In nahezu allen Erzählungen und Romanen Robert Musils spielt der "andere Zustand" eine bedeutende Rolle. Worum es sich bei diesem "anderen Zustand" handelt und welche Bedeutung er für das Individuum hat, lässt sich besonders prägnant anhand Musils Erzählung "Die Amsel" beleuchten.
Inhalt:
1. Zielbestimmung
2. 'Realzustand' und 'anderer Zustand'
2.1 Die konträren Zustände
2.2 Der 'Realzustand' bei R. Musil
2.3 Musils Vorstellung vom 'anderen Zustand'
3. Die Amsel als Schlüssel zum 'anderen Zustand'
3.1 Die Amsel als Nachtigall und Fliegerpfeil
3.1.1 Die Nachtigall-Amsel
3.1.2 Die Fliegerpfeil-Amsel
3.2 Die Amsel als Mutter
4. Schlussbemerkung
5. Literaturverzeichnis
1. Zielbestimmung:
Ausgehend von R. Musils Erzählung 'Die Amsel' versucht die vorliegende Arbeit, sich dem Kernproblem des 'anderen Zustandes' bei R. Musil zu nähern. Sie wird mit einer Gegenüberstellung von 'anderem Zustand' und dem Zustand, von dem er sich abhebt und dem er entgegengesetzt ist, eingeleitet.
Reflexionsobjekt bezüglich der verschiedenen Zustände ist der Protagonist der Erzählung, Azwei. Der ihm gegenübergestellte Gesprächspartner Aeins spielt eine untergeordnete Rolle, denn die "Unterredung" der beiden Hauptfiguren der 'Amsel' kann "fast wie ein Selbstgespräch erzählt werden".[1]
Die mathematische Benennung der beiden Rahmenfiguren (als zwei Ausformungen einer Variablen A) läßt ohnedies den Schluß zu, daß es sich bei ihnen nur um verschiedene Facetten der gleichen Persönlichkeit handelt.
Anhand einer Analyse der drei Episoden, die Azwei in der 'Amsel' erzählt, soll ein Zusammenhang zwischen 'Amsel' und 'anderem Zustand' hergestellt werden, der auch die Funktion beleuchten soll, die die Amsel bezüglich des 'anderen Zustandes' hat.
2. 'Realzustand' und 'anderer Zustand' bei R. Musil:
2.1 Die konträren Zustände:
Eine Kernfrage in der Wirklichkeitsvorstellung von Robert Musil - nicht nur in seiner Erzählung 'Die Amsel' - bildet das Modell von den verschiedenen Zuständen. Nach dieser Vorstellung lassen sich allgemein zwei verschiedene 'Bewußtseinszustände' unterscheiden, in denen das Individuum sich befinden kann:
1. Der Zustand, der dem Individuum in seinem gewöhnlichen Alltag von der Gesellschaft vorgeschrieben wird, in den es gewissermaßen 'hineinwächst'. Dieser Zustand soll in der Folge als 'Realzustand' bezeichnet werden, da er ein rational faßbarer, objektiv erkennbarer und real vorhandener Zustand ist.
2. Der 'andere Zustand', der sich allein im subjektiven Bewußtsein des Individuums verwirklicht und damit nicht im eigentlichen Sinne 'real' ist. Er läßt sich nicht in den gewöhnlichen Alltag, also den 'Realzustand', übertragen.
Robert Musil versteht den 'anderen Zustand' mithin als den Gegenzustand zum 'Realzustand', als einen Zustand "zum Gebiet der Mystik und nicht dem der Ratio"[2]. Im 'Realzustand' manifestieren sich die Sachzwänge und Lebensvorschriften der Gesellschaft, die das Individuum einschränken und beengen, seine Individualität aushöhlen. Einen Ausweg aus dieser Einlinigkeit der vorgegebenen realen Umstände sieht Musil darin, daß sich das Individuum in den 'anderen Zustand', einen Zustand des Nichtgebundenseins und der individuellen Freiheit, zurückzieht, der allerdings rein subjektiv ist und sich auf das Bewußtsein des Menschen beschränkt.
Ausgehend von R. Musils Erzählung 'Die Amsel' werden die beiden konträren Zustände, die Grundlagen für den 'anderen Zustand' und dessen konkrete Ausformung in der Folge darzustellen sein.
