Von allen im Seminar behandelten Werken Max Frischs scheint "Der Mensch erscheint im Holozän“ das am schwierigsten zu deutende zu sein. Es ist sein Alterswerk, in das er noch einmal alle, in seiner Vergangenheit als Autor entwickelten Stile gepackt hat. Die Kritik blieb sehr gespalten - wohl eben wegen diesem schwierigen Zugang und weil manch’ Kritiker darin wohl nur die Biographie Frischs selbst sah, der ja tatsächlich ein Haus in den Tessiner Bergen hatte. In dieser Arbeit will ich versuchen die Erzählung mit Hilfe der Rezensenten, die sich am ausführlichsten mit ihr befasst haben zu deuten und will dabei besonders auf die Haltung des Protagonisten eingehen und die Frage untersuchen inwiefern Frischs Erzählung ein Plädoyer für oder gegen den alternden Menschen ist. Geht er im Alter völlig in der Isolation auf oder gelangt er zu einer besonderen Erkenntnis, die man erst im Alter macht?
Da die Sekundärliteratur dafür verschiedene Ansätze liefert und auch das Buch selbst mehrdeutig ist, wird es mitunter nicht bei einer Theorie bleiben.
Natürlich ist es verwunderlich, dass ein Text so verschiedene Lesarten erlaubt, aber meiner Meinung nach hat es Max Frisch eben darauf angelegt. Er sagt möglichst wenig, schreibt in vielen Absätzen und deutet eigentlich nur an. Damit verüberantwortet er die Richtung des Geschehens völlig dem Leser. Es ist also kein Wunder, dass die Kritik teilweise so abweisend reagierte. Hier ist der Leser gefragt.
Gliederung
1. Einleitung
2. Inhaltsangabe
3. Die Erzählsituation
3.1. Der auktoriale Erzähler
3.1.1. Der personale Erzähler
3.1.2. Die Doppelperspektive
3.1.3. Die Auflösung der Doppelperspektive
4. Die Landschaft des Herrn Geiser
5. Sprachliche Mittel
5.1. Die Negation
5.2. Die Aufzählungen
5.3. Das Symbol der Pagode
6. Entfremdung
6.1. Versuch einer Flucht über den Pass
6.2. Die Erinnerung an die Matterhornbesteigung
6.2.1. Der resignierte Mensch
6.2.2. Der erfüllte Mensch
6.2.3. Die Einsicht
6.2.3.1. Romantische Einschübe
7. Humanismus und Hoffnung
7.1. Entfremdung aus Verweigerung
7.2. Entfremdung aus Hoffnung
8. Der Giacometti-Effekt
9. Schluss
Literatur
Erklärung
1. Einleitung
Von allen im Seminar behandelten Werken Max Frischs scheint "Der Mensch erscheint im Holozän“ das am schwierigsten zu deutende zu sein. Es ist sein Alterswerk, in das er noch einmal alle, in seiner Vergangenheit als Autor entwickelten Stile gepackt hat.
Die Kritik blieb sehr gespalten – wohl eben wegen diesem schwierigen Zugang und weil manch’ Kritiker darin wohl nur die Biographie Frischs selbst sah, der ja tatsächlich ein Haus in den Tessiner Bergen hatte.
In dieser Arbeit will ich versuchen die Erzählung mit Hilfe der Rezensenten, die sich am ausführlichsten mit ihr befasst haben zu deuten und will dabei besonders auf die Haltung des Protagonisten eingehen und die Frage untersuchen inwiefern Frischs Erzählung ein Plädoyer für oder gegen den alternden Menschen ist. Geht er im Alter völlig in der Isolation auf oder gelangt er zu einer besonderen Erkenntnis, die man erst im Alter macht?
Da die Sekundärliteratur dafür verschiedene Ansätze liefert und auch das Buch selbst mehrdeutig ist, wird es mitunter nicht bei einer Theorie bleiben.
Natürlich ist es verwunderlich, dass ein Text so verschiedene Lesarten erlaubt, aber meiner Meinung nach hat es Max Frisch eben darauf angelegt. Er sagt möglichst wenig, schreibt in vielen Absätzen und deutet eigentlich nur an. Damit verüberantwortet er die Richtung des Geschehens völlig dem Leser. Es ist also kein Wunder, dass die Kritik teilweise so abweisend reagierte. Hier ist der Leser gefragt.
2. Inhaltsangabe
Herr Geiser, der in einem Tal der Tessiner Berge, in der Schweiz lebt findet sich selbst eines Tages allein sintflutartigen Regenfällen ausgesetzt. In seinem Haus beobachtet er das Unwetter, zieht seine Schlüsse über die Gefahr eines rutschenden Hanges aus Betrachtungen der übrigen Einwohner die er kurz trifft. Diese als eher objektiv einzuschätzenden Meinungen spielen aber keine Rolle mehr als Herr Geiser immer mehr zu Assoziationen gelangt, die er aus Lexikonartikeln gewinnt und ihn eher an eine gefährliche todbringende Sintflut als an einen gewöhnlichen Regenfall glauben lassen. Seiner eigenen Existenz, ja seines eigenen Fortbestehens immer ungewisser werdend, fängt er an dieses Lexikonwissen an einer Art riesigen Pinwand, die mal seine Wohnzimmerwand war, zu sammeln. Doch damit nicht genug, er muss der Angst vor der Bedeutungslosigkeit entfliehen, indem er eine waghalsige und für sein Alter viel zu beschwerliche Passbesteigung unternimmt, deren letztendliches Ziel – Basel zu erreichen und dem todbringenden Tal zu entkommen - scheitert. Seine Tochter Corinne findet ihren Vater letztendlich verwirrt und verletzt vor. Sein Schlaganfall bildet das Ende eines Kampfes, den er letzten Endes gegen sich selbst geführt hat.
