"Pierre Bourdieu ist [...] nicht nur und nicht primär ein Homo academicus." (Bohn/Hahn 1999: 252) Wie ist diese Aussage zu bewerten? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Bourdieu hat Zeit seines Lebens und darüber hinaus dafür gesorgt, dass Kritiker und Befürworter seiner Theorien einen fortwährenden Diskurs über ben diese Frage und seine Rolle als Wissenschaftler führen.
Aus den Reihen der Wissenschaft wurde er unter anderem oftmals mit dem Vorwurf konfrontiert, "seine Theorie sei deterministisch, lasse keine Veränderungen zu und führe daher zu politischem Fatalismus." (Steinrücke 1992:9) Seine Befürworter hingegen schätzen, dass bei ihm "Theorie und empirische Untersuchung nicht getrenn nebeneinander stehen, sondern eng aufeinander bezogen sind." (Krais/Gebauer 2002:14) Bourdieu plädierte immer wieder dafür, dass die Soziologie sich den Blick für das Alltägliche bewahren muss und die gegenwärtigen Probleme der Gesellschaft für sie von hoher Wichtigkeit sein sollten. Die Autorin hat ein besonderes Interesse für die Frage, inwieweit der Habitus und Kapitalformen, zwei zentrale Aspekte in Bourdieus Schriften, sich auf den Stand eines Individuums in unserer Gesellschaft und auf eine mögliche soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland auswirken können. Sie stellt diese Frage deshalb in den Mittelpunkt ihrer Beobachtung.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Soziale Ungleichheit - eine kurze Definition
2. Bourdieu – Habitus und Kapitalformen
2.1 Das Konzept des Habitus
2.1.1 Der Ursprung der Habitustheorie
2.1.2 Der Habitus als Dispositionssystem sozialer Akteure
2.2 Die Kapitalformen
2.2.1 Ökonomisches Kapital
2.2.2 Kulturelles Kapital
2.2.2.1 Objektiviertes kulturelles Kapital
2.2.2.2 Inkorporiertes kulturelles Kapital
2.2.2.3 Institutionalisiertes kulturelles Kapital
2.2.3 Soziales Kapital
3. Bourdieus Kritik – ein Problem der französischen Gesellschaft?
4. Resümee
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Pierre Bourdieu ist […] nicht nur und nicht primär ein Homo academicus.“ (Bohn/Hahn 1999: 252) Wie ist diese Aussage zu bewerten? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Bourdieu hat Zeit seines Lebens und darüber hinaus[1] dafür gesorgt, dass Kritiker und Befürworter seiner Theorien einen fortwährenden Diskurs über eben diese Frage und seine Rolle als Wissenschaftler führen.
Aus den Reihen der Wissenschaft wurde er unter anderem oftmals mit dem Vorwurf konfrontiert, „seine Theorie sei deterministisch, lasse keine Veränderungen zu und führe daher zu politischem Fatalismus“ (Steinrücke 1992:9) Seine Befürworter hingegen schätzen es, dass bei ihm
„Theorie und empirische Untersuchung nicht getrennt nebeneinander stehen, sondern eng aufeinander bezogen sind […] [und, dass er das], was andernorts Theorie genannt wird, als ´Erkenntniswerkzeuge´, als Instrumente zum Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich daran messen lassen müssen, was sie für die Analyse dieser Wirklichkeit taugen [bezeichnet].“ (Krais/Gebauer 2002: 14)
Wie wichtig ihm gerade der praktische Nutzen seiner Theorien war, wird besonders in dem Vorwort zu seinem Werk Das Elend der Welt deutlich. Hier bemerkt er
„´Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen´: Diese Anweisung Spinozas sich zu eigen zu machen wäre für den Soziologen nutzlos, könnte er nicht auch die Mittel an die Hand geben, um sie zu befolgen. Wie aber lassen sich die Mittel des Verstehens, die es ermöglichen, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, anders weitergeben als dadurch, dass er die Instrumente anbietet, die notwendig sind, um sie als notwendig zu erfassen, um sie notwendig zu machen, indem er sie methodisch auf die Ursachen und Gründe zurückführt, derentwegen sie sind, was sie sind?“ (Bourdieu 1997: 13)
Bourdieu plädierte immer wieder dafür, dass die Soziologie sich den Blick für das Alltägliche bewahren muss und die gegenwärtigen Probleme der Gesellschaft für sie von hoher Wichtigkeit sein sollten.
