Dirk von Petersdorff thematisiert in seinem Aufsatz „Ich soll nicht zu mir selbst kommen“. Werther, Goethe und die Formung moderner Subjektivität, der im Goethe-Jahrbuch 2006 erschienen ist, die gesellschaftlichen Veränderungen des 18. Jahrhunderts und führt diese mit dem Beispiel des Werthers und mit der Biographie des Autors Johann Wolfgang Goethes eng. Konkret benennt er dabei das 18. Jahrhundert als Beginn der Moderne, greift damit also auf den weit gefassten Moderne-Begriff zurück.
1. Einleitung
Dirk von Petersdorff thematisiert in seinem Aufsatz „ Ich soll nicht zu mir selbst kommen “ . Werther, Goethe und die Formung moderner Subjektivit ä t, der im Goethe-Jahrbuch 2006 erschienen ist, die gesellschaftlichen Veränderungen des 18. Jahrhunderts und führt diese mit dem Beispiel des Werthers und mit der Biographie des Autors Johann Wolfgang Goethes eng. Konkret benennt er dabei das 18. Jahrhundert als Beginn der Moderne, greift damit also auf den weit gefassten Moderne-Begriff zurück und erläutert die Moderne als historische Phase, in der sich „Selbst- und Weltbilder vervielfältigen“1 und damit einhergehend der Zugang zu einer allgemeinen Ordnung für den Menschen erschwert wird. Zu Begründen ist dieser Umbruch mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Teilbereiche mit jeweils eigenen Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Das Individuum partizipiert dabei in mehreren dieser Teilbereiche, muss dafür die jeweiligen Handlungs- und Kommunikationsnormen kennen und anwenden, und „pluralisiert sich [dadurch] im Inneren“.2 Für das Individuum ergeben sich aus dieser Pluralisierung Probleme der Identitätsfindung und der Selbstbestimmung, wie sie auch an der literarischen Figur Werthers zu beobachten sind. 'Die Leiden des jungen Werthers' - so von Petersdorff - ergeben sich gerade aus diesem Reflexions- und Ausgleichsbedürfnis des modernen Subjekts, aus dem Bedürfnis Werthers zu sich selbst zu kommen. Denn trotz - oder gerade aufgrund - der Pluralisierung des Ichs, ist das Individuum weiterhin bestrebt, eine Ich-Identität zu erstellen, das heisst „Einheit und Kontinuität im zeitlichen und räumlichen Wandel zu gewinnen“.3 Diese aber kann - und das ist für Dirk von Petersdorff grundlegend - nur über die Umwelt und nicht aus dem Inneren des Individuums heraus gebildet werden, vielmehr entwickelt sich die Identität „in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, in ihrer Beschreibung und Deutung, in Handlungsformen und Praktiken.“4 Werther schließlich ersucht seine Identitätsbestimmung über die drei Systeme Natur (I), Liebe (II) und Gesellschaft (III).
Goethes Werther - so von Petersdorff - kann als Identitätsexperiment gelesen und verstanden werden, denn „[Werther] lebt ohne eine große Erzählung, in die er sein Ich einbetten könnte“5 und ist damit als literarischer Parallelismus zu den Entwicklungen der Zeit, das heisst der Moderne zu erläutern. Insbesondere in der, im Aufsatz betrachteten ersten Fassung des Werthers wird diese Identitätsproblematik deutlich.6 Des Weiteren stellt Dirk von Petersdorff die These auf, der Werther müsse auch in biographischen Bezug zu seinem Autor Goethe gesetzt werden, denn dieser habe den Werther bewusst als Identitätsexperiment angelegt und daraus auch Rückschlüsse auf die Gestaltung seiner eigenen Persönlichkeit gezogen.
Dirk von Petersdorff nutzt zur Untersuchung seiner Fragestellung die Methode der systemtheoretischen Literaturwissenschaft, bettet seine Thesen innerhalb dessen aber auch in einen kulturwissenschaftlichen bzw. anthropologischen Horizont ein. Die systemtheoretische Literaturwissenschaft als Theorieimport aus der Soziologie dient als Beschreibungsmodell für zusammenhängende und sich selbst organisierende Strukturen/ Systeme, die sich zu einer Umwelt in Beziehungen setzen. Ziel ist es, Komplexität zu reduzieren und dabei dennoch das Ganze betrachten zu können, um so auch komplexere Fragestellungen bearbeiten zu können. Die systemtheoretische Literaturwissenschaft gewährleistet damit eine Abkehr von der deduktiven Bestimmung und analytischen Isolierung von Einzelphänomenen und ist somit insbesondere den kontextorientierten, aber auch den textimmanenten Literaturtheorien zuzuordnen.
