, und so bleibt es oftmals nur bei einer theoretischen Idee auf dem Papier (Gothelf, 2017).
Die Unstimmigkeiten beginnen recht früh im Prozessschritt der Ideenfindung. In den krea- tiven Innovationseinheiten herrscht eine Kultur der Freiheit und des „Andersseins“. Die Ein- stellung „Think Different“ oder „Think Out-Of-The-Box“ gehört gefühlt zur Grundvoraus- setzung, was dazu führt, dass bereits von Beginn an die Ziele, Strukturen, Prozesse und Ressourcen eines Brownfield-geprägten Unternehmens ignoriert werden. Schwierigkeiten in der Umsetzung sind damit so gut wie vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass die eingesetz- ten agilen Methoden für Start-ups entwickelt wurden und die etablierten Großunternehmen genau das Gegenteil davon darstellen. Ein Start-up muss mit geringen Ressourcen auskom- men, hat dafür jedoch weniger Restriktionen zu berücksichtigen. Die neuen Strukturen und Prozesse des wachsenden Start-ups bauen sich um das innovative Geschäftsmodell auf. Ein etabliertes Großunternehmen kann diese ständige Transformation und Anpassung an eine neue Idee jedoch nicht leisten (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 16f). Demzufolge scheitern Innovationen nicht grundsätzlich an der mangelnden Kundenakzeptanz, sondern häufiger als angenommen daran, dass Greenfield-Ideen in einer Brownfield-Umwelt nicht effizient um- setzbar sind.
2.1.4.4 Eine provokante These: Die Ideen sind das Problem
Erste Bedenken gegenüber dieser separaten Start-up-Denkweise werden mittlerweile auch in der akademischen Forschung geäußert. Der „Change-Guru“ John Kotter hat inzwischen auf das Missverhältnis zwischen den separaten Innovationseinheiten und der Wirtschaftlich- keit reagiert und in einem Interview festgestellt, dass die Bilanz der getrennten Einheiten im Großen und Ganzen ein „Desaster“ sei. Gleiches gilt auch für die zahlreichen Akquisitionen. Start-ups werden erst zu extrem hohen Preisen von Unternehmen übernommen, bevor sie dann wegen enttäuschender Performance wieder abgestoßen werden. Stattdessen schlug Kotter vor, den Such- und Bearbeitungsprozess von Innovationen enger im Unternehmen zu verankern (Randolf, 2016, S. 24ff). Auch Clayton Christensen versucht, den aktuellen Ent- wicklungen entgegenzuwirken. Er empfahl ebenfalls in einem Interview, dass etablierte Un- ternehmen auf Disruptionen nicht überreagieren sollten, und warnt davor, das profitable Kerngeschäft zu vernachlässigen oder gar komplett aufzugeben (Schwertfeger, 2017, S. 56).
Auf den ersten Blick könnte das Fazit gezogen werden, dass die Großunternehmen die be- nötigte Reife als Corporate Start-up noch nicht erreicht haben und deshalb der wirtschaftli- che Erfolg ausbleibt. Die Probleme liegen scheinbar in den langjährig existierenden und festgefahrenen Strukturen und Prozessen sowie im zu langsamen Kulturwandel. Denkbar wäre aber auch, dass die Problematik in der Innovationsfindung selbst liegt. Die suboptimale Vorgehensweise mit den separaten Innovationseinheiten, die geringe wirtschaftliche Er- folgswahrscheinlichkeit und die ungenügende Umsetzungsstärke lassen jedenfalls einen sol- chen Schluss zu. Die provokante These könnte daher lauten: Das Problem der ausbleibenden Innovationen bei den etablierten Großunternehmen liegt nicht an den Restriktionen, sondern an der innovativen Idee bzw. am Ideenfindungsprozess selbst. Durch das Ignorieren der Rah- menbedingungen in diesen Unternehmen werden umsetzungsferne Ideen entwickelt und dadurch die erfolgreiche Ausführung gehemmt.
2.1.5 In Zukunft: effiziente Innovationen durch Kundenzentrierung und Traktion
Nachdem aufgezeigt wurde, wie kritisch sich die Umsetzung mit separaten Innovationsein- heiten gestaltet, werden im nachfolgenden Kapitel Ansätze zur Optimierung durch die Ent- wicklung effizienter Innovationen behandelt. Auch werden Antworten auf die in Kapitel 2.1.4.4 aufgestellte provokante These erarbeitet.
2.1.5.1 Herausforderungen für den langfristigen Innovationserfolg
Um den langfristigen Innovationserfolg sicherzustellen, ist eine Synthese der klassischen Innovationsmethoden mit den aktuellen Start-up-Methoden notwendig. Der Schwerpunkt der klassischen Methoden liegt vornehmlich in der effizienten Umsetzung inkrementeller Innovationen durch den Einsatz der Stärken aus dem Kerngeschäft. Die Methoden der Start- ups hingegen konzentrieren sich auf den Kundenfit, was seinen Ursprung in der Entwicklung zunehmender Kundenmacht und der damit nötig gewordenen Kundenzentrierung hat. Diese hohe Ausrichtung an den Kundenbedürfnissen führte zum Durchbruch kundenorientierter Methoden wie Design Thinking. In den klassischen Innovationsansätzen spielt die Kraft der Traktion die zentrale Rolle, während der Antrieb der neuen Innovationsmethoden der kon- zentrierte Kundenfit ist. Die Herausforderung des zukünftigen Innovationsmanagements liegt in der Zusammenführung beider Ansätze mit der Hauptaufgabe, kundenzentrierte Ideen bzw. Inventionen mit der verfügbaren Umsetzungsstärke zu verbinden (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 22ff).