„ ´Das öffentliche Leben in Paris funktioniert ja nur nach dem Kriterium ,chic oder nicht chic´, sagte er zornig gegen die traditionellen Pariser Eliten und meinte jene "liberalen Denker", die "mit flotten Sprüchen über die soziale Misere in unseren Gesellschaften" hinweggingen.“ (van Thadden 2002)
Gleichzeitig wusste er um die Beeinflussung der Arbeit durch die Alltagserfahrungen des Forschers. Er selber hat aus diesem Grund immer wieder den Bezug zur Philosophie gesucht, um so eine „reflexive Distanz zu seiner Disziplin“ zu gewinnen (vgl. Krais 2002: 14). Daraus resultierend hat er unter dem Aspekt der Beobachtung des Alltäglichen ein Klassenmodell entwickelt, welches zum einen die Arbeit anderer Soziologen und damit bereits bestehende Modelle einbezieht, zum anderen aber durch die Integration von Lebensstilen eine bedeutende Erweiterung findet (vgl. Burzan 2004: 138). Bei dem von Bourdieu aufgestellten Klassenmodell werden die sozialen Positionen der Menschen der Strukturebene zugeordnet und mit der Praxisebene, also den Lebensstilen verbunden. Erst durch diese Verknüpfung wird der soziale Raum vollständig sichtbar. Bindeglied zwischen den sozialen Positionen und Lebensstilen ist der Habitus (vgl. Burzan 2004: 138f). Eine weiterer zentraler Rolle in Bourdieus Klassenmodell spielen die Kapitalsorten.
Während der Recherche zu Bourdieus Schriften entwickelte sich ein besonderes Interesse für die Frage, inwieweit der Habitus und die Kapitalformen sich auf den Stand eines Individuums in unserer Gesellschaft und auf eine mögliche soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland auswirken können. Dazu soll unter Kapitel 1 zunächst eine kurze Definition des Begriffes ´soziale Ungleichheit´ erfolgen.
Kapitel 2 beschäftigt sich mit den Hauptaspekten des Habitus-Konzeptes und denen der verschiedenen Kapitalsorten. Im Anschluss daran soll in Kapitel 3 untersucht werden, ob und inwieweit sich Bourdieus Erkenntnisse auch auf die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland beziehen lassen.
1. Soziale Ungleichheit – eine kurze Definition
Um einordnen zu können, wie der Habitus und der Besitz verschiedener Kapitalsorten sich auf eine mögliche soziale Ungleichheit auswirken, muss zunächst geklärt werden, was dieser Begriff beinhaltet. Soziale Ungleichheit resultiert auf der einen Seite aus dem Besitz oder Nichtbesitz von Gütern, denen von der Gesellschaft ein bestimmter Wert zugesprochen wird. Je mehr wertvolle Güter das Individuum besitzt, desto besser sind seine Lebensbedingungen und seine Position in der Gesellschaft. Ebenso wie die Gesellschaft an sich, unterliegen auch diese zugesprochenen Werteinschätzungen der Güter einem stetigen Wandel. Auf der anderen Seite ist der Begriff der sozialen Ungleichheit zwangsläufig von der Sicht der Gesellschaft abhängig. Durch deren Definition wird festgelegt, wie die wertvollen Güter verteilt sein müssen, damit ein Zustand als sozial ungleich zu bewerten ist. Außerdem ist in diesem Zusammenhang aus soziologischer Sicht auf die Zeitkomponente hinzuweisen. Demnach liegt soziale Ungleichheit nur dann vor, wenn die ungleiche Verteilung von wertvollen Gütern dauerhaft besteht und es sich um eine absolute Ungleichheit handelt. Diese liegt vor, wenn ein Gesellschaftsmitglied von der Menge der wertvollen Güter[2] mehr als ein anderes erhält. Im Gegensatz dazu steht die relative Ungleichheit, die sich zum Beispiel auf die Relation „zu hoher Verdienst für zu wenig Leistung“ bezieht (vgl. Hradil 2001: 27f).
