Ein kranker, schwerstkranker oder sterbender Mensch bringt ebenso sehr wie ein gesunder Mensch bleibende Werte in die Gesellschaft ein. Dennoch wird dieser Beitrag meistens nicht oder nur sehr eingeschränkt wahrgenommen.
Dieses Buch zeigt deshalb die tatsächliche Rolle eines kranken Menschen in der Gesellschaft auf. Dabei betrachtet es zunächst die unterschiedlichen Einstellungen kranker Menschen in ihrer Krankheit und wie das unmittelbare Umfeld auf sie reagiert. So kommt der Autor zu einem praktischen Kommunikationsmodell für Pflegekräfte.
Der kranke und sterbende Mensch ist und kann, in der Familie und im Gesundheitswesen selbst, ein Schöpfer neuer personalen Interaktionen (Dialogprozesse) sein. In diesem Zusammenhang sind dem Autor zwei Faktoren von besonderer Wichtigkeit: die Rolle der Familie und ihre Einstellung zu kranken Menschen.
Es ist ein wichtiges Ziel pflegerischen Tuns, Andere wahrzunehmen, zu beobachten und zu beurteilen. Häufig hilft einer Pflegekraft die Mimik eines Patienten bei dieser Beurteilung. Der Gesichtsausdruck eines Patienten kann beispielsweise die Intensität von Schmerzen anzeigen (die manchmal von dem abweicht, was er sagt), und seine Gesten können die Art seiner inneren körperlichen Empfindungen veranschaulichen.
Im pflegerischen Bereich könnte es sein, dass sich die Genauigkeit der pflegerischen Beobachtung verbessern würde, wenn man der nonverbalen Kommunikation mehr Beachtung schenken würde. Die engere Einbeziehung der nonverbalen Kommunikation in den Pflegealltag wird die Gestaltung der Pflegebeziehung und des Dialogprozesses noch ein wenig besser und effektiver machen. Das Verständnis für die Art und Weise, in welcher der individuelle Pflegebedürftige kommuniziert, veranlasst eine intensivpflegerische Betreuung, die nicht nur medizinisch notwendige Maßnahmen ausführt, sondern den Patienten in seiner individuellen Bedarfssituation umfassender berücksichtigt und damit seiner Würde gerecht wird.
Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung
Teil I: Mensch - Krankheit
1.1. Homo creator - schöpferischer Mensch in der Krankheit
1.2. Die Allgemeinheit der Krankheit
1.3. Die Dramaturgie des Krankheitsprozesses
1.4. Die Haltungen in der Krankheit
1.4.1. Die positiven (schöpferischen) Haltungen
1.4.1.1. Der Geber
1.4.1.2. Der Samariter
1.4.1.3. Der Helfer
1.4.1.4. Der Verschwörer
1.4.1.5. Der Suchende
1.4.1.6. Der Soldat
1.4.1.7. Der Künstler
1.4.1.8. Der Held
1.4.2. Die negativen (egoistischen) Haltungen
1.4.2.1. Der Nehmer
1.4.2.2. Der Hypochonder
1.4.2.3. Der Nörgler
1.4.2.4. Der Rühmliche
1.4.2.5. Der Statist
1.4.2.6. Der Bettler
1.4.2.7. Der Profi
1.4.2.8. Der Scheinheilige
1.5. Der kranke Mensch als Wertekreator im Gesundheitswesen
1.6. Der kranke Mensch als Wertekreator neuer Beziehungen
1.7. Der kranke Mensch als Wertekreator in der Familie
1.7.1. Die Einstellungen zu kranken Menschen innerhalb der Familie
1.7.1.1. Die Hilfe
1.7.1.2. Das Fehlen an gleichbleibendem Interesse
1.7.1.3. Die Müdigkeit durch einen langen Krankheitsprozess
1.7.1.4. Die Gleichgültigkeit
1.7.1.5. Die Ablehnung
1.7.1.6. Die Gewinnabschöpfung aus der Krankheit eines Familienmitgliedes
Teil II: Nonverbale Kommunikation in der außerklinischen Intensivpflege und Beatmung
2.1. Außerklinische Intensivpflege als Beziehung
2.2. Kommunikation und ihr Stellenwert in Modellen und Theorien der Pflege
2.3. Annäherung an die nonverbale Kommunikation
2.4. Aspekte nonverbaler Kommunikation in ihrer Pflegerelevanz
2.4.A. Besondere Pflegesituationen
2.4.A.1. Emotionen
2.4.A.2. Depressionen
2.4.A.3. Sterbebegleitung
2.4.B. Einflussfaktoren bei Dekodierung nonverbaler Signale
2.4.B.1. Persönlichkeitsunterschiede
2.4.B.2. Geschlechtliche Unterschiede
2.4.B.3. Kulturelle Unterschiede
2.4.1. Nonverbal-vokaler Bereich
2.4.2. Bereich der Kinesik
2.4.2.1. Gesichtsausdruck und Mimik
2.4.2.2. Blickverhalten
2.4.2.3. Körperhaltung
2.4.2.4. Körperkontakt und Berührung
2.4.2.5. Gestik und körperliche Bewegungen
2.4.3. Proxemik
2.4.4. Bereich der Artefakte und Kleidung
2.5. Nonverbale Sprachkomponente in Bezug auf das Modell der fördernden Prozesspflege (ABEDL®)
2.5.1. Kommunizieren können
2.5.2. Sich bewegen können
2.5.3. Vitale Funktionen des Lebens aufrechterhalten können
2.5.4. Sich pflegen können
2.5.5. Essen und Trinken können
2.5.6. Ausscheiden können
2.5.7. Sich kleiden können
2.5.8. Ruhen, schlafen und entspannen können
2.5.9. Sich beschäftigen lernen und sich entwickeln können
2.5.10. Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten können
2.5.11. Für eine sichere und fördernde Umgebung sorgen können
2.5.12. Soziale Bereiche des Lebens sichern und Beziehungen gestalten können
2.5.13. Mit existentiellen Erfahrungen des Lebens umgehen können
2.5.14. Auswirkung physiologischer Signale auf die Pflege
2.6. Empfehlungen
Teil III: Tabellen, Grafiken, Präsentation
Grafik A.