Neben dem Erfolgsfaktor Kundenfit, der durch die neuen Start-up-Methoden in hervorra- gender Weise erreicht wird, fehlt der mindestens genauso wichtige Erfolgsfaktor der Trak- tion. Darunter werden der Umsetzungserfolg und die Wirkung, die eine erfolgreiche Inno- vation am Markt ausmacht, verstanden. Start-ups sprechen häufig von einer erfolgreichen Skalierung. Gängige Messgrößen sind Nutzerzahlen, Wachstum, Umsatz oder Gewinn (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 23).
2.1.5.2 Effiziente Innovationen durch Traktionserfolg
Effiziente Innovationen helfen etablierten Großunternehmen, sich langfristig im Wettbe- werb gegenüber disruptiven Start-ups durchzusetzen. Die Gefahr für die Großunternehmen liegt nicht nur in den disruptiven Start-ups, sondern auch darin, dass die Kernkompetenzen des Unternehmens im Innovationsprozess nicht berücksichtigt werden, obwohl diese eigent- lich einen Wettbewerbsvorteil darstellen. Können diese Vorteile in eine Verbindung mit dis- ruptiven Innovationen gebracht werden, die dazu noch einen hohen Kundenfit aufweisen, führt dies zu nachhaltig effizienten Innovationen (vgl. Abbildung 6). Frank Sportolari, Deutschlandchef des Konzerns UPS, ist sich bei der Frage nach einer möglichen Bedrohung durch Start-ups sicher: „Nein, das ist keine Bedrohung für uns. Wir sind in einem hart umkämpften Markt. Das, was wir anbieten, ist nicht so leicht nachzumachen: ein weltweites System aus Fluggesellschaften und Bodennetzwerken.“ (Penke, 2017)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6. Effiziente Innovationen: hoher Kundenfit und hohe Traktion (Eigene Darstellung in Anlehnung an [Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 31])
Effiziente Innovationen definieren sich durch den Einsatz der Wettbewerbsvorteile aus dem Kerngeschäft (Traktion) und einen gleichzeitig hohen Kundenfit, der für den notwendigen Disruptionsgrad sorgt. Sie sind so nah am Kerngeschäft wie möglich und so disruptiv wie nötig, damit die Stärken aus dem Kerngeschäft genutzt werden können und der ausreichende Kundenfit sichergestellt werden kann (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 30). Somit gilt die einfache Formel:
Effiziente Innovation = Kundenfit + Traktion
Nicht zu verwechseln ist dies jedoch mit den „Effizienz-Innovationen“ nach Christensen, die sich rein auf Effizienzgewinne auf der Ebene der inkrementellen Verbesserungen bezie- hen. Gerade für unter Innovationsdruck stehende Großunternehmen mit mindestens einem erfolgreichen Geschäftsmodell sind effiziente Innovationen sehr relevant (Chritou & Markides, 2002). Die Chance liegt im Einsatz vorhandener Fähigkeiten und Ressourcen aus dem Brownfield. Es ist für die Unternehmen alles andere als förderlich, dass diese Optionen in den Start-up-Methoden weitestgehend keine Berücksichtigung finden und somit die wirt- schaftliche Erfolgschance auf das geringe Niveau üblicher Start-ups herabgesetzt wird (vgl. Kapitel 2.1.4.2). Die sofortige Einbeziehung der Traktionsfaktoren würde den gesamten In- novationsprozess beschleunigen und ihm mehr Sicherheit und weniger Risiko verleihen.
Dazu müssten schon vor der Konzeptionierung und Validierung der Ideen die Umsetzungs- kriterien und Stärken des Unternehmens in den Prozess einfließen. Auf diese Weise kann dafür gesorgt werden, dass die entwickelten Ideen auch zum Unternehmen passen und effi- zient umgesetzt werden können (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 30). Der attraktive Vorteil dieser Vorgehensweise ist die systematische Reproduzierbarkeit, wie es das Beratungsun- ternehmen Bain & Company auch in seinem Modell anspricht (Allen & Zook, 2012). Die Chance, erfolgreich neue Geschäftsfelder zu erschließen, beläuft sich ab dem Zeitpunkt, in dem die Stärken des Kerngeschäfts berücksichtigt werden, immerhin auf 1:8 (Zook, 2016).
Die in Tabelle 1 aufgeführten Traktionsfaktoren bezeichnen die individuellen Stärken und mögliche Wettbewerbsvorteile, die je nach Unternehmen und Branche variieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1. Beispiele von Traktionsfaktoren (Eigene Darstellung in Anlehnung an [Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 27])
Richtig eingesetzt und kombiniert führt die disruptive Idee zur gewünschten effizienten In- novation. Wie oben bereits dargestellt, verfügen effiziente Innovationen über folgende charakteristische Eigenschaften:
- Der Kundenfokus ist vorhanden, um den Kundenfit und damit die ausreichende Disruption sicherzustellen.