2. Bourdieu - Habitus und Kapitalformen
2.1 Das Konzept des Habitus
2.1.1 Der Ursprung der Habitustheorie
Um das Habitus-Konzept verständlich darzustellen, ist ein Blick auf die Hintergründe dessen Entwicklung sinnvoll.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff ´Habitus´ nicht erstmalig bei Bourdieu auftritt, sondern schon von einigen anderen Philosophen und Soziologen verwendet wurde. So zum Beispiel bei Emile Durkheim, Max Weber, Marcel Mauss und Norbert Elias (vgl. Krais 2002: 5).
Spezifisch für Bourdieu ist aber, dass er den Habitus als „Dispositionssystem sozialer Akteure“ sieht und die Habitus-Theorie somit ein „Instrumentarium [ist], das auf theoretischer Ebene zwischen Objektivismus und Subjektivismus vermitteln und deren komplementären Einseitigkeiten verhindern soll.“ (Schwingel 2003: 59)
Wie genau dieses Dispositionssystem funktioniert, soll zu einem späteren Zeitpunkt erläutert werden.[3]
Die Erkenntnisse über den menschlichen Habitus gewann Bourdieu während eines Aufenthaltes als Wehrpflichtiger in Algerien Mitte bis Ende der 50-er Jahre aus der Beobachtung der dort herrschenden gesellschaftlichen Strukturen. Das Land war zu dieser Zeit von dem Kampf der Befreier gegen die französischen Kolonialherren gezeichnet.
„Mit der französischen Kolonisation erlebt Algerien, bis dahin geprägt durch seine vorkapitalistische Wirtschaftsweise und –ethik, eine dramatische Umgestaltung: brutale Durchsetzung zutiefst fremder ökonomischer Prinzipien, rapider Verfall der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise, Entstehung eines neuen Subproletariats, ökonomische Präkarisierung und gesellschaftliche Entwurzelung als Los breiter Bevölkerungsschichten.“ (Schultheis 2004: 17)
Mittelpunkt seines Forschungsinteresses war die Welt der kabylistischen[4] Bauern. Diese war geprägt durch „den bäuerlichen Ethos der Ehre“ (Krais 2002: 19) auf der einen Seite und der „durch die Kolonialisierung aufgezwungene Welt der modernen Ökonomie“ (Krais 2002: 18) auf der anderen Seite. Diese Welt stellte sich Bourdieu aus ethnologischer Sicht als „Laborsituation [dar], in der alle Gegensätze, Brüche und Paradoxien wie unter einem Vergrößerungsglas hervorgehoben waren“ (Schultheis 2004: 22). Die Verhaltensweisen der kabylistischen Bauern unter den oben genannten äußeren Umständen zeigten Bourdieu, dass das ihm bekannte ökonomisch-rationale Handeln in einer zwangsläufigen Abhängigkeit zu den sozialen Strukturen der Akteure steht und keinesfalls als originär gegeben einzustufen war. Die wirtschaftliche Welt der Kabylen war an Mythen und Ritualen gebunden und innerhalb dieser Kreise waren sie durchaus in der Lage, wirtschaftlich zu agieren. Da Geld ihnen als Zahlungsmittel aber völlig unbekannt war, war es ihnen nicht möglich, sich den modernen ökonomischen Prinzipien anzugleichen. Bourdieu erkannte, dass diese Unmöglichkeit in der Trägheit des Habitus begründet war. Der Habitus der Kabylen konnte sich den neuen Gegebenheiten nicht anpassen (Vgl. Krais 2002: 19f). Das nachfolgende Bild[5] verdeutlicht diese Diskrepanz:
[...]
[1] Bourdieu verstarb im Januar 2002 (vgl. Steinrücke 2004: 7)
[2] z. B. Geld, Bildungsabschlüsse, gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen (Hradil 2001: 28)
[3] s. Punkt
[4] Berberstamm in Nordalgerien
[5] Da Bourdieu der Meinung war, dass "die Fotografie eine Manifestation der Distanz des Beobachters [ist], der seine Daten erfasst und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten erfasst, aber zugleich setzt die Fotografie auch die Nähe des Vertrauten, des Aufmerksamen und eine Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus, Details, die der Beobachter nur durch seine Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag, eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Handlung, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht.“
Hielt er seine Beobachtungen und Erkenntnisse nicht nur in Schriften, sondern auch in Fotografien fest.
- Quote paper
- M.A. Manuela Feldkamp (Author), 2005, Pierre Bourdieu - Soziale Ungleicheit in der BRD unter dem Einfluss von Habitus und Kapitalverteilung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45727
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