Die Umdeutung eines Problems in einen lösungsorientierten Kontext und die damit verbundene Sicht auf das ganze System kann sich entlastend auf den ganzen pädagogischen Alltag und alle betroffenen Beteiligten auswirken.
Wird nun der Blick auf den Religionsunterricht gelenkt, gelten diese Überlegungen in einem besonderen Kontext. Mit in der Regel zwei Wochenstunden kann diese Zeit in der Schule für die Schüler zu einer Oase der Kraft und Ruhe, der Entlastung von Leistungsdruck und einem geschützten Raum werden, in dem sie nicht nur als Lernende betrachtet werden, sondern in ihrer ganzheitlichen Subjekt-Werdung unterstützt und ermutigt werden. Die religiöse Prägungsgeschichte und der allgemeine und religiöse Entwicklungsstand der Einzelnen sind in diesem Zusammenhang entscheidend für die unterrichtliche Praxis.
Aber darüber hinaus kann der Religionsunterricht zum konstruktiven Diskurs anregen und Haltungen prägen. Es spielen persönliche Gedanken und Gefühle eine Rolle, aber auch gesellschaftliche Einflussfaktoren wie zum Beispiel Medien, die eine nicht zu verachtende Position im Leben Heranwachsender einnehmen. Eine gewisse Sensibilität des Religionslehrers ist dabei entscheidend. Christliche Werte und Überzeugungen, mögen sie noch so wertvoll sein, lassen sich nicht plump auswendig lernen wie die Mitternachtsformel im Kontext der Mathematik. Vielmehr gilt es, sein Gegenüber genau wahrzunehmen, mit all seinen Rahmenfaktoren, seiner bisherigen religiösen Sozialisation und seinen daraus resultierenden Haltungen, diesen zunächst wertschätzend zu begegnen und eine Lernatmosphäre zu schaffen, in der ein Schüler sich öffnet, um andere Perspektiven einzunehmen. Das kann nur dann gelingen, wenn auch der Lehrer zu einem solchen Blickwechsel bereit ist.
Die systemischen Sichtweisen in die Institution Schule und in das besondere Fach des Religionsunterrichts zu integrieren, erscheint somit eine gewinnbringende Überlegung zu sein. Dabei stellt sich die für diese Arbeit entscheidende Frage: Braucht Lehrerbildung im Allgemeinem und im Besonderen systemische Zugangsweisen, Perspektiven und Handlungskompetenzen, und inwieweit wurden theoretische und praktische Elemente des systemischen Ansatzes bereits in die universitäre Ausbildung für Lehramtsanwärter aufgenommen?
Inhalt
0 . Einleitung
1 . Der Systemische Ansatz in Schule und Unterricht .
1.1 Grundlagen des Systemischen Denkens.
1.1.1 Was ist ein System? .
1.1.2 Autopoiesis .
1.1.3 Synergetik .
1.1.4 Kybernetik erster Ordnung
1.1.5 Triviale und nichttriviale Maschinen (= Systeme) .
1.1.6 Die Kybernetik der Kybernetik oder die Kybernetik zweiter Ordnung
1.1.7 Konstruktivismus .
1.1.8 Soziale Systeme .
1.2 Umsetzung in der Schule
1.2.1 Schule – ein soziales System .
1.2.2 Ressourcenorientierung in der Schule .
1.2.3 Systemische Lösungsorientierung in der Schule .
1.2.4 Beziehungsgestaltung.
1.2.5 Refraiming.
1.2.6 Kommunikationsstile .
1.2.7 Zirkuläre Fragen
1.2.8 Lernen.
2 . Systemtheorie und Religionspädagogik
2.1 Niklas Luhmanns Religionsbegriff und sein Einfluss auf die Theologie und
Religionspädagogik ...
2.2 Religionspädagogik aus systemischer Perspektive .
2.2.1 Definition ‚systemische Religionspädagogik‘.
2.2.2 Religionsdidaktik aus systemischer Perspektive .
2.2.3 Lernen im RU
2.2.4 Begriffsentwicklung .
2.2.5 Praktische Umsetzung .
2.3 Chancen und Grenzen einer systemischen Religionspädagogik.
2.4 Forschungsperspektiven .
3 . Lehrerkompetenzen aus einer systemischen Perspektive.
3.1 Lehrerkompetenzen im Sinne der Kultusministerkonferenz
3.2 Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht formuliert durch die EKD und die Diagnostische Wahrnehmungskompetenzen im Religionsunterricht.
3.3 Systemischer Ansatz als eine Handlungsalternative .
4 . Umfrage: Systemisches Handeln in der Schule
5 . Inhaltliche und methodische Bereicherungen für die Lehrerbildung durch systemische Perspektiven .
6 . Quellen und Literaturverzeichnis .