Begrifflichkeiten und Ansätze werden - insbesondere aus der Theorie Talcott Parsons und Niklas Luhmanns - übernommen, und Literatur wird folglich als soziales System verstanden. Innerhalb der systemtheoretischen Literaturwissenschaft haben sich weiterhin verschiedene Strömungen herausgebildet, die durch verschiedenen Ausgangsinteressen unterschiedliche Theoriebausteine der Systemtheorie aufgreifen, dabei aber immer die gemeinsame grundlegende Ansicht vertreten, dass der moderne Literaturbetrieb als ausdifferenziertes Sozialsystem mit spezifischer Funktion und stabiler Leitdifferenz zu beschreiben ist. Auf dieser Grundlage lassen sich (in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft) zwei grundlegende Strömungen der systemtheoretischen Literaturwissenschaft bestimmen, die entweder Handlungen (Empirische Theorie der Literatur nach Siegfried J. Schmidt) oder Kommunikation als Systemelemente zentral stellen.7
Zentraler Begriff der Systemtheorie aber ist der des Systems, der hier kurz definiert werden soll: Seit der Antike bezeichnet der Begriff des Systems die Beziehung zwischen Teilen und einem übergeordneten Ganzen.8 Der Begriff findet sich - sowohl als Idee des natürlichen als auch als Idee des konstruierten Systems - in allen Bereichen der Gesellschaft, ist insbesondere aber seit Beginn der Neuzeit verstärkt wissenschaftstheoretisch verankert. In der Systemtheorie wird er als dynamischer Zusammenhang zwischen seinen Elementen und ihrer Relation definiert. Der Begriff des Systems steht dabei immer im Zusammenhang mit seiner Umwelt, beziehungsweise definiert sich in Differenz zum Begriff der Umwelt. Damit einher gehen Konzepte der Selbstreferenz, der Selbstorganisation und der Autopoiesis, die hier nur der Übersicht halber erwähnt werden sollen. Die spezifische Funktion, die das Sozialsystem Literatur definiert, wird von Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft als der "Nachweis von Ordnungszwängen im Bereich des nur Möglichen"9 beschrieben, während Schmidt - und später auch Plumpe und Niels Werber - die Überwindung der funktionalen Ausdifferenzierung und die damit einhergehend Probleme für das Subjekt und die bürgerliche Gesellschaft als spezifische Funktion definieren.10
Da die Ausführungen zu System und Systemtheorie als auch die Anwendung im Aufsatz nicht sehr ausführlich beziehungsweise tiefgreifend sind, können hier kaum Schlussfolgerungen auf die Begrifflichkeiten von System und Systemtheorie durch von Petersdorff gezogen werden. Auch ist nicht erkennbar, welche Richtung der Systemtheorie er verfolgt. So muss man - auch wenn sich eine Neigung zur Empirischen Theorie der Literatur (ETL) erkennen lässt11 - vielmehr von den allgemeinen, die Strömungen übergreifenden Begrifflichkeiten und Ansätzen der Systemtheorie ausgehen.
Die folgende Arbeit will den Beitrag von Dirk von Petersdorff zur Identitätsthematik im Werther analysieren, dabei im ersten Schritt den Aufsatz rekonstruieren und die elementaren Thesen herausarbeiten und darstellen. Dem soll eine Kritik angeschlossen werden, um abschließend im Resümee den Aufsatz Dirk von Petersdorffs einzuordnen zu können.
2. Dirk von Petersdorff: „ Ich soll nicht zu mir selbst kommen “
Die Hauptthese des Beitrags ist, dass die Leiden des jungen Werther eine Folge der problematischen Auseinandersetzung mit der Identitätsfindung und -festigung sind, die sich aus der Pluralisierung des Ichs ergeben, welche wiederum aus dem gesellschaftlichen Wandel des 18. Jahrhunderts resultiert. Weiter führt von Petersdorff die These an, dass Werther als literarisches Identitätsexperiment Goethes versucht sich über seine Umwelt - repräsentiert durch die drei Systeme Natur, Liebe und Gesellschaft - eine Identität zu bilden und damit sein pluralisiertes Ich zur Einheit zu führen. Die Versuche aber scheitern, so dass Goethe - so unterstellt von von Petersdorff - aus seinem Identitätsexperiment Werther Schlussfolgerungen für seine eigene Identitätsbestimmung zieht und diese abändert und anpasst, so zum Beispiel das Liebeskonzept der absoluten Liebe verwirft und stattdessen mehrere Konzepte nebeneinander gelten lässt. Im Folgenden sollen die Thesen von Dirk von Petersdorff anhand der drei Systeme der Identitätsbildung - Natur (I), Liebe (II) und Gesellschaft (III) - vorgestellt werden. Diese werden dabei nach drei Blickpunkten erläutert: die Idee Werthers zur Identitätsbestimmung im jeweiligen System, folgend die Ursache seines Scheiterns und abschließend die korrigierte Identitätsbestimmung Goethes.