- Die Restriktionen, Ressourcen und Fähigkeiten des Kerngeschäfts sind mit der Idee kompatibel, wodurch die nötige Traktion erzeugt wird.
- Die Innovation bewegt sich so nah wie möglich am Kerngeschäft und ist so disruptiv wie nötig.
- Kombination von neuer Technologie mit neuem Geschäftsmodell: Die neue Techno- logie wird in ein existierendes Geschäftsmodell überführt, oder ein neues Geschäfts- modell wird in das existierende Kerngeschäft integriert. Wichtig ist, dass die Basis immer das Kerngeschäft bleibt.
2.1.5.3 Erfolg durch effiziente Innovationen
In besonders extremen Fällen haben effiziente Innovationen sogar das Potenzial, das Kern- geschäft in einem äußerst positiven Sinne zu beeinflussen. Netflix ist mit seinem Streaming- dienst ein Paradebeispiel für eine solche Transformation. Durch das Kerngeschäft als DVD- Verleih war es möglich, auf vorhandene Kontakte in den Filmstudios zurückzugreifen und die vorhandene filmaffine Kundenbasis beim Neustart zu übernehmen. IBM hat einen ähn- lichen Wandel vollzogen und es geschafft, nah am Kerngeschäft zu innovieren und das Hardwaregeschäft zum größten Teil durch den IT-Service abzulösen (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 36).
Aus der Forschung gibt es auch bereits genügend Ergebnisse, die darauf schließen lassen, dass effiziente Innovationen der Schlüssel für einen nachhaltigen Innovationserfolg etablier- ter Großunternehmen zu sein scheinen. Obwohl das Gründungsziel einer separaten Innova- tionseinheit genau das Gegenteil ist, hat sich die enge Verknüpfung mit dem Kerngeschäft als relevanter Erfolgsfaktor herausgestellt. Die Nähe zum Kerngeschäft vereinfacht die Kommerzialisierung und reduziert unnötige Probleme (O'Hare et al., 2008). Diese Verbin- dung zwischen der Effizienz des Kerngeschäfts und der disruptiven Innovationskraft kun- denorientierter Ideen verschafft klare Vorteile gegenüber dem Wettbewerb (Sarkees & Hulland, 2009). Zum einen lässt sich das Kerngeschäft revitalisieren und erweitern, zum anderen können neue Märkte und Zielgruppen erschlossen werden (Mootee, 2011). Bilgram, Füller und Leitl raten sogar dazu, nur die Innovationen zu verfolgen, die wirklich zur Unter- nehmensstrategie passen (Bilgram et al., 2018). Nicht zu vernachlässigen sind dabei die be- nötigten Ressourcen. Die Kapazitäten für die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens hän- gen maßgeblich von den zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Die vorhandenen Ressourcen aus dem Kerngeschäft müssen mit frischen Ideen kombiniert und zusammenge- bracht werden, damit sich letztendlich ein etabliertes Großunternehmen gegen die disrupti- ven Start-ups durchsetzen kann (Kastopoulos, 2002).
2.1.5.4 Dualismus und Ambidextrie: das Gleichgewicht finden
Unter den Fachbegriffen „Dualismus“ und „Ambidextrie“ beschäftigt sich die Manage- menttheorie mit der Balance zwischen dem Kerngeschäft und den Innovationen. Dahinter steht die Fragestellung, wie sich ein Unternehmen möglichst effizient aufstellt und parallel dazu erfolgreiche Innovationen für die Zukunft hervorbringt (Paap & Katz, 2004). In den agilen Methoden der Start-ups steht die Identifizierung von „Whitespots“7 und die Erschlie- ßung neuer Geschäftsfelder im Vordergrund, häufig jedoch mit einer unzureichenden Be- rücksichtigung des Kerngeschäfts im Innovationsprozess. Dabei zeigen Untersuchungen ganz klar, dass erfolgreiche Unternehmen nicht nur beweglich, schnell und ideenreich han- deln, sondern auch ihre Stärken aus dem Kerngeschäft nutzen, um neue Geschäftsmodelle rasch und kosteneffizient auszurollen (Birkinshaw & Gibson, 2004). Damit besitzen erfolg- reiche Unternehmen zeitgleich die Fähigkeit der Exploration bzw. Agilität und die Fähigkeit der Exploitation bzw. Angleichung. Unter Exploitation wird die Erzielung eines positiven Wertbeitrags im Kerngeschäft durch Angleichung des Innovationsportfolios verstanden.
Das explorative bzw. agile Vorgehen in einer separaten Innovationseinheit scheint im Au- genblick die einzige einigermaßen Erfolg versprechende Lösung zu sein. Entweder wird an disruptiven Innovationskonzepten gearbeitet, oder der Erhalt des Kerngeschäfts steht im Mittelpunkt (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 37). Heutzutage wird zwischen struktureller und kontextueller Ambidextrie unterschieden.
1. In der strukturellen Ambidextrie sind die separaten Innovationseinheiten organisato- risch verankert. Das Topmanagement versucht, auf hierarchischem Wege ein Gleich- gewicht zwischen dem Erforschen neuer Opportunitäten und der Entwicklung des Kerngeschäfts herzustellen.