Tabelle I: Archetypische Grundreaktionen bei Bedrohung
Tabelle II: Bedeutung der Wahrnehmungsebenen
Tabelle III: Ausdruckfelder der Emotionen
Tabelle IV: Signale und Persönlichkeitsausdrücke
Tabelle V: Geschlechtliche Unterschiede
Tabelle VI: Bereiche und kulturbedingte Konfliktpotentiale
Tabelle VII: Emotionen und ihre Dekodierungsbereiche
Tabelle VIII: Neurales System der Augenbewegung
Tabelle IX: Grundemotionen und Augenpartiebewegung
Tabelle X: Körperhaltung und Interpretation
Tabelle XI: Berührungen und ihre Bedeutung
Tabelle XII: Emotionen und Bewegungen
Tabelle XIII: Gesten und ihre Bedeutung
Tabelle XIV: Distanzbereiche und ihre Eigenschaften
Tabelle XV: Farben und Stimmungen
Präsentation: Die Bedeutung der Nonverbalen Kommunikation in der außerklinischen Intensivpflege und Beatmung
Quell- und Literaturverzeichnis
Zur Einführung
„Alles, was wir sind, sind wir in Kommunikation.“ (Karl Jaspers)
„Er hat mich heute seltsam angeschaut…Was hat das zu bedeuten?“ – fragte mich vor Jahren eine junge Pflegekraft, als sie während der pflegerischen Übergabe über ihre Eindrücke von der Pflege eines Intensivpatienten berichtete.
Die Fragen, die ich mir damals gestellt hatte, lauteten:
- In Bezug auf Patienten: Warum hat er die Pflegekraft so angeschaut, dass sie es seltsam empfand?
- In Bezug auf Pflegekraft: Was hat sie möglicherweise getan, dass der Patient sie angeschaut hat? Und was hat sie so beunruhigt?
- Auf mich bezogen: Wie kann ich der Pflegekraft diese Situation verständlich machen, damit sie selbst begreift, was es bedeuten kann?
Diese Begegnung und dieser Satz lenkten meine Aufmerksamkeit auf zwei Phänomene des pflegerischen Tuns: auf die zwischenmenschliche Verständigung und auf den Patienten selbst.
Nach Auffassung Karl Jaspers befinden wir uns in einem ständigen Kommunikationsprozess. Wir Menschen1 sind eben dialogische Wesen. Dialog bedeutet „Unterredung“, „Gespräch“(διάλογος diálogos) bzw. „sich unterreden“, „besprechen“(διαλέγεσθαι dialégesthai). Also die Unterredung ist ein διάλογος (diá-logos) - „Fließen von Worten“ (Gemoll 1965). In dieser Deutung kann man also den Dialog als ein Kommunikationsmittel auffassen (Glück 2010.).
Man könnte aber den Satz Jaspers leicht umdeuten: „Alles, was wir sind, sind wir im Dialog“. Und ich verstehe den Dialog als einen Bereich des Aufspürens der eigenen und fremden inneren Haltung zu den Dingen des pflegerischen Alltags, in dem jede beteiligte Person – ob Pflegekraft oder kranker Mensch oder andere Teilnehmer - gleichermaßen verantwortlich sind in der Erkundung eigener und fremder Gewohnheiten, Annahmen, Wertvorstellungen, Denk-, Sprech- und Verhaltensweisen in der pflegerischen Begegnung.
Die Tatsache, dass ein kranker, schwerstkranker und sterbender Mensch in das persönliche Umfeld und damit in die Gesellschaft selbst, bleibende Werte hineinbringt, wird selten explizit wahrgenommen - und wenn - nur bruchhaft am Rande akzentuiert. Daher unternehme ich zunächst ein Versuch der Wahrnehmung und Beschreibung dieses Faktums. Darüber hinaus möchte ich einen Versuch einer Erfassung der tatsächlichen Rolle der kranken Menschen in der Gesellschaft machen.
Das Augenmerk richte ich zunächst auf die Einstellungen der kranken Menschen in ihrer Krankheit. Diese Einstellungen wollen uns etwas kommunizieren. Indem wir sie erkennen, benennen und nach einer Antwort suchen, befinden wir uns im Dialog.
Ich unterscheide dabei zwischen zwei Grundhaltungen: der altruistischen (positiven, kreativen) und der negativen (egoistischen) Haltung. Darin enthalten sind jeweils acht Einstellungen unterschiedlicher Prägung, die ich versuche einzeln zu nennen, zu beschrieben und mit Praxisbeispielen zu belegen. So entwickelt sich der Vorschlag einer Typologie von Haltungen der kranken Menschen angesichts eigener Krankheiten. Es ist mir auch bewusst, dass diese in reiner Form sehr selten vorkommen werden. Beschriebene Haltungen sind oft miteinander vermischt oder nur bruchhaft erkennbar.
Der kranke und sterbende Mensch ist und kann, in der Familie und im Gesundheitswesen selbst, ein Schöpfer neuer personalen Interaktionen (Dialogprozesse) sein. In diesem Zusammenhang sind mir zwei Faktoren von besonderer Wichtigkeit: die Rolle der Familie und ihre Einstellung zu kranken Menschen.
In meinen Ausführungen liegt eine besondere Betonung auf die Grundeinstellung, die im Leben eines jeden Menschen die Grundlage für die Entwicklung einer Haltung bildet. Diese Grundeinstellung beinhaltet wesentlich die Beantwortung der Grundfrage: Was ist das Wesentliche für mich im Leben? Oder anders formuliert: Lebe ich, um zu haben oder um zu sein? (Marcel 1935, 1952, 1956). Die Antwort auf diese Frage beeinflusst nicht nur die Qualität des Lebens, sondern entscheidet über die Haltung in der menschlichen Entwicklung sowie über die Qualität der Beziehungen. Dabei habe ich eine bemerkenswerte Erfahrung aus eigenem Leben vor Augen2.