0. Einleitung
Ein wesentlicher Aspekt des Lehrersein stellt das fach- und sachgerechte Unterrich- ten dar. Einer qualitativ hochwertigen Unterrichtsplanung liegt sinnvollerweise eine fundierte und allgemeingültige Didaktik zu Grunde. Seit den 80er-Jahren wird bei der praktischen Planung meist das Berliner Modell nach Heimann genutzt. Ein neu- eres Modell, das auch dem kompetenzorientierten LehrplanPLUS völlig gerecht werden kann, muss sich noch entwickeln. Wer sich mit den teilweise abstrakten Theorien zu didaktischen Modellen beschäftigt, erkennt schnell deren Gemeinsam- keiten – ob lern- und bildungstheoretisch oder konstruktivistisch. Alle erkennen und fordern eine Berücksichtigung der verschiedenen Einflussgrößen und Beteiligten. In ausformulierter Form stellt sie die Situationsanalyse dar, die für guten Unterricht unabdingbar ist, um den Stoff in Bezug auf Voraussetzungen, Entwicklungen und Stand der Gruppe innerhalb der gegebenen Rahmbedingungen korrekt aufbereiten zu können. Der Umgang mit eventuellen Problemen oder Defiziten spielt dabei na- türlich eine große Rolle: Wie können ‚Spezialfälle‘ in den Unterricht einbezogen wer- den, also diejenigen Schülerinnen und Schüler, die ständig stören, sich verweigern oder auf andere Art und Weise den Ablauf der geplanten Unterrichtszeiteinheit ‚sa- botieren‘ könnten?
Das Lehrersein endet aber nicht mit der Unterrichtsdurchführung. Pädagogen1 se- hen sich tagtäglich mit einer Gruppe von völlig heterogenen Individuen konfrontiert und müssen auf auftretende Probleme und in wechselnden Situationen stets flexibel und pädagogisch wertvoll reagieren können. Gerade im Mittelschulbereich sind es häufig die Lehrer, die sich mit Schülern bei ihren adoleszenten Krisen auseinander- setzen müssen. Über das Unterrichten hinaus stellen Erziehen, Beraten, Beurteilen und Innovieren die weiteren Säulen des Lehrerberufs dar, wobei das Erziehen der Heranwachsenden eine entscheidende Rolle einnimmt. Gelingende Erziehung hängt von vielen Faktoren ab – die Beziehung zwischen dem Erzieher und dem Zögling ist dabei essentiell, aber auch die Haltung und Wertschätzung des Pädago- gen, nach der er sein intentionalisiertes Handeln ausrichtet. Hierzu möchte diese Zulassungsarbeit mit der Beleuchtung der systemischen Sicht- weise und den dazugehörigen Einflussfaktoren eine Perspektive einnehmen: Im Mittelpunkt des systemischen Denkens steht die Interdependenz zwischen allen Faktoren und der wertschätzende Umgang mit ihnen.
Der Beginn der Arbeit soll sich nicht der Ergebnisse des PISA-Schocks vor nun über 15 Jahren bedienen und auch nicht schon am Anfang mit schwierigen Definitionen aufwarten. Da es sich um eine pädagogisch orientierte Zulassungsarbeit handelt, bieten sich vielmehr zwei konkrete Beispiele aus meiner Biographie als Erzieherin in einer therapeutischen Wohngruppe zur Veranschaulichung an. Sicherlich zeich- nen diese ein sehr extremes Bild von problematischem Schülerverhalten, aber um die zentrale Thematik der systemischen Perspektive zu erfassen, sind solche Ext- remfälle geeignet.
Andrea kam mit zehn Jahren in die Gruppe. Sie war ein aufgewecktes Kind und malte und las mit großer Leidenschaft. Parallel zum Umzug in die stationäre Ju- gendhilfe stand auch die Transition auf die weiterführende Schule an. Das Mädchen besuchte ab dato die fünfte Klasse der Mittelschule. Ihre Klassenleitung und ihre Mitschüler waren überwiegend männlich. Andrea zeigte keine üblichen Verhaltens- auffälligkeiten. Ihre ADHS-Testung war negativ und bei der IQ-Testung erreichte sie einen normalen Wert. Von Anfang an bekleidete sie, ihren Berichten zufolge, eine Außenseiterrolle in der Klasse, nur mit dem Lehrer hätte sie sich sehr gut verstan- den. Der Alltag in der Jugendhilfe ist sehr ausgelastet, sodass es für die Erzieher kaum möglich ist, mit Lehrern Termine zur Klärung von Vorgeschichten zu verein- baren. Außerdem muss das im Regelfall zunächst mit Eltern und Sozialpädagogen abgesprochen werden. Andrea wurde zunehmend unglücklicher, wenn sie aus der Schule kam. Sie malte Bilder für ihren Lehrer, die er aber nicht zu würdigen wusste. Dieser wiederum berichtete später in einem klärenden Gespräch, dass Andrea von Anfang an sehr anhänglich, fast aufdringlich war. Sie lauerte ihm, seiner Aussage nach, schier auf. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, so versuchte er die Grenze zwischen den beiden sehr klar zu definieren. Das führte dazu, dass Andrea nur noch mehr um seine Aufmerksamkeit buhlte. In seiner Unsicherheit begann er sie zu ignorieren. Die Bezugserzieherin versuchte einen Termin mit dem Lehrer zu vereinbaren, was sich zunächst sehr schwierig gestaltete. Bis die Situation eines Tages eskalierte. Andrea versuchte sich auf den Schoß des Lehrers zu setzen und er schubste sie hinunter. Sie weinte und schrie hysterisch, bis eine Erzieherin sie abholen kam.