2. Die kontextuelle Ambidextrie nimmt den einzelnen Mitarbeiter in die Verantwortung, seine Tätigkeitsschwerpunkte selbständig festzulegen und so die eigene Balance zwi- schen der Erforschung neuer disruptiver Innovationen und der Angleichung bzw. Optimierung des Kerngeschäfts zu finden. Das Topmanagement schafft nur die Rah- menbedingungen, die finale Entscheidung trifft der Mitarbeiter jedoch selbst.
Beide Ansätze sehen sich mit dem „Innovator’s Dilemma“ einer Entweder-Oder-Entschei- dung konfrontiert. Entweder liegt der Fokus auf der Entwicklung neuer disruptiver Innova- tionen, oder das Kerngeschäft wird zur inkrementellen Optimierung genutzt. Wie aber im weiteren Verlauf noch erklärt und hergeleitet werden wird, muss in einem effizienten Inno- vationsprozess beides miteinander kombiniert und zu einer Lösung verschmolzen werden. Die Antwort auf das oben beschriebene Dilemma ist eine prozessuale Ambidextrie (Sauberschwarz & Weiß, 2018, S. 37f): Hier wird in einem vordefinierten Prozess an effi- zienten Innovationen gearbeitet, Restriktionen und Stärken des Kerngeschäfts werden be- rücksichtigt und mit kundenzentrierten disruptiven Ideen und Inventionen in Einklang ge- bracht. Dies wiederum setzt Fähigkeiten, organisatorische Prozesse und Strukturen sowie fixe Prozessschritte mit klaren Entscheidungsregeln voraus (O'Reilly & Tushmann, 2008) .
Wie ein solcher Innovationsprozess konstruiert sein könnte und welche agilen Methoden für das Innovations-Ökosystem infrage kommen, wird in Kapitel 2.3 aufgezeigt. Zuvor ist es jedoch notwendig und sinnvoll, das Thema Agilität detaillierter zu betrachten.
2.2 Agilität: ein aktueller Überblick
Die derzeit gängigen Management- und Führungsmethoden sind alle älter als fünfzig Jahre (Bachfischer, 2018, S. 14). Dementsprechend greifen sie für heutige Verhältnisse zu kurz, da sie zu schwerfällig sind (Reimann, 2017). Auch die Ursprünge des Innovationsmanage- ments, die noch heute in ihren Grundzügen nicht an Gültigkeit verloren haben, lassen sich bis ins Jahr 1939 zurückverfolgen. In seinem Buch „Business Cycles“, das im Jahr 1961 ins Deutsche übersetzt wurde, führte Joseph A. Schumpeter, der Begründer der Innovationsfor- schung, den Begriff der „Innovation“ in den deutschen Sprachgebrauch ein (Schumpeter, 2008, S. 95). Der US-Ökonom Peter F. Drucker beeinflusst noch heute die Strukturen vieler Weltkonzerne. Seine provokanten Thesen wie beispielsweise „Above all, innovation is work rather than genius“ (Drucker, 2006, S. 78), „Successful innovators start small and, above all, simple“ (Drucker, 2014, S. 182) und „Culture eats strategy for breakfast“ (Cohen, 2016, S. 33) werden von der Start-up-Welt häufig aufgegriffen und zitiert. Der zurzeit wohl bekann- teste Vertreter der Innovationsforschung ist Clayton M. Christensen, der als Professor an der Universität Harvard lehrt. Mit seinem 1997 veröffentlichten Bestseller „The Innovator’s Di- lemma“ verfasste er eines der einflussreichsten Werke der jüngsten Zeit. Von ihm wurde der Begriff der „Disruption“ ausschlaggebend geprägt und 2015 sogar als das Wirtschaftswort des Jahres ausgezeichnet (Meck & Weiguny, 2015). Besonders häufig wird dieser Begriff für Start-ups verwendet, die innerhalb kürzester Zeit komplette Branchen und Märkte in ih- rer Mechanik verändern. Die Aussagen und Werke dieser drei Persönlichkeiten zeigen deut- lich, dass Unternehmen schon immer unter dem Druck standen und auch heute noch stehen, sich kontinuierlich zu verbessern, innovativ zu agieren, sich weiterzuentwickeln oder gar neu zu erfinden.
Im Kontext von Innovation werden heutzutage häufig Trendbegriffe wie Agilität, Lean Start- up und Design-Sprints verwendet. Auch in traditionelle Arbeitsbereiche wie das Marketing oder die Produktentwicklung haben diese „Buzzwords“ mittlerweile Einzug gehalten. Das Ausmaß hat inzwischen schon eine außerordentliche Größe erreicht und ist definitiv mehr als nur eine Modeerscheinung (Summerer & Maisberger, 2018, S. 204). Was sich dahinter verbirgt und in welchem Zusammenhang diese Methoden stehen, wird in den folgenden Ka- piteln beschrieben.
Um agile Innovationen nachvollziehen zu können, sollte im ersten Schritt definiert werden, was unter Agilität zu verstehen ist. Besonders aufschlussreich ist dabei ein Blick auf die historische Entwicklung und das heutige Verständnis von Agilität sowie ein Überblick über die tragenden Prinzipien, Werte und Methoden.