2.2 Der 'Realzustand' bei R. Musil:
Der Realzustand bedeutet bei R. Musil fast ausschließlich jenen Zustand, in dem der Mensch sich in seinem gewöhnlichen Alltag befindet. Dieser Zustand wird häufig charakterisiert durch eine
"absolute Unpersönlichkeit und Unfreiheit sowie das Fehlen von jeglichem menschlichen Gehalt in den Dingen".[3]
Diese Unfreiheit und Unpersönlichkeit wird durch die vollständige Einlinigkeit des alltäglichen Lebens bestimmt; es gibt keine individuellen Freiräume im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur noch vorbestimmte und durch die Gesellschaft determinierte Handlungsabläufe, die sich in von der Gesellschaft vorgeformten Handlungsräumen abspielen. Am deutlichsten zeigt sich diese Vorstellung von der Vorgeformtheit, Einlinigkeit und Determiniertheit des Alltagsdaseins in der Beschreibung der serienmäßig gebauten Wohnung, in der sich Azwei unmittelbar vor dem ersten Kontakt mit der Amsel aufhält:
"Da hinaus und hinab sehen nun die Küchen und Schlafzimmer; nahe beieinander liegen sie, wie Liebe und Verdauung am menschlichen Körper. Etagenweise sind die Ehebetten übereinander geschichtet; denn alle Schlafzimmer haben im Haus die gleiche Lage, und Fensterwand, Badezimmerwand, Schrankwand bestimmen den Platz des Bettes fast auf den halben Meter genau. Ebenso etagenweise türmen sich die Speisezimmer übereinander, das Bad mit den weißen Kacheln und der Balkon mit dem roten Lampenschirm. Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung, unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte liegen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen in einem Automatenbüffet. Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstandswohnungen schon vorgerichtet, wenn man einzieht."[4]
In dieser Beschreibung wird der Zustand der von der Gesellschaft bestimmten realen Welt faßbar gemacht. Der Mensch wird in vorgeformte Zwänge gepreßt, die kaum Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse nehmen - die Vermassung des Einzelnen spiegelt sich in dem von der Gesellschaft geformten Lebensraum wider. Der Mensch wird gewissermaßen 'entindividualisiert', sein "persönliches Schicksal ist [...] schon vorgerichtet", was in der Konsequenz heißt, daß er kein 'eigenes' persönliches Schicksal mehr hat, keine individuelle Freiheit, das eigene Leben zu bestimmen, sondern vielmehr Teil der Masse wird, die durch die institutionellen Umstände konstituiert ist.
Der Weg, der nach R. Musil in diesen 'Realzustand' führt, ist das schrittweise Eintreten in die Gesellschaft, das 'Sich-Beugen' vor den institutionellen Zuständen, das ganz zwangsläufig die Folge eines an die Gesellschaft angepaßten Lebens ist. 'Realzustand' heißt bei ihm,
"aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, feste Wesensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll."[5]
Der 'Realzustand' ist also nach R. Musil mit den gewöhnlichen Sachzwängen verbunden, in die eine bürgerliche Gesellschaft den Menschen drängt, wenn sie ihn 'sozialisiert'. Je weiter man sich in soziale Abhängigkeiten begibt, je mehr Zugeständnisse man an die bürgerliche Ordnung macht (Charakter, Beruf, etc.), desto mehr wird man von den Zwängen eingesponnen, die zur Entindividualisierung im 'Realzustand' führen und das Leben bis zum letzten Augenblick determinieren.
Auch Azwei in der 'Amsel' tritt durch die allmähliche Konstituierung eines bürgerlichen Lebens in diesen 'Realzustand' ein. Bereits in der Studienzeit, einer Phase der Berufswahl, schwärmt er
"für eine materialistische Lebenserklärung, die ohne Seele und Gott den Menschen als physiologische oder wirtschaftliche Maschine ansieht".[6]
Er entscheidet sich damit bewußt für die mit dem 'Realzustand' einhergehende 'Entmenschlichung', alles Mystische wird zugunsten des rein Materialistischen verdrängt, der Mensch wird zum seelenlosen Objekt, dessen Gefühle in Anbetracht seiner eigentlichen Struktur als 'Maschine' keine Bedeutung haben.