Zunächst scheint es sehr verwunderlich, warum ein Mädchen sich so verhält. Es stellt sich die Frage, ob sie eventuell latente Liebesgefühle zu dem Lehrer hegte. In Andreas Fall ist der Blick hinter die Kulissen so dramatisch wie klärend. Bereits als kleines Kind wurde sie mehrmals vom Freund der Mutter vergewaltigt. Die Mutter ist labil und depressiv aufgrund ihrer eigenen von Missbrauch geprägten Kindheit. Die Kindertagesstätte entdeckte die Zustände des Mädchens und informierte das Jugendamt. Die Mutter trennte sich von dem betreffenden Mann und durfte das Kind behalten. Der Vater der Mutter fuhr Andrea einmal wöchentlich zur Kinderpsycholo- gin und vergewaltigte sie anschließend im Auto. Das Mädchen erzählte das in einer späteren Sitzung der Psychologin, und in Folge dessen zog Andrea in unsere Wohngruppe ein. Jeglicher Kontakt zu Männern war seit ihrer Kindheit von miss- bräuchlichem Verhalten geprägt.
Andrea zeigt Männern gegenüber fast immer erotisches Verhalten, vor allem dann, wenn sie ihr sympathisch sind. Eine sehr missliche und schwierige Situation für den Lehrer. Sicherlich auch ein sehr extremer Fall, aber ihr Verhalten entsprach der ein- zigen erlernten Möglichkeit, ihm gegenüber ihre Zuneigung auszudrücken.
Das zweite Beispiel beruht auf einer Erfahrung im selbigen Kontext und handelt von Justin, der die fünfte Klasse einer Schule für Kinder mit sprachlichen Einschränkun- gen besuchte. Wenn der Lehrer kurz den Klassenraum verließ, klagte danach ein Kind, dass es von Justin getreten oder geschlagen worden sei. Auch in den Pausen und in der Garderobe gab es immer wieder Raufereien mit Justin. Es genügten kleinste Anlässe, die vom Lehrer oft nicht nachvollziehbar waren, und Justin schlug zu. Er rastete vor allem in Situationen aus, die für ihn nicht mehr überschaubar wa- ren oder ungerecht erschienen. Justin war während des aggressiven Agierens nicht ansprechbar, schien außer sich zu sein und wirkte in seinem Handeln brutal. Der Lehrer fühlte sich ihm gegenüber in diesen Momenten hilflos. Teilweise ging es so- weit, dass Justin mit Stühlen um sich warf oder mit Stiften auf die Kinder und den Lehrer losging. Immer öfter schloss ihn der Lehrer anschließend im Klassenzimmer ein und ich wurde benachrichtigt, um ihn abzuholen.
Justin kam mit acht Jahren in die Wohngruppe. Sein bisheriges Leben verbrachte er ausschließlich in Pflegefamilien, zu seiner Mutter hatte er keinerlei Kontakt. Justin versuchte alles um sich herum zu überblicken. Er wuchs in Umständen auf, in denen er stets abgeschoben und über seinen Kopf hinweg entschieden wurde. Er wurde immer wieder Prozessen ausgesetzt, in denen er unter massiver Verlustangst litt. Sobald er sich ungerecht behandelt fühlte, verlor er die Kontrolle. Wenn er seine ‚Stärke‘ demonstriert, zeigt er der Außenwelt, dass er mit sich nicht alles machen lässt und gewann dadurch ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle über die Situa- tion.
In beiden Fällen wurde bei der Erklärung eine systemische Deutung des Verhaltens angewandt. Die Intention, die Andrea und auch Justin bei ihrem auffallenden Ver- halten verfolgen, ist die Grundlage, um eine mögliche Lösung der Problematik zu erkennen. In meiner Ausbildung zur Erzieherin kam ich unter anderem in den Ge- nuss, einflussreich von einer systemischen Therapeutin unterrichtet zu werden. Das Thema der Umdeutung von der Frage nach dem Warum zu der zielgerechteten Frage nach dem ‚Wozu verhält sich die betreffende Person so?‘, half mir nachhaltig in meiner pädagogischen Praxis. Die theoretischen und praktischen Elemente des systemisch-beratenden Ansatzes prägten grundlegend meine pädagogische Hal- tung und Aufmerksamkeit und eröffneten mir die Möglichkeit, auch dann Wertschät- zung für mein Gegenüber zu empfinden, wenn eine zwischenmenschliche Situation ausgeprägt verfahren erscheint. Systemische Sichtweisen befähigen einen Päda- gogen dazu, Probleme in einem anderen Kontext zu beleuchten und auch bei aus- sichtslosen Situationen Lösungen zu entdecken – und das nicht indoktrinierend, sondern ausschließlich mit der Hilfe der Beteiligten.
Sicherlich bleibt zu betonen, dass beide Beispiele Extreme darstellen. Dennoch be- gegnet eine Lehrkraft im Alltag häufig verfahrenen Situationen und Problemen, die zunächst unlösbar erscheinen. Es wird im Studium viel über Lehrerprofessionalität debattiert und darüber, ob eine solche überhaupt ,erlernt‘ werden kann, oder ob Lehrerpersönlichkeiten schlichtweg geboren werden. Ich persönlich bin der Über- zeugung, dass systemische Sichtweisen sehr gewinnbringend sein können, um die für eine pädagogische Professionalität grundlegenden Faktoren – wie zum Beispiel die einer positiven Haltung, einer grundlegenden Wertschätzung und eines beson- nenen Umgangs mit Störmomenten – erlernen zu können.
Die Umdeutung eines Problems in einen lösungsorientierten Kontext und die damit verbundene Sicht auf das ganze System kann sich entlastend auf den ganzen pä- dagogischen Alltag und alle betroffenen Beteiligten auswirken.