„Ich habe eine alleinstehende Mutter und ihren krebskranken Sohn Peter begleitet3. Peter wusste, dass er stirbt. Das Kind war sechs Jahre alt. Seine Mutter saß am Bett und weinte; ich saß daneben. Plötzlich fragte Peter: »Warum weinst du, Mamma?« Sie antwortete: »Weil ich nur dich habe!« Nach einer längeren Pause sagte Peter etwas nachdenklich: »Mamma, freue dich, dass ich noch da bin.«“ (Gembala 2005, 80).
Das Kind wusste intuitiv, was alle Erfahrungen zeigen: Je mehr der Mensch in Besitz investiert und je weniger das Wesentliche für ihn spürbar ist, desto unbefriedigender ist sein Leben. Es ist wahr, dass der Mensch zwischen bedeutenden Wirkungen von innen und außen steht, und irgendwie muss er beiden gerecht werden. Irgendwie durch unsere Taten wird offenbar, wer wir sind. Irgendwie zeigt sich auch in der Krankheit (oder vor allem darin?) unser wahres Wesen.
Dialog in der Pflege bedeutet nicht nur eine geführte Rede und Gegenrede, sondern beinhaltet im Sinne eines ganzheitlichen Pflegeverständnisses, das Bewusstwerden der Wichtigkeit der nonverbalen Kommunikation im Pflegeprozess. Denn es gibt kein Zeichen ohne Bedeutung (Lewandowski 1994). Darüber hinaus ist die Pflege, besonders von Intensivpatienten, nicht nur die Sache von Gefühlen und Empfindungen, sondern genauso des Wissens und des Verstehens.
Menschen, die insbesondere außerklinische Intensivpflege und Beatmung bedürfen, haben häufig erhebliche Probleme, sich über ihre Stimme zu artikulieren. Pflegekräfte stehen in diesem Fall vor der Herausforderung, die Anliegen ihrer Patienten über die Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation zu verstehen.
Im Duktus weiterer Überlegungen gehe ich von der begründeten Annahme aus, dass Pflege eine Beziehung ist und dass Kommunikation daher das grundlegende Instrument des Dialogs und der Pflege darstellt. Im weiteren Verlauf definiere ich die Kommunikation im Allgemeinen und zeige ihr Stellenwert in Modellen und Theorien der Pflege auf. Davon ausgehend wende ich mich der nonverbalen Kommunikation, um in weiterer Ausarbeitung zu versuchen, eine wissenschaftlich fundierte, auf Forschungsarbeit beruhende Darstellung der Erkenntnisse über nonverbale Kommunikation in ihrer Relevanz zur Pflege zu erfassen. Dabei geht es mir nicht um eine Auslegung oder Deutung der nonverbalen Signale, sondern um den Versuch, einen tieferen Sinn, die Bedeutung nonverbaler Kommunikation für die pflegerische Tätigkeit als Wissenszusammenhang zu erfassen.
Es ist ein wichtiges Ziel pflegerischen Tuns, andere wahrzunehmen, zu beobachten und zu beurteilen. Häufig hilft einer Pflegekraft die Mimik eines Patienten bei dieser Beurteilung: Gesichtsausdruck eines Patienten kann beispielsweise die Intensität von Schmerzen anzeigen (die manchmal von dem abweicht, was er sagt), und seine Gesten können die Art seiner inneren körperlichen Empfindungen veranschaulichen. Um die Bedeutung nonverbalen Signale optimal berücksichtigen zu können, muss man den betroffenen Menschen aufmerksam beobachten. In der Psychotherapie ist es z.B. möglich, Patienten ausschließlich aufgrund ihrer nonverbalen Kommunikation einer Kategorie zuzuordnen (Waxer 1978). Im pflegerischen Bereich könnte es sein, dass sich die Genauigkeit der pflegerischen Beobachtung verbessern würde, wenn man der nonverbalen Kommunikation mehr Beachtung schenken würde.
Mir ist es bewusst, dass die richtige Dekodierung nonverbaler Ausdrücke sehr hohe Anforderungen an die in der Pflege Mitarbeitenden stellt. Dennoch ist es wichtig, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Zu den wichtigsten zählen u.a.: Echtheit, Wertschätzung und Einfühlung (Rogers 2000), Einübung in die Wahrnehmung und Beobachtung der Körpersignale (auch der vegetativen Symptome) sowie multidisziplinäre Zusammenarbeit.
In Zeiten des vernetzten Denkens ist es für die Pflegewissenschaft unabdingbar von anderen Wissenschaften zu lernen und z.B. die Erkenntnisse der Gestalttherapie (Perls et al. 2015) oder der Themenzentrierten Interaktion (Cohn 2009) in die Pflegepraxis zu adaptieren. Vor allem jedoch ist es notwendig, im Sinne der dialogischen Pflege, die entsprechenden Inhalte zur nonverbalen Kommunikation in die Aus-, Fort- und Weiterbildung stärker als bisher zu verankern.
Die Genauigkeit der Einschätzungen von Pflegekräften können durch entsprechende Schulungen verbessert werden, vor allem bei der kulturspezifischen Pflege (Ilkilic 2005). Es ist ein Thema von großer praktischer Wichtigkeit (Rehbein 1985), denn es gibt nicht nur immer mehr Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, sondern ebenso viele Migranten pflegerisch betreut werden4. Man kann Menschen durch Schulung und Training beibringen, die nonverbale Kommunikation einer fremden Kultur zu akzeptieren (Alban et al. 2000; Becker et al. 2006) und mit der Art der Kommunikation umzugehen (Collett 1982).