2.3 R. Musils Vorstellung vom 'anderen Zustand':
Die Strukturen des 'Realzustand' sind im Alltag durch die Gesellschaft so fest verankert, daß eine bewußte Absage an die mit ihm verbundenen Zwänge, eine Wiedergewinnung der Individualität und eine Rückkehr zu dem Wunsch des Individuums nach menschengerechten Lebensumständen im realen Alltag kaum möglich ist. Dem gegenüber steht aber das Bedürfnis des Einzelnen nach einer Verwirklichung der
"Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit, nach einem Leben, das sich von demjenigen unterscheidet, in das das Individuum aufgrund institutioneller Umstände hineingeworfen wird".[7]
Diese bietet nach R. Musil der 'andere Zustand'. Beim 'anderen Zustand' handelt es sich nicht um eine Veränderung der Alltagsstruktur der Gesellschaft, sondern um eine rein subjektive Erfahrung im Bewußtsein des Einzelnen, die sich in verschiedenen Formen äußern kann. Seine Erfahrungen bedeuten
"die Reaktion - die Umstülpung - eines menschlichen Bewußtwerdens [...]. Diese Umstülpung führt zur Vision einer anderen Lebensmöglichkeit, einer Einbindung in bisher unbekannte Beziehungen. Das derart erschütterte Individuum ist dazu verurteilt, gemäß dem Absolutheitsanspruch seiner Persönlichkeit zu leben."[8]
Besonders in der 'Amsel' beschreibt Musil diesen 'anderen Zustand' als ein völliges Heraustreten aus der gesellschaftlichen Anbindung. Diese beinhaltet etwa eine Rückkehr zum Bewußtsein der eigenen Individualität, die aber auch mit der völligen Verschmelzung von Ich und Welt einhergehen kann, ein Eintauchen in ein zur Außenwelt vollkommen beziehungsloses Ich, das auch die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen des 'Realzustands' bedeutet.[9]
Im MoE bringt R. Musil die Gegensätzlichkeit von 'Realzustand' und 'anderem Zustand' auf den Punkt, indem er ausdrückt, daß
"der Mensch in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe. [...] Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge."[10]
Von besonderer Bedeutung ist hier das Wort 'selbstlos'; es charakterisiert nämlich den Ich-Bezug eines Individuums, das sich im 'anderen Zustand' befindet. Im 'Realzustand' ist das Individuum "selbstsüchtig", also durchaus bezogen auf sein eigenes Ich, aber "gleichsam hinaus geprägt", d.h. auf die Zwänge der umgebenden gesellschaftlichen Umstände fixiert und von ihnen determiniert. Im 'anderen Zustand' befindet sich die Persönlichkeit dagegen in einem Zustand völliger Befreiung von allen Zwängen und Vorschriften, es fühlt 'nach innen', in seinem eigenen Bewußtsein, das eine völlige Trennung von jeglicher Art faßbarer Struktur in Persönlichkeit und Denken vollzieht und gewissermaßen 'aufweicht'. Wenn alle diese Strukturen aufgelöst sind und miteinander verschwimmen, herrscht eine vollkommene Bezugs- und Zwanglosigkeit, die allein eine Ablösung vom 'Realzustand' ermöglicht - die Ich-Bezogenheit verschwimmt also zugleich mit den Ich-Strukturen und weicht einem Gefühl der Befreiung von allen Anbindungen an die Welt, die das Individuum in irgendeiner Weise determinieren oder durch Sachzwänge beengen.
[...]
[1] Musil 1957, S. 522.
[2] Hoppler 1984, S. 190.
[3] Roth 1984, S. 180.
[4] Musil 1957, S. 523.
[5] Musil 1978, S. 250.
[6] Musil 1957, S. 522.
[7] Roth 1984, S. 180 f.
[8] Roth 1984, S. 181.
[9] Vgl. Musil 1957, S. 525.
[10] Musil 1978, S. 687.
- Arbeit zitieren
- Jörg Erdmann (Autor:in), 1992, Robert Musils "Die Amsel": Die Amsel als Schlüssel zum anderen Zustand, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45666
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