Wird nun der Blick auf den Religionsunterricht gelenkt, gelten diese Überlegungen in einem besonderen Kontext. Mit in der Regel zwei Wochenstunden kann diese Zeit in der Schule für die Schüler zu einer Oase der Kraft und Ruhe, der Entlastung von Leistungsdruck und einem geschützten Raum werden, in dem sie nicht nur als Lernende betrachtet werden, sondern in ihrer ganzheitlichen Subjekt-Werdung un- terstützt und ermutigt werden. Die religiöse Prägungsgeschichte und der allgemeine und religiöse Entwicklungsstand der Einzelnen sind in diesem Zusammenhang ent- scheidend für die unterrichtliche Praxis.
Aber darüber hinaus kann der Religionsunterricht zum konstruktiven Diskurs anre- gen und Haltungen prägen. Es spielen persönliche Gedanken und Gefühle eine Rolle, aber auch gesellschaftliche Einflussfaktoren wie zum Beispiel Medien, die eine nicht zu verachtende Position im Leben Heranwachsender einnehmen. Eine gewisse Sensibilität des Religionslehrers ist dabei entscheidend. Christliche Werte und Überzeugungen, mögen sie noch so wertvoll sein, lassen sich nicht plump aus- wendig lernen wie die Mitternachtsformel im Kontext der Mathematik. Vielmehr gilt es, sein Gegenüber genau wahrzunehmen, mit all seinen Rahmenfaktoren, seiner bisherigen religiösen Sozialisation und seinen daraus resultierenden Haltungen, diesen zunächst wertschätzend zu begegnen und eine Lernatmosphäre zu schaf- fen, in der ein Schüler sich öffnet, um andere Perspektiven einzunehmen. Das kann nur dann gelingen, wenn auch der Lehrer zu einem solchen Blickwechsel bereit ist.
Die systemischen Sichtweisen in die Institution Schule und in das besondere Fach des Religionsunterrichts zu integrieren, erscheint somit eine gewinnbringende Über- legung zu sein. Dabei stellt sich die für diese Arbeit entscheidende Frage:
Braucht Lehrerbildung im Allgemeinem und im Besonderen systemische Zugangs- weisen, Perspektiven und Handlungskompetenzen, und inwieweit wurden theoreti- sche und praktische Elemente des systemischen Ansatzes bereits in die universi- täre Ausbildung für Lehramtsanwärter aufgenommen?
Im Folgenden sollen daher zunächst Begriffe aus der Systemtheorie geklärt werden, die in den darauffolgenden Kapiteln immer wieder aufgenommen werden und an sich von Bedeutung sind. Das zweite Kapitel widmet sich dann den Überlegungen einer systemischen Sichtweise aus explizit religionspädagogischer Perspektive. Danach bietet es sich an, die Kompetenzen in den Blick zu nehmen, die von einer Lehrkraft im schulischen Alltag im Allgemeinen, aber auch im besonderen Fall des Religionsunterrichts erwartet werden, um herauszuarbeiten, inwieweit die Behand- lung von systemischen Perspektiven im Studium gewinnbringend sein kann. Außer- dem soll durch eine Umfrage erforscht werden, ob systemische Ansätze bereits hin- reichend in der universitären Ausbildung erarbeitet werden, um anschließend mög- liche Umsetzungsüberlegungen anzustellen.
1. Der Systemische Ansatz in Schule und Unterricht
In diesem Kapitel werden einige wichtige Grundbegriffe der Systemtheorie geklärt, um danach systemische Inhalte auf den Kontext Schule zu übertragen, um sie im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit für die Religionspädagogik fruchtbar ma- chen zu können.
Die Theorie des Systemischen Denkens und Handelns ist äußerst komplex, und alle daraus resultierenden Denkmuster, Haltungen und Handlungsalternativen sind so vielfältig, dass es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, alle Einzelheiten zu- sammen zu tragen.
Gerade in der neueren pädagogischen Praxis gewinnt dieser Ansatz seit etwa zehn Jahren immer mehr an Aktualität, und die entsprechende Literatur2, gerade auch für die schulische Handlungsperspektive, nimmt stetig zu. Die Arbeit will und kann dem- nach nicht einen Gesamtüberblick liefern, sondern widmet sich den basalen Grund- lagen und versucht diese in knapper Weise darzustellen und ihren vermeintlichen Mehrwert für die schulische Praxis zu offenbaren.
1.1 Grundlagen des Systemischen Denkens
Nach dem zweiten Weltkrieg fand ein Umdenken im Bildungssektor statt. Die ge- radlinig-kausale Denkweise wurde von zirkulären Erklärungen abgelöst. Dies mar- kierte den Beginn für die Entwicklung der Systemtheorie und ihrer vielen verschie- denen Ansätze und Weiterentwicklungen. Nicht länger sollten die Einflussfaktoren, wie Mensch, Umwelt und Medien isoliert betrachtet werden, sondern vor allem ihr Interdependenzverhältnis zueinander. Das Betrachten des Ganzen führt zu einem Perspektivenwechsel und ist zugleich der Kern der systemischen Denkweise. „Es wird eine Ganzheit betrachtet, deren Elemente in einem Netzwerk von Wechselbe- ziehungen miteinander verbunden sind, in dem jedes die Bedingungen aller ande- ren bestimmt. Untersuchungsgegenstand sind dementsprechend Strukturen und Funktionen, d.h. die Beziehungen und Positionen von Elementen zueinander inner- halb eines Gesamtgefüges, die Regeln ihrer Interaktion und Kommunikation sowie die Gesetzmäßigkeiten der Stabilisierung und Veränderung von Systemzuständen und -strukturen.“3 Dadurch werden weitere Perspektiven in die Reflexion mit einbe- zogen und verschaffen dem Analysierenden einen umfassenderen Überblick, aus dem er weitere Schlüsse zu ziehen vermag.