2.1.1. Natur
Das System der Natur kann für Werther Gott und Metaphysik ersetzten, also als Ersatz der höheren Ordnung fungieren,12 in der sich „eine Analogie von Mensch und Umwelt“13 entfalten kann und der Mensch sich als Teil der Natur, das heißt als Teil des Ganzen erfahren kann. So sieht sich Werther bei seinen Aufenthaltes in Wahlheim bewusst als Gegensatz zum modernen Menschen, der durch seine Eingebundenheit in die gesellschaftliche Teilung kaum noch eine Möglichkeit zu dieser ganzheitlichen Erfahrung hat, wie sie Werther macht. Das System der Natur ist für Werther prinzipiell zur Selbstdeutung geeignet.
Das voranginge Problem Werthers, das zum Scheitern einer dauerhaften Identitätsbildung im System Natur führt ist seine Subjektivierung der Natur. „Da sie das Individuum integrieren und sichern, ein ihm Äußeres sein soll, wirken subjektive Anteile an ihrer Beschreibung und Deutung kontraproduktiv.“, denn „[w]as zunächst für die besondere Enge der Beziehung zwischen Ich und Außenwelt spricht, unterläuft gerade die Funktion der Stabilisierung.“14 Die Natur erscheint somit nicht länger als Ordnung oder als für sich bestehendes System, sondern in der individuellen Betrachtung Werthers vielmehr als Stimmung. Es kommt ferner auch zu unterschiedlichen Wahrnehmungen, beziehungsweise Bewertungen der Natur durch Werther. Die Naturerfahrung kann sich für Werther aus diesem Grund nicht als stabil erweisen und folglich keine Möglichkeit zur Identitätsbestimmung bieten.
Goethes Bezug zum System Natur gestaltet sich dagegen über die Objektivierung der Natur. Die Objektivität benötigt eine empirische Basis, die bei Goethe in der Rezeption naturwissenschaftlicher Schriften und Naturstudien zu finden ist. Durch sie kann sich das Bild der Natur festigen und die Natur kann sich vom Subjekt lösen und diesem als Externum Sicherheit geben. So versteht Goethe das Gewalt- und Zerstörungspotential der Natur, das Werther als
[...]
1 Dirk von Petersdorff: "Ich soll nicht zu mir selbst kommen". Werther, Goethe und die Formung moderner Subjektivität. In: Goethe-Jahrbuch 2006, S. 67.
2 Ebd.
3 Ebd., S. 68.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 67.
6 Vgl. ebd.
7 Das handlungstheoretische Modell der Empirischen Theorie der Literatur (ETL) konzipiert das Literatursystem als "Gesamtmenge von beobachtbaren Kommunikationshandlungen, die sich auf konkrete Individuen in vier sozialen Rollen, nämlich Literaturproduzent [...], Literaturvermittler [...], Literaturrezipient [...] und Literaturverarbeiter [...], beziehen lassen." Währenddessen übernehmen Ansätze, die sich auf die Kommunikation beziehen, die Theorie Luhmanns von der Emanzipation der Kommunikation von Handlung und definieren das Literatursystem als "dynamischen Zusammenhang sich autopoietisch reproduzierender Kommunikation". Nach: Christoph Reinfandt: Systemtheorie. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorien, hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart u.a. 20084, S. 702.
8 Ebd., S. 701.
9 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 238.
10 Plumpe und Niels Werber sehen die Funktion der Literatur in der ausdifferenzierten Gesellschaft dann insbesondere auch in ihrem Unterhaltungswert, der die entstandene Freizeit füllen muss.
11 Diese Neigung wird ausschließlich durch die Wahl des Themas deutlich, denn die ETL vertritt verstärkt die Annahme von der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft beim Übergang in die Neuzeit und der damit verbundenen Ausbildung von funktional differenzierten sozialen Systemen wie Wirtschaft, Recht u.Ä. - wobei jedoch auch diese These aus der Theorie Niklas Luhmanns stammt und damit als allgemeine Annahme der Systemtheorie gelten muss.
12 Dass Werther die Natur zur höheren Ordnung erhebt, zeigt sich im Brief vom 10. Mai, in dem er die Liebe zu den Menschen („Wehen des Alliebenden“) und die außer zeitliche Position („ewiger Wonne“) - Eigenschaften, die als göttliche Attribute gelten - der Natur zuschreibt.
13 Dirk von Petersdorff, S. 69.
14 Ebd., S. 70.
- Quote paper
- Tina Grahl (Author), 2010, Eine Analyse des Aufsatzes "Ich soll nicht zu mir selbst kommen". "Werther, Goethe und die Formung moderner Subjektivität" von Dirk von Petersdorff, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/455583
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