2.2.1 Historische Entwicklung des Konzepts Agilität
Auf der Suche nach einer allgemeingültigen Definition des Begriffs „Agilität“ im Kontext von Unternehmen wird rasch deutlich, dass die zugrunde liegenden Termini überaus un- scharf definiert sind.
Lateinisch:
agilis: aus lat. „lenksam, behände, rasch“
stammt von
agere: aus lat. „tätig sein, handeln, tun, machen“
Duden:
agil: „von großer Beweglichkeit zeugend, regsam, wendig“
adaptiv: „auf Adaption beruhend, sich anpassend, anpassungsfähig“
Schnelligkeit, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Dynamik, Vernetzung, Vertrauen und Selbstorganisation sind häufig genannte Aspekte, die mit Agilität in Zusammenhang ge- bracht werden (Lindner, 2017, S. 51). In den vergangenen Jahrzehnten gab es bereits etliche Versuche, Agilität begreifbar zu machen.
Dass diese Unklarheit trotz zahlreicher Forschungsansätze bis heute vorherrscht, stellte auch Appelbaum in seinem Journalbeitrag „The challenges of organizational agility“ aus dem Jahr 2017 fest (Appelbaum et al., 2017, S. 6ff). Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass es erste konkrete Überlegungen zur Agilität bereits zu Beginn der 1980er Jahre gab. So definierten Brown & Agnew im Jahr 1982 in ihrem Artikel „Corporate Agility“ Agilität wie folgt:
„ Corporate agility, the capacity to react quickly to rapidly changing circumstances, requires a focus on clear system outpout goals and the capability to match human resources to the demands on changing circumstances.“
(Brown & Agnew, 1982, S. 29)
Bereits zu dieser frühen Zeit wurden Charakteristika genannt, die mit der heutigen Beschrei- bung von Agilität übereinstimmen, beispielsweise die schnelle Reaktionsfähigkeit auf Ver- änderungen der vorherrschenden Umwelt, die Berücksichtigung von klaren Zielen und der richtige Einsatz der menschlichen Komponente.
Eine starke Zunahme an wissenschaftlichen Aufsätzen zur Agilität war zu Beginn der 1990er Jahre zu verzeichnen. Der Schwerpunkt lag dabei vor allem auf der Reaktionsfähigkeit, der Schnelligkeit und der Flexibilität im Wandel der Einflussfaktoren auf das Unternehmen. An- hang A enthält eine Übersicht relevanter historischer Artikel mit dem jeweiligen Veröffent- lichungszeitpunkt und den entsprechenden Begriffsdefinitionen.
Erst gegen Ende der 1990er Jahre rückte der individuelle Wert eines Kunden in den Fokus der Betrachtungen zur Agilität. Dieser beinhaltet unter anderem die Produktentwicklung nach Kundenerfordernissen. Zuvor hatte der Schwerpunkt überwiegend auf dem reaktiven Verhalten gelegen. Die bisherigen Aspekte von Agilität (Schnelligkeit, Flexibilität, Qualität, Profitabilität und Innovation) wurden durch das Element des proaktiven Handelns ergänzt.
„ Für ein Unternehmen bedeutet Agilität die Fähigkeit,
in einer Wettbewerbsumgebung gewinnbringend zu operieren, die charakterisiert ist durch ständig, aber unvorhersehbar sich ändernde Kundenwünsche.“
(Goldmann et al., 1996, S. 324)
In den 2000er Jahren tauchte zum ersten Mal der Aspekt der Prozessorientierung in den Begriffsdefinitionen auf. Dabei ist der Prozess an sich als operative Komponente der Agilität zu verstehen. Außerdem rückte die Rolle des Kunden und des Marktes immer stärker in den Fokus. Ein besonderes Augenmerk spielt dabei der enge und kontinuierliche Kontakt zum Kunden und zum Markt (Förster & Wendler, 2012).
Dieser kontinuierliche Wandel über die Jahre hinweg sowie die Verschiebungen der Schwer- punkte machen eine klare Begriffsdefinition äußerst schwierig. Es liegt natürlich auch in der Natur der Agilität, sich fortlaufend neu zu definieren. Der Agilitätsbegriff aktualisiert sich somit evolutionär und analog zu aktuellen Entwicklungen und kann, positiv ausgedrückt, trotz seiner langen Historie stets als „modern“ bezeichnet werden.
Nach der heutigen Auslegung von Agilität gehen die Wurzeln auf den Automobilbau (Lean Production und Lean Management) zurück. Den Durchbruch erlangte die Agilität jedoch erst durch den Start der Softwareentwicklung in den 1970er Jahren und den darauffolgenden Boom der IT-Branche. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde das Scheitern planender Ansätze in der Softwareentwicklung erkannt. Zu steif und innovationshemmend waren die bis dahin bekannten bürokratischen Prozessstandards, weshalb als Konsequenz neue, agilere Ansätze entwickelt wurden (Scheller, 2017, S. 43).
Im Jahr 2001 wurde der Begriff „Agilität“, wie man ihn heute kennt, durch siebzehn Exper- ten aus der Softwareentwicklung im sogenannten „Agilen Manifest“ definiert (Preußig, 2018, S. 39ff). Darin wurden die Werte und Prinzipien für eine moderne Form der Software- entwicklung festgehalten, die heute als Basis des agilen Verständnisses gelten. Auf diesen Werten und Prinzipien basieren die heutigen agilen Prinzipien und Methoden.