1.1.1 Was ist ein System?
Unter einem System versteht man eine gegenüber der Umwelt abgegrenzte Ganz- heit. Ein Kaffeevollautomat zum Beispiel ist ein unbelebtes System. Dem gegenüber stehen organische, psychische oder soziale Dynamiken. An der Stelle eines Objekts befindet sich ein – zunächst in sich geschlossenes – System.
Solche Systeme stehen in einem steten Austausch mit ihrer Umwelt4 und können somit auch durch diese beeinflusst werden. Äußere Reize regen es an oder stören das Konstrukt. Eine totalitäre Steuerung können sie aber nicht leisten, „[d]enn die Komplexitätsforschung legt nahe, dass selbstorganisierte, komplexe Systeme ihre Innovationsfähigkeit, Kreativität und Adaptationsfähigkeit gerade daher beziehen, dass sie ‚am Rande des Chaos‘ operieren.“5 Dazu eine Veranschaulichung: Bei ei- nem Mikado-Spiel werden einzelne Stäbe abwechselnd herausgezogen. Wird das entstandene Konstrukt zu instabil, wird es in sich zusammenfallen. Durch das Wei- terführen der Handlung wird dieses Ergebnis provoziert. Wann genau der Moment sein wird, ist nicht klar vorhersagbar, genauso wenig wie der Ort, an dem die Ein- zelteile des Konstrukts nach Einsturz zum Erliegen kommen werden. Dies liegt in der Struktur des ‚Mikado Systems‘ selbst begründet.
Die Untersuchung der Entwicklungsbedingungen und der Genese von Systemen, also die Theorie der Selbstorganisation, ist der gemeinsame Nenner aller Sys- temtheorien.
1.1.2 Autopoiesis
Um diese Abgrenzung eines lebenden Systems bzw. Selbstorganisationsprozesses von seiner Umwelt verstehen zu können, lieferten die Biologen Humberto Maturana und Francisco Valera ein Konzept, das der Anwendung systemischer Denkpro- zesse einen Auftrieb verlieh. Die Theorie der Autopoiesis lässt sich anhand des da- mals gewählten Beispiels am einfachsten erläutern:
Ein Zellstoffwechsel unterliegt einem chemischen Prozess, in dem verschiedene In- teraktionen stattfinden, mit dem Ziel, zunächst eine Membran zu bilden, die das innere Geschehen von der Umwelt abgrenzt. Erst dann bildet sie sich im Inneren heraus.6 Ein autopoietisches System organisiert und erschafft sich eigenständig. Die Zelle grenzt sich ab und bleibt für einen Austausch geöffnet. „Was drinnen ist, ist drin, und was draußen ist, ist draußen. Die Grenze ist klar und eindeutig gezogen, und sie wird vom Körper durch seine Aktivität selbst aufrechterhalten – was natürlich nur geht, wenn die Umgebung das zulässt und es mit dem Leben vereinbar ist (denn es gibt auch Umwelten, die Lebensprozesse unmöglich machen).“7
Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind weittragend. Autopoietische Systeme, ob aus organischer, psychischer oder sozialer Perspektive, verhalten sich immer mit Bezug auf ihre aktuellen Strukturen und Prozesse in gewisser Weise so autonom, wie sie auch vielfältig sind.
Überträgt man diese Überlegung auf die Schule und ihre Mitglieder als autopoieti- sche Systeme, so wird der ,Nürnberger Trichter‘ in einer weiteren Dimension ad absurdum geführt, denn das Indoktrinieren von Wissensinhalten ist schlichtweg kaum möglich. Auch für den Religionsunterricht unterzeichnet diese Theorie, dass christliche Werte nur durch Impulse an das System herangetragen werden können. Die Autopoiesis verlangt eine so starke Störung des gewohnten Kontextes, dass es reagieren muss und der Schüler ins Nachdenken gerät. Wie stark der methodische Lernimpuls sein muss, der den Schüler anregt ist individuell ausgeprägt, aber es versteht sich, dass vielfältiger und mitreißender Religionsunterricht in einer ange-regten Lernatmosphäre eine größere Pertubation des Systems auslösen wird.
1.1.3 Synergetik
Beim Konzept der Synergetik werden die das System störenden Umwelteinflüsse in den psychischen und pädagogischen Kontext gerückt. Entscheidende „Kontrollpa- rameter“8 sind auf motivationaler und emotionaler Ebene anzusiedeln. Das Zusam- menspiel erfolgt in bestimmten Hierarchien, die sich von oben nach unten gliedern. „Das lässt sich in Schulklassen beobachten: Kommen Wiederholer in eine Klasse, stiftet dies für eine Weile Unruhe. Schließlich entscheidet es sich, ob die bisherigen Regeln Bestand haben oder ob durch die Neuen ein anderes Regelsystem in der Lerngruppe entsteht.“9 Die Theorie der Synergetik führt darüber hinaus eine weitere tragende Komponente von Systemen ein. Die „Zeitskalenhierarchie“10 präzisiert die unterschiedliche Dauer der Veränderung von Verhalten und Einstellungen, die sich bei einem großen System wie zum Beispiel der Gesellschaft in einem völlig anderen Umfang vollzieht als bei einer einzelnen Person. Werden diese Erkenntnisse auf die Schule und den Unterricht bezogen, beweist das auf eine Neues, dass gelingende Lehr- und Lernprozesse entscheidend von der Motivation und Stimmung der Ler- nenden abhängig ist. Außerdem trifft hier das indianische Sprichwort: Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht. Lernprozesse brauchen unterschied- lich viel Zeit, je nachdem wie intensiv der dahinter verborgene und zu vermittelnde Wissensgehalt ist.