Im Bereich der außerklinischen Intensivpflege scheint es wichtig auf richtige Konzepte zu setzen. In diesem Themenzusammenhang könnten es neben der Kinästhetik (Hatch/Maietta 2003) auch - oder vor allem - Basale Stimulation® (Bienstein/Fröhlich 1991) sein. Zum Konzept der Basalen Stimulation® gehören doch eindeutig nonverbale Elemente, wie: das Anfassen und Berühren, die Bewegung und Positionierung (Lagerung) sowie die angenehmen Umgebungsbedingungen (Bienstein/Fröhlich 1991). „Stimulation ist Anregung durch ein ständig verändertes Informationsangebot. Es wird ein Arrangement der Umgebung geschaffen, durch welches das Individuum selbst Lust bekommt, wieder anzufangen, sich selbst zu entdecken“ (Fröhlich et al. 1997). Gerhard (2011, 86) postuliert, dass bei Wachkoma-Patienten die Kommunikation durch Langsamkeit und körpernahen (nonverbalen) Dialogaufbau ermöglicht werden sollte.
Ein Verständnis der Pflege als dialogisches Ereignis sollte nicht nur den Sozialpsychologen und Therapeuten vorbehalten bleiben. Das Thema ist eben für die praktische Pflege unabdingbar. Dialog, Kommunikation und vor allem nonverbale Signale konstituieren das Feld in dem sich die pflegerische Beziehung und die dialogische Pflege entfalten. Nonverbal kommunizierte Signale tragen dazu bei, eine sichere heilende Umgebung zu schaffen, auf deren Grundlage Ressourcenaktivierung und Problemlösungen erfolgen können.
Ich hoffe, dass diese Arbeit einen Beitrag zur besseren Wahrnehmung der Bandbreite der Krankheit und des kranken Menschen leisten wird. Den kranken Menschen kann diese Arbeit auf der Suche nach der Bewusstmachung eigener Standortbestimmung hilfreich sein oder sogar - durch die Anerkennung ihrer schweren Bemühungen in jeweiligen Krankheitssituation - Zufriedenheit bringen. Den gesunden Menschen, besonders den Pflegekräften, wünsche ich, dass dieser Text sie zum Nachdenken über ihr Leben, über ihren Dienst und über die Dialogfähigkeit der Pflege bewegen möge.
Nicht zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass die eigentlichen Helden dieser Arbeit schwer, chronisch oder sterbend kranke Menschen sind, oft jahrelang mit der Krankheit kämpfend (Antonovsky 1997)5. Es handelt sich hier nicht um behinderte Menschen, über die und die Aspekte ihrer Rehabilitation relativ viel geschrieben wird (Biewer 2017; Cloerkes 2007; Mürner/Sierck 2012; Welti 2005). Entsprechend wenig oder überhaupt nicht reflektiert man die Krankheit als einen dialogischen Prozess, den man in ein individuelles und gesellschaftliches Gut umwandeln kann.
Ich danke hier besonders herzlich allen kranken und sterbenden Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin. Es waren eben die, die mir geholfen haben und immer noch helfen, Mensch zu werden. Ich danke ihnen auch deshalb, weil durch deren kreative Mitwirkung im Leben, kann ich heute, aus deren eigenen Umgang mit ihrer Krankheit, einige Beispiele formulieren.
Nicht zuletzt bin ich davon überzeugt, dass eine engere Einbeziehung der nonverbalen Kommunikation in den Pflegealltag, die Gestaltung der Pflegebeziehung und des Dialogprozesses noch ein wenig besser und effektiver möglich machen wird. Das Verständnis für die Art und Weise, in welcher der individuelle Pflegebedürftige kommuniziert, veranlasst eine intensivpflegerische Betreuung, die nicht nur medizinisch notwendige Maßnahmen ausführt, sondern den Patienten in seiner individuellen Bedarfssituation umfassender berücksichtigt und damit seiner Würde gerecht wird.
Teil I: Mensch - Krankheit
1.1. Homo creator - schöpferischer Mensch in der Krankheit
Das Leben ist für jeden konkreten Menschen ein realer Zustand, den wir oft in der Eigenreflexion als unwiederholbaren Fakt und unsere Existenz als einen einzigartigen Prozess erleben. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch das Bedürfnis hat, seinem Leben einen Sinn (die Wahrheit), ein Wert (das Gute) und eine Einzigartigkeit (das Schöne) zu geben, eben einen schöpferischen Akzent und Charakter.
Jeder Mensch existiert um zu werden. Jeder Mensch ist ein homo creator im Sinne eines philosophisch-anthropologischen Begriffes, der die positive und schöpferische Eigenschaft des Menschen hervorhebt (Landmann 1961). Indem wir schöpferisch leben, tragen wir den Lebenskrisen Rechnung: Das Annehmen von Veränderungen, das Ertragen von Verunsicherungen, die Fähigkeit, loszulassen und auf eine neue Idee zu warten, diese dem Bekannten so zu verbinden, dass das Bekannte entweder ausgeweitet oder anders betrachtet werden muss. Das sind wesentliche Aspekte des Schöpferischen und der Lebenskunst überhaupt (Gordon 1978).
Der schöpferische Mensch ist jemand, der sich seiner Einmaligkeit unter den verschiedenen Lebewesen bewusst ist. Denn nur er erschafft Kultur, Abstraktion, entdeckt die Regel, die die Natur regieren und weißt diese zu nutzen.
Der schöpferische Mensch kann die Routine brechen und die Barrieren der Vorurteile überwinden. Er kann die Monotonie durch die Kraft neuer Ideen und Werken in etwas Neues verwandeln.
Der schöpferische Mensch lernt sein Leben lang, weitet seine Fähigkeiten und Fertigkeiten aus und durch das, was er erreicht entwickelt er sich selbst weiter.
Der schöpferische Mensch ist jemand, der andere Menschen als Personen betrachtet und sie nicht aus einer Machtposition als Sachen behandelt, wodurch er immer in der Lage ist, neue interpersonelle Beziehungen aufzubauen.