2.2.2 Werte und Prinzipien nach dem Agilen Manifest
Im Agilen Manifest wurden vier Werte festgelegt; dabei stehen die kursiv hervorgehobenen Werte jeweils über den Werten auf der rechten Seite (Preußig, 2018, S. 39).
1. Individuen und Interaktion höher als Prozesse und Werkzeuge,
2. funktionierende Software höher als umfassende Dokumentationen,
3. Zusammenarbeit mit dem Kunden höher als Vertragsverhandlungen,
4. Reagieren auf Veränderungen höher als das Befolgen eines Plans.
Um die gesamte agile Vorgehensweise nachvollziehen zu können, sollten die nachfolgend aufgeführten zwölf Prinzipien im Original bekannt sein (Preußig, 2018, S. 43ff):
1. Kundenbindung durch Teilprodukte: Von höchster Priorität ist es, den Kunden durch eine frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufriedenzustellen.
2. Veränderung begrüßen: Anforderungsänderungen sind zu jedem Zeitpunkt willkom- men. Veränderungen können als Wettbewerbsvorteil genutzt werden.
3. Kurze Entwicklungszyklen: Funktionierende Software sollte in kurzen, regelmäßigen
Zeitspannen abgeliefert werden, am besten innerhalb weniger Wochen oder Monate.
4. Kundensicht im Projekt: Um die Kundensicht korrekt umzusetzen, ist die tägliche
Zusammenarbeit von Fachexperten und Entwicklern unabdingbar.
5. Eigenverantwortliche Mitarbeiter: Für motivierte Individuen müssen passende Pro- jekte und ein unterstützendes Umfeld sichergestellt werden. Die Führungskraft sollte darauf vertrauen, dass die Aufgaben erledigt werden.
6. Direkte Kommunikation: Das persönliche Gespräch ist die effizienteste und effek- tivste Methode der Informationsweitergabe innerhalb eines Teams.
7. Funktionierendes Teilprodukt: Das wichtigste Maß, um Fortschritt zu messen, ist funktionierende Software.
8. Nachhaltiger Projektfortschritt: Gleichmäßiges Tempo sollte unbegrenzt lange auf- rechterhalten bleiben. Der nachhaltige Entwicklungsfluss wird durch agile Prozesse gefördert.
9. Erweiterbare Teilprodukte: Agilität wird durch kontinuierlichen Fokus auf techni- sche Exzellenz und hervorragendes Design gefördert.
10. Einfachheit: Unnötige Arbeitsschritte sollten vermieden, maximaler Nutzen gestiftet werden.
11. Selbst organisierte Teams: Diese erzeugen die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe.
12. Kontinuierliche Verbesserung: Eine regelmäßige Reflexion des Teams ist nötig, um das eigene Verhalten anzupassen und die Effektivität zu verbessern.
2.2.3 Adaption an den agilen betrieblichen Kontext
Werden die Werte und Prinzipien, die ursprünglich für die Softwareentwicklung definiert wurden, auf die Agilität im betrieblichen bzw. organisatorischen Kontext übertragen, lassen sich folgende Charakteristika festlegen (Richter & Esswein, 2014):
- Kunden: Fokus auf Kundenanforderungen, Maximierung von Kundennutzen, Pro- dukte und Dienstleistungen nach Kundenwunsch,
- Kosten: Kostenreduktion und Sparsamkeit auf allen Ebenen, Eliminierung von un- nötiger Verschwendung,
- Geschwindigkeit: schnelle Reaktionsfähigkeit in allen Bereichen, ständige Bereit- schaft, kurze Produktions- und Lieferzeiten, rasche Partnerschaftsentwicklung,
- Reaktionsfähigkeit: Freude und Vermögen, mit unvorhersehbaren und häufigen (Ver-)Änderungen umzugehen,
- Flexibilität: Anpassungsfähigkeit an neue oder veränderte Bedingungen durch in- terne sowie externe Faktoren,
- Proaktivität: vorausschauendes und initiatives Handeln, positive Einstellung gegen- über dem Wandel,
- Lernen: Schwerpunkt auf kontinuierlicher Verbesserung, Akzeptanz von Verände- rungen als Möglichkeit des Lernens.
2.2.4 Definition der heutigen Agilität
Unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung und des Agilen Manifests fassen die folgenden drei Definitionen das heutige Verständnis von Agilität weitestgehend zusammen:
„ Agilität ist zunächst die Fähigkeit einer Organisation, relevante Veränderungen in ihrem Umfeld zu antizipieren. Darüber hinaus bedeutet Agilität, bei relevanten Veränderungen flexibel, aktiv und anpassungsfähig zu agieren.“
(Haufe, 2017)
„ Agilität ist die Fähigkeit, schnell und kooperativ auf Veränderungen in unvorhersehbaren Umwelten (zumeist reaktiv) einzugehen, um Bedarfe effizient und effektiv zu befriedigen.“ (Schmidt & Paetzold, 2016, S. 256f)
„ Agilität wird heute allgemein als höchste Form der Anpassungsfähigkeit einer Organisa- tion verstanden. Die Reaktion auf externe Entwicklungen und die anschließende schnelle Aktion innerhalb interner Prozesse und Produktportfolios sind die Voraussetzungen dafür, um in einem sich kontinuierlich wandelnden Marktumfeld zu bestehen. Agilität ist die Fä- higkeit einer Organisation, sich zeitnah, effektiv und nachhaltig zu verändern, um Performance-Vorteile zu erzielen.“
(Goetzpartners, 2017)
Um Agilität nach heutigem Verständnis ganzheitlich zu definieren, ist eine entsprechende Ergänzung sinnvoll, sodass die Definition nun wie folgt lauten kann:
„ A gilität ist eine nachhaltige und positive Grundhaltung gegenüber dem kontinuierlichen und unvorhersehbaren Wandel der Rahmen- und Umweltbedingungen. Sie ist die höchste Form der effizienten Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit einer Organisation.