1.1.4 Kybernetik erster Ordnung
Der Begriff der Kybernetik wurde maßgeblich von Norbert Wiener und seinem gleichnamigen Buch von 1948 geprägt. Das griechische Wort ‚kybernetes‘, zu Deutsch „Steuermann“, soll das Grundprinzip dieses Konzeptes verdeutlichen. Beim Steuern eines Bootes muss auf verschiedene Naturgewalten reagiert werden. Um sicher in einen Hafen steuern zu können, muss punktgenau navigiert werden. Drückt nun der Wind nach links, wird der Steuermann versuchen, diese Kursabwei- chung mittels Gegensteuern zu verhindern. Gerät er dabei zu weit nach rechts, ver- langt ihm die Situation eine weitere korrigierende Steuerradbewegung ab. Der Wind oder ein zu heftiges Bewegen der Steuerung als Ursache führt demnach zu einer Wirkung, die sich ihrerseits wieder zu einer Ursache wandelt. Auf diese Ursache wird wieder reagiert, was eine zirkuläre Kausalität passend umschreibt.11
Im Zentrum der Kybernetik steht die Idee der Rückkoppelung. Das Wort Feedback, heute fälschlicherweise als Rückmeldung bezeichnet, beschreibt im Grunde genau die auf eine Ursache erfolgende Handlung. Diese kann einerseits, wie in dem Bei- spiel, von negativer Natur sein, wenn der Steuermann versucht, dem Abdrehen entgegen zu wirken. In der Regel ist das Ziel eine Gleichgewichtswiederherstellung. Bei der positiven Rückkoppelung oder Feedback wird eine Handlung intensiviert, um einen stärkeren Effekt hervorzurufen. Die Unterscheidung dabei liegt in der richtigen Beschreibung und führt zu einem Konflikt der interpretierten Intention. Die Waffenaufrüstung in zwei Staaten zum Beispiel, die in Reaktion aufeinander erfolgt, kann beide Seiten bedienen. Einerseits versucht der Staat, durch eine negative Rückkoppelung und das ‚Auch-Aufrüsten‘ ein Gleichgewicht herzustellen. Andererseits liegt auch eine positive Form vor, da sich beide Staaten durch das Verstärken der Handlung immer weiter anspornen.12 Wiener wollte mithilfe seiner Kybernetik Prothesen entwickeln, die über mechanische Sensoren und Rückkoppelungspro- zesse fehlende Sinnimpulse ersetzen könnten. Skeptischer war er, wie er auch 13 Jahre später in seiner Neuauflage der Kybernetik zu bedenken gab, hinsichtlich der erfolgreichen Nutzung seiner Ergebnisse bei der Entwicklung von Robotern und Ma- schinen.13 Die Kybernetik erster Ordnung machte es möglich, eine zielorientierte Handlung zu beschreiben, und sorgte gleichsam für die Erkenntnis einer möglichen Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Maschine, die große Schlagzeilen und Dis- kussionen nach sich zog.
Gregory Bateson lieferte mit und nach Wiener einen entscheidenden Beitrag zur Kybernetik. Der leidenschaftliche Ethnologe nennt die im Beispiel erklärte positive Rückkoppelung ‚komplementäre Schismogenese‘ und fügt ihr die Ebene einer ‚sym- metrischen Schismogenese‘ hinzu. In diesem Fall geschieht das Feedback nicht aufgrund eines Disputs oder Wettkampfes, entscheidend ist vielmehr ein Dominanzbeziehungsweise Unterwerfungsverhältnis. Die „Double-bind-Theorie“, seine ele- mentare Forschungsarbeit, baut auf diesen Überlegungen auf. Dabei geht es vornehmlich um Kinder, die aufgrund von zweideutigen Kommunikationsvorgängen in ihrem Familiensystem pathologische Symptome einer Schizophrenie entwickeln.14 Die Studien über diese Theorie wurden zu seinem Lebenswerk und bekommen weltweite Beachtung. Da sich die Inhalte eher für die psychotherapeutische Praxis eignen, sollen sie an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.