Der schöpferische Mensch hat die Fähigkeit nicht nur eigene Fehler zu entdecken und einzugestehen, sondern lernt aus diesen Fehlern. Steht in der Wahrheit vor sich selbst und vor den Anderen.
Der schöpferische Mensch hat die Fähigkeit, sein eigenes oft mühsames Leben als sein eigenes und einzigartiges zu akzeptieren und als solches zu entwickeln. Er sieht die Notwendigkeit auch in sehr schwierigen, schmerzhaften und ausweglosen Situationen, sein Leben zu transformieren und diese Veränderung in seine Existenz zu integrieren.
Der schöpferische Mensch ist jeder, der aus der Vielfallt der dargebotenen Lebensstilmöglichkeiten, grundsätzlich die schöpferische Einstellung auswählt.
Der schöpferische Mensch – homo creator ist potenziell jeder Mensch, denn die schöpferische, kreative Möglichkeiten sind in uns immanent und sie resultieren aus dem Faktum des Mensch-Seins. Nicht jeder Mensch erreicht aber den Zustand des kreativen Menschen, oft deswegen, weil er sich dessen einfach nicht bewusst ist. Die Kraft schöpferisch zu sein, ist in jedem Menschen, sie ereignet sich, sie ist, aber sie alleine stellt noch keine Kreativität dar. Schöpferische Haltung beschreibt eben eine schon angeeignete Fähigkeit durch die Kreativität auf die Lebenssituationen zu reagieren. Diese Fähigkeit muss man erst erarbeiten durch die Eigenwahrnehmung, durch die Eigenarbeit und eine konsequente Eigenentwicklung.
Es ist schon wichtig zu wissen, dass diese schöpferische Fähigkeit unterschiedlich benutzt werden kann. Im positiven Sinne wird sie Kreativität genannt. Im negativen Sinne – Destruktion. Die gleiche Fähigkeit die positiv etwas aufbauen kann wird negativ zum Störfaktor und im Endeffekt zur Vernichtungskraft.
Wenn man einen Sinn in den Gegenpolen von Schöpfung und Destruktion suchen möchte, muss man zunächst die Ordnungsgemäßheiten betrachten. Jeden Tag im Leben haben wir eine Wahl zu treffen und wir wollen die richtige Wahl treffen. Denn wir wissen, dass die Destruktion (negative Kreativität) individuell, gesellschaftlich, ethisch und sogar genetisch viel zu viel kostet. Warum? Denn nur die positive Kraft der Kreativität mitklingt, mitwirkt und ist kompatibel mit allgemeinen Entwicklungsregeln6. Wer im Einklang mit dieser Entwicklung bleibt hat schon gewonnen. So ist die allgemeine Erfahrung, auch in der Krankheit.
Krank zu sein bedeutet, sich in einer Krisensituation zu befinden. Das griechische Wort »krísis« (κρίσις) bedeutet neben Krise auch Entscheidung, Scheidung, Zwiespalt, Trennung, Urteil, Wahl und Erprobung. Das chinesische Schriftzeichen für Krise ist identisch mit dem für Gefahr und Chance (Kast 1997, 24-28). Wenn wir die Krise auf ihren negativen Aspekt begrenzen, wie es im deutschen Sprachgebrauch weitgehend geschieht, bleibt unsere Sicht des Geschehens beschränkt. Allerdings kennen wir in der Medizin den Begriff »Heilungskrise« und beschreiben damit allgemein den Entscheidungspunkt im Krankheitsgeschehen. Von hier aus geht es im positiven Fall Richtung Genesung, und so ist die Krisis auch der Umkehrpunkt zur Besserung. Indem wir unter dem Begriff auch »Entscheidung« verstehen, wie es im Altgriechischen der Fall ist, haben wir einen Schlüssel zum Wesen aller Krisen. Mit der Anleihe aus dem Chinesischen und dem Einbezug des Begriffes »Chance« erhalten wir den Ausblick auf die Perspektiven.
Tatsächlich konfrontiert uns jede Krankheit als Krise zumindest mit der Wahlmöglichkeit, sie bewusst anzunehmen oder sich nach Kräften dagegen zu wehren. Hier entscheidet sich bereits, ob sie zur Gefahr oder Chance wird. Das alte chinesische Denken, das um die Polarität von Yin und Yang kreist, kann noch die Einheit hinter diesen beiden gegenläufigen Möglichkeiten sehen. Es wundert auch nicht, dass einige Wissenschaftler und Therapeuten, wie z.B. Rogers (1959) und Landau (1969), eben der Kreativität innerhalb der Therapieprozesse einen großen Wert beimessen. C.G. Jung stellt sogar die These auf, dass das Therapieziel darauf bestünde, einen Menschen kreativ zu machen (1971, 49).
In der Krankheit entwickeln sich Fähigkeiten, die nicht nur altersspezifisch zu betrachten sind. Diese Entwicklungspotenziale sind auch nicht bei allen Menschen erkennbar, doch ihre Umsetzung bildet eine wichtige Hilfe bei der Auseinandersetzung mit Belastungen in gesundheitlichem Bereich.
Die theoretischen und empirischen Beiträge machen es deutlich, dass es sich hier um Entwicklungsmöglichkeiten handelt, die von einem nicht kleinen Teil kranker Menschen verwirklicht werden und bei deren Verwirklichung die Annahme der eigenen Lebenssituation sowie die selbstverantwortliche Gestaltung des Lebens gefördert werden.
Wie aus der empirischen Forschung bekannt, lassen sich während einer Krankheit folgende Potenziale verwirklichen:
- Eine kompetente Auseinandersetzung mit den praktischen Lebensaufgaben, die auf Lebenserfahrung gründet (Baltes 1987, 611-626).
- Die Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Existenz werden differenzierter wahrgenommen, inklusive der eigenen Leistungsstärken und Leistungsschwächen (Kruse 1992, 89-115).