De r intensive Kunden- und Marktfokus ist die Basis für jegliches initiatives und voraus- schauendes Handeln.“
Es ist unbedingt notwendig, dass die ganze Organisation, insbesondere die Führungskräfte, die richtige Auffassung von Agilität verinnerlicht. Um den Wandel effizient voranzutreiben, muss klar sein, was Agilität ist und was nicht. Denn Agilität ist nicht immer passend, wes- halb vor der Implementierung eine genaue Prüfung dringend erforderlich ist. Agilität ist ausschließlich für den Einsatz in einem komplexen8 Kontext sinnvoll (Scheller, 2017, S. 109). Hierunter werden Sachverhalte mit hoher Unsicherheit verstanden, die mit hohen Än- derungsfrequenzen und unvorhersehbaren Risiken verbunden sind (Project Management Institute, 2017, S. 7). Ist hingegen die Aufgabenstellung „nur“ kompliziert9, dann ist Agilität nicht die geeignete Lösung.
Trotz allem ist Agilität kein Erfolgsgarant für komplexe Aufgabenstellungen aller Art. Fälschlicherweise wird Agilität oftmals einfach als eine neue Managementmethode wahrge- nommen statt als eine tief in der Unternehmenskultur zu verankernde Grundhaltung.
2.2.5 Das Mindset: mehr als nur eine Grundhaltung
Die oben beschriebene Grundhaltung wird im Neudeutschen als „Mindset“ bezeichnet. Al- lerdings ist die Verwendung von Anglizismen nicht immer optimal und führt häufig zu Ver- wirrung. Oftmals gibt es auch keine direkten Übersetzungen, was auch auf den Begriff „Mindset“ zutrifft. Eine Umschreibung des Begriffs führt jedoch zu Unschärfe.
Das Mindset umfasst alle relevanten Einstellungen und Haltungen einer Person, nicht nur ihre Grundhaltung. Es handelt sich also um Einstellungs- und Haltungsänderungen, die bei den Führungskräften und Mitarbeitern stattfinden müssen, damit die Kraft der Agilität über- haupt eine Chance zur Entfaltung erhält (Nowotny, 2018, S. 63). Denn das Handeln der Menschen basiert auf ihrer inneren Einstellung und Überzeugung sowie auf ihren Werten. Soll die Agilität in einer Organisation erfolgreich umgesetzt werden, sind dementsprechend veränderte Handlungsweisen der Beteiligten nötig. Dazu bedarf es eines neuen bzw. agilen Mindsets (Scheller, 2017, S. 114). Einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf das Mindset haben positive und negative persönliche Erfahrungen. Diese sind der Nährboden für die menschlichen Einstellungen, Anschauungen, Präferenzen und Denkweisen, die einen erheblichen Anteil am beruflichen und privaten Handeln haben (Lasnia, 2018, S. 41). Das bisherige Mindset passt nicht zur Agilität, und es kann nicht funktionieren, einem alten Mindset einfach neue Handlungsweisen aufzuzwingen. Hierin liegt einer der Hauptgründe für schlecht umgesetzte Implementationsversuche.
Dass ein agiles Mindset benötigt wird, ist auf die starke Veränderung des Konzepts der Ar- beit und auf die Beziehung zur heutigen Arbeit bzw. deren Wahrnehmung zurückzuführen. Dies wiederum führt zu einem neuen Menschenbild (Theorie Y), das sich sehr einfach im Modell von Douglas McGregor ableiten lässt. Grundlage des Modells ist die Prämisse, dass jede Entscheidung auf Annahmen über die menschliche Natur und das menschliche Verhal- ten beruht. McGregor unterschied schon zu seiner Zeit zwischen dem traditionellen Manage- ment mit der Theorie X und dem Idealbild von Management mit der Theorie Y. Wie Tabelle 2 zeigt, erfolgte die Differenzierung beider Theorien in den Kategorien Verhalten, Führung, Verantwortung, Motivation und Kreativität (McGregor, 2005, S. 43ff).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2. Unterschiede zwischen Theorie X und Theorie Y nach Kategorien (Eigene Darstellung in Anlehnung an [Scheller, 2017, S. 129])
Durch sein pauschales und stark vereinfachtes Konzept ist das Modell einfach nachvollzieh- bar und deshalb noch heute im Management häufig vorzufinden. Allerdings bauen die tra- ditionellen Managementkonzepte und das Handeln auf zu einfachen Annahmen auf und ent- sprechen nicht der wahren Komplexität des Menschen. Es handelt sich um eine Art selbst erfüllende Prophezeiung: Die Reaktion der Mitarbeiter auf diese einfache Denkweise im Management führt dazu, dass sie sich den Erwartungen entsprechend verhalten und die An- nahmen sich im Gegenzug scheinbar bestätigen (Scheller, 2017, S. 128).