1.1.5 Triviale und nichttriviale Maschinen (= Systeme)
Zunächst soll die Kausalität von Maschinen betrachtet werden. Der Kaffeevollauto- mat zum Beispiel folgt einem solchen Prinzip. Eine Ursache oder ein Input wie etwa das Knopfdrücken führt zu einem Output, in dem durch das Drücken ein Stromkreis geschlossen wird, der einen Input-Impuls an die Steuerung sendet. Am Ende dieser Input-Output-Mechanismen erhält der Verursacher das Output-Produkt Kaffee.15 „Die triviale Maschine ist ausgesprochen zuverlässig, ihre inneren Zustände bleiben stets dieselben, sie ist vergangenheitsunabhängig, synthetisch und analytisch be- stimmbar.“16
Die nichttriviale Maschine hingegen besitzt innere Zustände, deren Analyse in der Regel unmöglich ist. Der erwartete Output, der auf den gesetzten Input erfolgen soll, ist somit nicht vorhersagbar. Dabei spielen bei organischen Systemen Gefühl und Gedanken und Hormone eine Rolle, aber auch unbelebte Systeme haben eine Ge- schichte und Vergangenheit.17 Heinz von Foerster, der diese Unterscheidung defi- niert hat, meint dazu: „[A]uch das teuerste Automobil geht irgendwann kaputt – und zeigt somit ein geschichtsabhängiges Verhalten. Die ganze Welt ist, so behaupte ich, eine nichttriviale Maschine.“18
1.1.6 Die Kybernetik der Kybernetik oder die Kybernetik zweiter Ordnung
Beobachtet ein belebtes System ein anderes belebtes System in seiner Nichttrivia- lität, darf nicht verkannt werden, dass auch die Beobachtung keine mechanische und streng objektive Haltung einnehmen kann. Heinz von Foerster löste mit diesen Gedanken die bisherige Sprache der Kybernetik ab und rückte die Selbstbeschrei- bung des Beobachters in seinen Ergebnissen in das Spannungsfeld. Der Betrachter hat bei seiner Betrachtungshandlung auch gewisse Ziele im Auge, und seinen Be- obachtungen liegen verschiedene Präkonzepte zu Grunde, die er in die Beobach- tung unweigerlich miteinbeziehen wird. Er unterliegt einer gewissen Selbstbezüg- lichkeit. Durch diese Annahme wird die Systemtheorie zur ‚Epistemologie‘ und somit zu einer Forschung erkenntnistheoretischer Grundlagen nichttrivialer Maschinen.19 Die Kybernetik zweiter Ordnung stellt etliche logische Denkprozesse in paradoxe Zusammenhänge und eröffnet eine Spirale an komplexen selbst- und fremdreflexi- ven Möglichkeiten auf metakognitiven Ebenen.
1.1.7 Konstruktivismus
Jean Piaget nahm bei seiner Forschung mit und an Kindern die Beobachterrolle ein und handelte somit im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung, während die Kinder in diesem Zusammenhang der der ersten Ordnung zuzuteilen wären. Er fand her- aus, dass sich das kognitive Schema durch Umweltimpulse verändert, und trennt diese in zwei Wirkungsmechanismen. Bei der Assimilation wertet das System einen Reiz als bekannt und reagiert mit einem bereits entwickelten Muster. Findet eine starke Irritation statt, reagiert das autopoietische System mit Akkommodation. Es findet eine Veränderung im Inneren statt, die zu einer neuen Reaktion führen kann. Das System und die Umwelt beeinflussen sich somit gegenseitig und reziprok. Piagets Theorie wird in der Psychologie dem Konstruktivismus zugeordnet.20
Der ‚radikale‘ und ‚soziale‘ Konstruktivismus können nicht synonym erklärt werden. Gemein ist ihnen die psychologisch-philosophisch-erkenntnistheoretische Grund- lage, die annimmt, dass individuelle Weltbilder durch Input-Output-Relationen, die ein Individuum durch sein Interdependenzverhältnis mit der Umwelt durchläuft, ge- formt und aktiv konstruiert werden.
Ein Beobachter zweiter Ordnung wird also einen Sachverhalt nicht nur sensorisch aufnehmen, sondern die Fakten interpretieren und bewerten. Diese Konstruktion umschließt drei Dimensionen des Phänomens: Es wird beschrieben, erklärt und anschließend bewertet, und alle drei Vorgänge sind abhängig voneinander.
Das vordergründige Interesse eines autopoietischen Systems gilt dem eigenen Überleben, wodurch alles Beobachtete zunächst auf Nützlichkeit und nicht auf dessen Wahrheitsgehalt hin bewertet wird. Anstelle einer objektiven Wahrheit tritt die Viabilität21 des Wahrgenommenen. Dabei werden zwei Seiten der Wirklichkeit unterschieden: Die sogenannte härtere Wirklichkeit bilden unbelebte Systeme ab, wie ein Stuhl oder Tisch. Bei den dementsprechend weicheren Wirklichkeiten hingegen handelt es sich um dynamische und reziproke Wirklichkeiten im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung.22
1.1.8 Soziale Systeme
Ein System besteht zunächst aus einer sich abgrenzenden Ganzheit. Wird es nun in seine Bestandteile zerlegt, kommen Einzelheiten zum Vorschein, die selbst wie- derum in ihre Bestandteile zerlegt werden können. Dies kann nach einem Bottom up- oder Top down-Verfahren erfolgen. Betrachtet man zum Beispiel einen Baum, so sind seine Bestandteile zunächst der Stamm, die Äste und Blätter. Die Äste ga- beln sich in Zweige und münden in Blattenden und die Blätter. Diese wiederum be- stehen aus Blattadern und so weiter. Andersherum kann zum Beispiel bei einer Blattzelle begonnen und von ihr aus bis zum Gesamtsystem rückläufig analysiert werden. Bei sozialen Systemen treten bei Anwendung dieser Theorie, also beim Versuch, das Teilchen vom Ganzen zu unterscheiden, einige Schwierigkeiten auf.
Die menschliche Gesellschaft besteht aus sozialen Systemen, wie etwa Ländern, Institutionen aber auch Familien. Naheliegend wäre die schlichte Annahme, soziale Systeme bestünden im Grunde aus Menschen. Bei der Analyse eines Phänomens würde also die Input-Output-Relation der Beteiligten in der Situation Beachtung fin- den, aber das Ganze in seiner Komplexität könnte nicht erfasst werden.