- Die positiven Aspekte der schwierigen Lebensproblematik bei Einschränkungen und Verlusten werden hervorgehoben (Thomae 1985).
- Die in der fernen Zukunft liegenden Ziele treten in den Hintergrund, die in naher Zukunft liegenden Pläne und Vorhaben in den Vordergrund. So verändert sich die Zukunftsperspektive (Dittmann-Kohli/Staudinger 1992; Thomae 1988).
- Die eigene Lebenssituation wird auf der Grundlage der eigenen Biographie neubewertet, oft verbunden mit der bewussten Annahme des eigenen Lebens (Erikson 1972; Lehr 1987).
- Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit eigener Existenz führt zur Annahme oder Hinnahme der eigenen Begrenztheit (Munnichs 1966).
- Wachsendes Interesse und Engagement für nachfolgende Generationen (Erikson et al. 1986; Rosenmayr 1983; Erikson 1990).
- Es entwickelt sich die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Leben in eine umfassendere Ordnung zu stellen (Bühler 1959; Peck 1977).
Diese Wahlmöglichkeit erzwingt jedes Krankheitsbild. Es wird entweder in seiner Botschaft angenommen und so in eine Chance verwandelt, oder es wird abgewehrt und damit zur Gefahr. Schon die Entstehung von Krankheitsbildern läuft über diesen Weg der Entscheidung. Sobald eine Herausforderung im Bewusstsein nicht angenommen wird, muss die Energie ins Unbewusste ausweichen. Häufig verkörpert sie sich später als Krankheitsbild.
Jede Krankheit hat ihre Zeit; man kann sie nicht vorwegnehmen und sie nicht überspringen. Sie muss wie alles im Leben reif werden. Sie braucht nicht als Katastrophe zu erscheinen, sondern kann, im stillen Gang äußerlich unauffällig, sich für immer entscheidend und schöpferisch vollziehen.
1.2. Die Allgemeinheit der Krankheit
Die Struktur und Funktionalität des menschlichen Organismus fasziniert nicht nur Mediziner und Pflegekräfte. Physiologie an sich, die Präzision der Zusammenarbeit der einzelnen Zellen und Organe macht nachdenklich. Trotz dieser Genialität der Natur kommt zu pathologischen Veränderungen im Körper. Die Ätiologie dieser Umwandlung kann exogener, endogener, psychogener oder soziogener Natur sein. Diese Ursachen können auch untereinander verflochten sein.
Betrachtet man die Diskussion und Bewegung im medizinisch-pflegerischem Bereich, so fällt es auf, wie sehr sich die Diskussion auf ein praktisches Handeln beschränkt und wie verhältnismäßig wenig über die dahinterliegende Weltanschauung (Philosophie) gesprochen wird (Schnell 2002).
Trotzdem bezeichnet man eine tiefgreifende Erweiterung des Denkens rund um das Thema `Der kranke Mensch`. Die persönlichen Prozesse beim Erleben und der Verarbeitung von Krankheiten stehen im Mittelpunkt. Die medizinischen Beiträge konzentrieren sich nicht nur auf die physischen Prozesse, sondern sie untersuchen auch Krankheiten in ihrem psychischen, sozialen, kulturellen und sogar historischen Kontext.
Krankheiten verlaufen - auch in ihren physischen Prozessen - nicht nur von Person zu Person unterschiedlich, sondern sie werden auch interindividuell verschiedenartig erlebt und verarbeitet. Die Art des Erlebens und der Verarbeitung haben Einfluss auf den Verlauf der Krankheit. Zugang zu Erleben und Verhalten des Menschen gewinnen wir nur über eine ausführliche Thematisierung des individuellen Lebenslaufes sowie der aktuellen individuellen Situation. Der biographischen Anamnese wird also eine besondere Bedeutung für das Verständnis der Art und Weise beigemessen, wie der kranke Mensch seine Situation erlebt und diese verarbeitet (Christian 1989; Schipperges 1985; Weizsäcker 1986; Zacher 1988; Jüttemann/Thomae 1987; Uexküll 1990).
In einer schweren Krankheit ist die Einheit (Identität) der Person gefährdet, da der ihr vertraute Umgang mit ihrer Welt gestört oder unterbrochen ist (Weizsäcker 1986; Lehr 1986; Oesterreich 1988; Thomae 1985). Die Krankheit kann sich zu einer Krise des Subjekts ausweiten. Es eröffnen sich neue, positive oder negative Perspektiven, die Entwicklung nimmt einen veränderten (sei es einen positiven, sei es einen negativen) Verlauf. Ob die im positiven Sinne gemeinte Überwindung der Krise gelingt, hängt auch vom sozialen und kulturellen Kontext ab.
Die soziale Umwelt (in näherem und weiterem Kontext) übt Einfluss auf Erleben und Verarbeitung der Krankheit aus (Brooks 1991). Die Art und Weise der Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse des Patienten wird durch die Umwelt beeinflusst. Es ist zu berücksichtigen, dass Krankheiten - vor allem, wenn sie mit nach außen sichtbaren Einschränkungen verbunden sind - auf Seiten des Patienten Unsicherheit erzeugen können (Bischoff-Wanner 1997). Diese fördert eine besondere Sensibilität für Bewertungen durch andere Menschen. Auch aus diesem Grunde nehmen kranke Menschen schon kleinere Diskriminierungen und Stigmatisierungen deutlich wahr. Langfristig wird die Krankheit nur in einer bestimmten Art und Weise erlebt: Nämlich als zunehmende Gefährdung menschlicher Existenz und als wachsende Beeinträchtigung seiner Lebensqualität. Mit steigender Krankheitsdauer nehmen auch die Übereinstimmungen zwischen den Patienten und ihren Angehörigen im Erleben der Krankheit, ihrer Folgen für die Selbständigkeit im Alltag und bestehender Möglichkeiten zur Situationsverbesserung zu (Kruse 1989, 192-224). Die Unterschiede im Bildungsstand beeinflussen zusätzlich die Formen des Umgangs mit Erkrankungen (Gerhardt 1986; Heim 1986, 278-342; Novak 1988, 184-190).