Die Theorie der Agilität in der heutigen Zeit ist das passende Modell zur Theorie Y nach McGregor. Seit Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ist es zu einer signifikanten Verschiebung der generellen Arbeitstätigkeit gekommen. War die Arbeit früher geprägt von Routineaufgaben, hat sie sich heute zur kreativen Kopfarbeit gewandelt. Zu Zeiten von Tay- lor überwogen einfache manuelle Tätigkeiten und waren für den Ausführenden uninteres- sant. Zu dieser Zeit funktionierte das Management auf der Basis von Theorie X tatsächlich. Heute ist die Arbeit für viele Menschen interessanter und vielschichtiger geworden, die Auf- gaben werden als selbstbestimmender und kreativer empfunden. Menschen definieren sich heutzutage sogar über ihre Arbeit. Die Kopfarbeit besteht im Lösen von komplexen Sach- verhalten und erfordert einen kreativen Geist, um neuartige Ansätze zu finden. Diese Er- kenntnis hat weitreichende Konsequenzen auf die Motivation und das Handeln der Men- schen in der agilen Start-up-Welt (Scheller, 2017, S. 116f).
Die Frage ist nun, welche konkreten Treiber in der heutigen Zeit zu mehr Produktivität und Effizienz führen und zugleich die Motivation fördern. Lasnia hat dazu fünf agile Elemente beschrieben (Lasnia, 2018, S. 85):
1. Weniger Profitdenken und mehr Sinngebung: Jeder im Team sollte die Unterneh- mensvision kennen, vertreten und teilen können. Voraussetzung hierfür ist das Ver- ständnis für das große Ganze und nicht das blinde Folgen. Der Sinn gibt ein Bewusst- sein für den persönlichen Wertbeitrag zum Erfolg. Handlungsschritte zur Sinn- und Wertschaffung sollen hinterfragt werden.
2. Weniger Hierarchien und mehr Netzwerke: Öffnung und Förderung horizontaler wie auch vertikaler Kommunikationswege. Jeder sollte mit jedem auf allen Hierarchie- stufen schnell und einfach ohne Bedenken in Kontakt treten können.
3. Weniger Kontrollieren und mehr Befähigen: Motivierte Teams werden durch büro- kratische und hierarchische Regularien ausgebremst. Um das höchstmögliche Poten- zial der Teams auszuschöpfen, sollten diese mit mehr Entscheidungsbefugnis ausge- stattet werden.
4. Weniger Langfristplanung und mehr Austesten: Gezielte Experimente sollen klare Fakten schaffen, welcher der beste Weg für das Team, den Kunden oder das Unter- nehmen ist. Durch unterschiedliche Herangehensweisen können verschiedene Lö- sungswege generiert und bewertet werden.
[...]
1 Polytelisch = mehrere Ziele berücksichtigend.
2 Ein Unicorn (Einhorn) ist ein Start-up mit einer Bewertung von mindestens einer Milliarde Dollar (Rouse, 2017).
3 Im Kontext dieser Arbeit werden unter dem Begriff „Brownfield“ die Rahmenbedingungen eines Innova- tionsprojektes verstanden, die fest durch das Unternehmen vorgegeben sind, wie z. B. Strukturen, Prozesse, Ressourcen und Ziele.
4 Im Kontext dieser Arbeit werden unter dem Begriff „Greenfield“ die Rahmenbedingungen eines Innova- tionsprojektes verstanden, die keine Restriktionen und Vorgaben durch das Unternehmen befolgen müssen und somit ein komplett freies Arbeiten ermöglichen.
5 Ein Spin-off ist die Ausgründung eines eigenständigen Unternehmens und somit die Ausgliederung einer Organisationseinheit aus bestehenden Unternehmensstrukturen (Markgraf, 2018).
6 Auf die Unterscheidung zwischen Innovation und Invention wird in Kapitel 2.3.1 eingegangen.
7 Der Begriff „Whitespots“ bezeichnet in diesem Kontext Marktbereiche, die durch das eigene Angebot noch nicht bedient werden (Wübbenhorst, 2018).
8 Komplex ist eine Sache dann, wenn eine vollständige Beschreibung (Aufbau und Verhalten) unmöglich ist und sie nicht nachgebaut werden kann. Sie lässt sich nicht in ihre Einzelteile zerlegen, nicht wieder zusammensetzen und auch nicht vereinfachen, ohne dass die Funktion verloren geht (Scheller, 2017, S. 33).
9 Kompliziert ist eine Sache dann, wenn sie vollständig (Aufbau und Verhalten) beschrieben und nachge- baut werden kann. Sie lässt sich systematisch in ihre Einzelteile zerlegen, wieder zusammensetzen und auch vereinfachen, ohne dass die Funktion verloren geht (Scheller, 2017, S. 32).
- Arbeit zitieren
- Viktor Andrin (Autor:in), 2019, Transformation Corporate Start-up. Der Einsatz agiler Innovationsmethoden in etablierten Großunternehmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/457363
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