Niklas Luhmann widerspricht dieser Annahme und entwickelte ein alternatives Modell. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei sozialen Systemen um Kommunikationen. Dabei ist es wichtig, die Kommunikation nicht im Sinne einer Handlung zu deuten, denn diese kann auch individuell erfolgen. Eine Kommunikation kann ent- stehen, wenn es mindestens einen weiteren Akteur gibt.23 Im Sinne der Autopoiesis sind Kommunikationen die Selbstorganisationsstrukturen sozialer Systeme. Sie sor- gen für ein Fortbestehen des Systems, ohne sie löst es sich auf. Jede Organisation entwickelt spezifische Sprachcodes, die bei einer Koppelung zwischen unterschied- lichen Systemen zunächst decodiert werden müssen. Ein einleuchtendes Beispiel liefert dafür das negativ konnotierte Wort ‚Anwaltsdeutsch‘. Das Lesen eines Doku- mentes aus dem juristischen Bereich kann einer fachfremden Person zunächst ei- nige Schwierigkeiten bereiten. „Ergeben sich dabei feste, dauerhafte Muster der Zusammenarbeit, spricht der systemische Ansatz von ‚struktureller Koppelung‘: Die Interaktion autonomer Systeme erhält einen stabilen, rekursiven Zustand auf- recht.“24
Kommunikation offenbart sich maßgeblich in der Sozial-, Sach- und Zeitdimension. Die ersten beiden Dimensionen entsprechen in etwa Watzlawicks bekanntem „In- haltsund Beziehungsaspekt“. Die Zeitdimension meint dabei die Re- und Irreversibilität, die zu Veränderungen des Konstruierten führen.25
Bei allen Kommunikationsprozessen bleibt es in den Worten Foersters und im Sinne des Konstruktivismus festzuhalten: „Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“26
Mit Blick auf die Bedeutung der Systemtheorie für die Religionspädagogik ist in die- sem Zusammenhang bereits darauf hinzuweisen, dass Kommunikation in jüdischchristlicher Perspektive ein wesentliches Merkmal des Menschen als Gemeinschaftswesen darstellt: Der Mensch ist auf Kommunikation, auf Sich-Mitteilen hin angelegt und verdankt sich in seiner Existenz selbst dem Angesprochenwerden durch seinen Schöpfer.27
1.2 Umsetzung in der Schule
1.2.1 Schule – ein soziales System
Die Schule aus der systemischen Perspektive beinhaltet weitere Subsysteme wie zum Beispiel Jahrgänge, Klassen, Cliquen, Einzelschüler, die in sich wiederum in weitere Bestandteile aufgegliedert werden könnten. Alle Systeme verfügen über spezifische sich wiederholende Abläufe und interne Muster, die sie kennzeichnen. Anders gesprochen entwickelt sich eine spezifische Kultur der Werte und Normen für jedes Konstrukt. Bei organischen Systemen dient diese Kultur der Selbstorgani- sation und Selbsterhaltung. Lehrer und Pädagogen als essentieller Bestandteil der nichttrivialen Maschine Schule entstammen verschiedenen ‚Heimatsystemen‘. Die Herkunftsfamilie hat bedeutenden Einfluss auf das Wirklichkeitsverständnis, die Haltung und die Wahrnehmung der einzelnen Kommunizierenden in einem Sozial- gefüge. „Bei Lehrern entspricht dies häufig der Mittelschicht, sodass sie Lebensstile und Problembewältigungsmuster armer Familien mitunter abwerten.“29
[...]
1 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personenbe- zeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichbe- rechtigt ein.
2 Beispiele, die auch in dieser Arbeit herangezogen werden: Hubrig et al (2014), Hubrig et al (2015), Mosell (2016) und Scheef (2009) beschäftigen sich mit der systemischen Pädagogik im Kontext Schule und Unter- richt.
3 Simon (2015) 16.
4 In den neueren systemischen Ansätzen spricht man von Umwelten.
5 Simon (2015) 30.
6 Vgl. a.a.O. 34.
7 Ebd.
8 Hubrig et al (2015) 34.
9 A.a.O. 35.
10 Ebd.
11 Vgl. Foerster/Pörksen (2008) 107.
12 Vgl. Lutterer (2002) 55f.
13 A.a.O. 56f.
14 Vgl. a.a.O. 60-65.
15 Vgl. Simon (2015) 35.
16 Foerster/Pörksen (2008) 55.
17 Vgl. Simon (2015) 37.
18 Foerster/Pörksen (2008) 57.
19 Vgl. Simon (2015) 42.
20 Vgl. a.a.O. 68f.
21 Das Konzept ist auf Ernst von Glaserfelder zurück zu führen (vgl. Glaserfelder (1985) 1-26). Das Wort Via- bilität stammt von dem Wort viabel (= gangbar, passend) ab.
22 Vgl. Simon (2015) 68-78.
23 Vgl. a.a.O. 91-93.
24 Vgl. Mosell (2016) 18.
25 Vgl. a.a.O. 99.
26 Foerster/Pörksen (2008), 100.
27 Vgl. dazu z.B. die biblischen Schöpfungsberichte in Genesis, Matthäus 4,4 („Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes geht.“), Römerbrief 4,17 (Gott, […] der lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei.“) etc.
29 Mosell (2016) 19.
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- Ines Rottammer (Author), 2017, Systemische Perspektiven auf Lehrerbildung und insbesondere Religionslehrer, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/453061
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