Das kulturell beeinflusste Verständnis von Krankheit und Leiden hat Auswirkungen auf die persönliche, individuelle Art der Auseinandersetzung mit gesundheitlichen Belastungen. Durch kulturelle Kontexte erweist das Verständnis von Krankheit und Leiden sehr große Unterschiede (Herzlich/Pierret 1991; Schipperges 1985). Besonders in der psychosomatischen Medizin sind kulturelle Einflüsse auf die Krankheitsentstehung von besonderer Bedeutung (Christian 1989; Cremerius 1990). Unter den kranken Menschen selbst setzt sich ein Selbstverständnis durch, „ sich gegen Vereinsamung aufzulehnen, es mit der Krankheit 'aufzunehmen', gegen die Haltung der Gesellschaft zu protestieren “ (Herzlich/Pierret 1991, 311).
Bei aller Gesellschaftskritik sollte nicht übersehen werden, dass Erkenntnisse der Psychologie und der Psychosomatischen Medizin mehr und mehr in ärztliches und pflegerisches Handeln einfließen (Bergener 1989; Christian 1989; Hirsch 1990; Radebold 1989; Uexküll 1990). Nicht nur die Medizin, sondern auch viele andere Wissenschaften, wie z.B. Psychologie, Soziologie, Theologie, Pflegewissenschaft, untersuchen die Situation des kranken Patienten aus ihrer spezifischen Perspektive. Ein wichtiges Motiv dieser wissenschaftlichen und praktischen Initiativen ist darin zu sehen, dem Patienten Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit seiner Erkrankung anzubieten. In dem Maße, in dem dies gelingt, werden auch psychische Entwicklungsprozesse - somit eine Überwindung der Krise im positiven Sinne - gefördert.
Krankheit ist in unserer Gesellschaft vorwiegend als etwas nicht zum Leben Gehörendes angesehen, als etwas Fremdes, das möglichst rasch und vollständig beseitigt werden müsste. Dabei bleibt die Tatsache unbeachtet, dass Krankheit eine Art des In-der-Welt-Seins darstellt, dass sich der Mensch auch in der Krankheit (und im Sterben) entwickeln könnte (Bloch 1959; Christian 1989; Huber 1990, 81-96; Schipperges 1985). Es sei selbstverständlich die Aufgabe der Medizin und Pflege, Krankheiten und Krankheitsfolgen zu lindern. Ethisch und rechtlich problematisch wird ärztliches und pflegerisches Handeln dann, wenn ein regelrechter Kampf gegen die Krankheit geführt wird. Bei dieser gesellschaftlichen und beruflichen Einstellung könnte der Patient unmöglich zu einer tragfähigen Haltung gegenüber seiner Situation finden.
Von der Krankheit sind nicht einzelne, von der Person losgelöste Bereiche unserer Existenz betroffen, sondern die ganze Existenz - und zwar in allen ihren Bezügen. Man sollte daher bei Aussagen über die Gesundheit eines Menschen dessen individuelle Art der Auseinandersetzung mit der Krankheit und die oftmals erkennbare, hohe Kreativität bei der Verarbeitung der Krankheit sowie in der Gestaltung des Alltags beachten. Es setzt natürlich voraus, sehr hohen Maßstäbe für die einzelnen Kompetenzen des medizinisch-pflegerischen Personals.
1.3. Die Dramaturgie des Krankheitsprozesses
Alle Menschen erleben verschiedene Grenzerfahrungen: Missachtung, Einsamkeit, Undankbarkeit, Schuld, Enttäuschung, Krankheit, Trauer... Sie sind für uns wie Schürf- und manchmal auch Risswunden im Leben. Sie sind für uns wie Ampeln am Lebensweg.
Im Krankheitsfall ist der normale Ablauf unserer Lebensfahrt unterbrochen. Die inneren Signale stehen auf Gelb (als Vorwarnung) oder auf Rot (dringende Warnung) geschaltet. Die Zeichen in unserem Körper (und unserer Seele) signalisieren „Halt!“, um einen Zusammenbruch zu vermeiden. Sie sind lebenswichtig.
Der Stillstand, das Warten können auch zur schöpferischen Pause werden, während der wir etwas überdenken oder die Richtung ändern. Kranksein ist also - so gesehen - eine notwendige Lebenserfahrung. Was können wir über die Krankheit, neben vielen wissenschaftlichen Feststellungen, noch sagen? (Engelhardt 2005, 797–803; Kiesel 2012; Rothschuh 1978).
Die Krankheit ist eine allgemeine Möglichkeit. Jeder Mensch kann krank werden und zwar ohne Ausnahme. Praktisch gibt es keinen Menschen, der nicht krank war, ist oder wird. Es ist keine Drohung. Das muss man nur ruhig zugeben und versuchen die eventuelle Krankheitssituation für eigenes Leben positiv zu nutzen.
Die Krankheit ist ein allgemeines Geschenk. Man darf es so formulieren, denn Krankheit kann die Möglichkeiten öffnen, eigenes Leben neu auszurichten. Krankheit ist das Geschenk, das mir die Chance gibt, neue Wege gehen zu können.
Die Krankheit ist ein allgemeines Phänomen, weil sie jeden Menschen betrifft. Sie kann sich in jedem Menschen entwickeln: Entweder als Fragment seiner Lebensgeschichte oder sie wird zu seiner Lebensgeschichte.
Die Krankheit ist eine allgemeine Situation in der lebt und entwickelt sich die ganze Menschheit. Da wir uns dessen bewusst sind, gibt es eine Entwicklung der Medizin, die versucht diese Situation zu ändern.
Die Krankheit ist ein allgemeines Leid. Krankheit ist eine der Ursachen des Schmerzes. Der Schmerz, das Leid gehören zu den Problemen der menschlichen Existenz, von denen der Mensch nie frei wird. Nur eine Nicht-Existenz kann uns davon befreien.
Krankheit ist ein allgemeines Faktum, das in der Krankheitsgeschichte eines Menschen notiert wird und ist eine wichtige Position in der Bilanz eines Menschenlebens. Nur von dem kranken Menschen häng es ab, ob diese Bilanz positiv wird.
Krankheit ist eine allgemeine Chance und als solche eröffnet sie neue Möglichkeiten in der persönlichen Entwicklung. Sie gibt uns die Zeit und die Chance zum Innehalten, zum Nachdenken. Sie gibt uns die Zeit, das eigene Leben neu zu beurteilen und auszurichten, zu verbessern und zu vertiefen.
Die Krankheit ist ein allgemeines Geheimnis. Zunächst für den kranken Menschen selbst, der verloren in Gedanken und Mutmaßungen, wenig oder nichts über seine Krankheit weiß. Auch der Arzt und die Pflegekräfte stehen vor einem Geheimnis denn jeder Mensch ist ein Individuum und erlebt die Krankheit auf seine Art und Weise. Krankheit ist auch ein Geheimnis für die Angehörige und Freunde des kranken Menschen. Das Umfeld steht oft überrascht, genervt, ohnmächtig und sprachlos vor einem kranken Menschen, dessen Verhalten, Reaktionen und Sprache rätselhaft und unverständlich wirken. Und nicht zuletzt ist die Krankheit ein Geheimnis für die Gesellschaft, die - so weit es geht - versucht diese Problematik und damit den kranken Menschen aus dem allgemeinen Bewusstsein zu verdrängen und gleichzeitig, in der Konfrontation mit dem kranken Menschen, zur Solidarität mit ihm aufgerufen wird.
In den letzten Jahren beginnt man, glücklicherweise, immer deutlicher zu begreifen, dass kranke Menschen viel mehr in die Gesellschaft hineinbringen als sie von der Gesellschaft bekommen. Meiner Meinung nach ist diese gesellschaftliche Meinungsbildung ein großer Verdienst der Hospizarbeit und des Palliativgedankens in Deutschland seit 1990 (Faymonville et al. 1996, 46; Rest 1994, 28-48; Rest 1995).
Der Verlauf vieler Krankheiten ist oft sehr gravierend und ein höchst dramatischer Prozess. Dieser Prozess erfordert sowohl Kenntnisse über die Krankheit selbst, als auch Erkenntnisse über die zugrunde liegenden Mechanismen. Es ist wichtig nicht nur für die kranken, sondern auch für die gesunden Menschen, damit sie die Betroffenen selbst und die Entwicklungen verstehen und anerkennen.
Eine Dysfunktion des menschlichen Organismus äußert sich eindeutig negativ auf mehreren Ebenen: biologischer, psychischer, sozialer und geistiger. Es entstehen oft komplizierte und unbiegsame Situationen mit denen ein kranker Mensch versucht, fertig zu werden. Der Verlauf einer schweren Krankheit ist durch vielfältige Problematiken gekennzeichnet.
[...]
1 Um den Fluss im Lesen und Schreiben nicht zu erschweren, verzichte ich darauf, wenn es sinnvoll ist, an jeder Stelle sowohl auf das weibliche wie das männliche oder sonstiges Geschlecht hinzuweisen. Die gelebte qualitative Gleichwertigkeit zwischen Menschen ist mir wichtiger als ein Kampf um Gleichstellung.
2 Alle in dieser Arbeit aufgeführten Beispiele sind anonymisiert, wurden jedoch vom Autor real und konkret erlebt. In meiner über dreißigjährigen Arbeit in der Hospizbewegung und später in der Pflege hatte ich die Gelegenheit schriftliche Berichte über die vielen Begegnungen mit schwerkranken und sterbenden Menschen aufzuzeichnen. Ein Großteil dieser Berichte ist durch einen Brand vernichtet worden. Ein Teil wurde bereits davor digitalisiert. Einige Berichte sind nachträglich nachgezeichnet worden. Weitere individuelle Daten wie Kultur- und Religionszugehörigkeit, Beruf, Zivilstand, Kinderzahl etc. werden nur erwähnt, wenn sie im Zusammenhang von Bedeutung sind.
3 Peter, 6 Jahre. Diagnose(n): Osteosarkom. Z.n.: Chemo-, Strahlentherapie. Krankheitsdauer: 2,5 Jahre. Begleitung/Zeitraum: Hospizarbeit, 1984. Notiz vom: Dezember 1984.
4 Inzwischen besitzt jede fünfte Person in Deutschland einen Migrationshintergrund (Vgl.: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Demografischer Wandel in Deutschland, Heft 2, 2016).
5 Das reduktionistische Bild der naturwissenschaftlichen Medizin wird dem Phänomen Krankheit nicht gerecht. Ich verweise auf die etwas unglückliche, WHO-Definition (1948). Die isolierte Gesundheit, wie sie von Medizin postuliert wird, ist ein gedankliches Konstrukt, das sich in der Praxis nicht halten lässt. Sie ist ohne den Begriff Krankheit nicht denkbar. Die Idee, Krankheit zu eliminieren und dabei Gesundheit zu erhalten, ist naiv. Krankheit und Gesundheit sind zwei Pole, sich gegenseitig bedingende Begriffe, die zum Leben gehören.
6 Es handelt sich hier um das allgemeine Recht auf ständige Entwicklung für die Welt, für die Menschheit, für die Staaten, Nationen und diverse Gesellschaften sowie für die einzelnen Menschen. Vgl. United Nation (UN), Erklärung über das Recht auf Entwicklung (1986), gesichtet am 16. Mai 2014 in: http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar41128.
- Quote paper
- Bronislaw Gembala (Author), 2019, Dialogische Pflege, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/455191
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.