3. Die Erzählsituation
3.1. Der auktoriale Erzähler
Die Er-Form „Herr Geiser hat Zeit“[1] suggeriert einen auktorialen Erzähler. Er ist aber nicht allwissend. Er weiß nur das, was der Protagonist selbst weiß. Selbst über den Schlaganfall berichtet er nicht, sondern präsentiert nur, was Herrn Geiser nach und nach bewusst wird.
3.1.1. Der personale Erzähler
Der vermeintlich auktoriale Erzähler ist also nur ein getarnter Ich-Erzähler. Er wird eingesetzt um die Gedächtnisschwäche und persönliche Krise des Protagonisten glaubwürdig zu schildern.
Dabei gewinnt er keinen individuellen Zug, sondern berichtet neutral feststellend. Wenn Wertungen ausgesprochen werden, dann solche, die Herrn Geisers Sichtweise entsprechen:
„Es ist ein malerisches Tal – sonst kämen nicht Deutsche und Holländer hierher Sommer für Sommer“.[2]
Für die These eines rein personalen Erzählers spricht die Tatsache, dass der sich sozusagen selbst immer wieder verobjektiverende Herr Geiser damit einen Rettungsanker schaffen will.
Man kann diesen als Akt der Selbstvergewisserung als Angst vor der eigenen Unbedeutsamkeit lesen. Denn wenn Herr Geiser sich ständig des Fortschreitens der Zeit vergewissert[3], vergewissert er sich auch gleichzeitig seines eigenen Fortbestehens.
So wie Herr Geiser sein Tal als ein ursprüngliches Tal betrachtet, mit Orten, denen man nicht ansehen kann, aus welchem Zeitalter sie stammen[4], betrachtet er die Zeit als bedeutungslos. Dann muss auch der Mensch – und er sich selbst – bedeutungslos vorkommen, was ihm Angst macht.
3.1.2. Die Doppelperspektive
Als Gegenentwurf zur These eines rein personalen Erzählers dient die These der Doppelperspektive.
Durch die ganze Erzählung hinweg zieht sich einerseits die Stimme Herrn Geisers in einem inneren Monolog und andererseits der Erzähler, der Gedachtes verallgemeinert und verobjektiviert:
“Hingegen kann Herr Geiser sich nicht erinnern, wie der Goldene Schnitt (...) herzustellen ist mit Zirkel und Winkel. Natürlich hat man das einmal gewußt -.“[5]
Michael Butler macht auf diese Doppelperspektive der Erzählung aufmerksam:
„Auf diese Weise führt Frisch die charakteristische Doppeltperspektive der Erzählung ein, wobei die Optik eines abstrakten “Erzählers“ die von Herrn Geiser humorvoll-ironisch begleitet und ständig objektiviert.“[6].
3.1.3. Die Auflösung der Doppelperspektive
Dabei bleibt es wie so oft dem Leser überlassen zu entscheiden, ob es diesen objektiven Erzähler überhaupt gibt, oder ob er auch zur Gedankenwelt des Herrn Geisers gehört, der, einem Rettungsanker gleich, alles zu objektivieren versucht, um nicht an der eigenen Angst zu ersticken.
Gegen Ende der Erzählung scheinen beide Entwürfe ineinander zu verschwimmen, da es nun tatsächlich nur noch einen auktorialen Erzähler gibt, der sich erst ganz zum Schluss durchsetzt. Da heißt es:
„Das Dorf steht unversehrt.“[7].
Und als Widerholung:
„Bund und Kanton tun alles, damit das Tal nicht ausstirbt; Post-Bus drei Mal täglich.“[8].
Der auktoriale Erzähler ersetzt hier vollständig die Doppelperspektive der Erzählung und erweckt den Eindruck als wäre Herr Geiser überlebt worden. Aber er tut noch mehr. Denn wenn Herr Geiser so sang-, und klanglos untergeht, dann liegt eine Analogie zur Menschheit nahe. Denn die eigentliche Angst liegt nicht allein darin selbst bedeutungslos zu sein, sondern darin, dass die gesamte Menschheit, und zur Darstellung dessen diente der Lexikonartikel über den Tyrannosaurus Rex[9], unbedeutend sein könnte, was natürlich die Angst vor der eigenen Unbedeutsamkeit nur noch verschärft.
4. Die Landschaft des Herrn Geiser
Michael Butler sprach bereits von der Geologisierung der Landschaft in unserer Erzählung. Er beschreibt, dass der Erzähler die Ängste des Herrn Geiser auf dessen Außenwelt projizieren lässt[10].
Da ist das Bildnis von Elsbeth an der Wand, an der Platz geschaffen werden muss für „weitere Zettel“[11]. Herr Geiser sieht keine andere Möglichkeit als das Bild mit diesen zu ersetzen. Die Zettelwand kann als Herrn Geisers Gedächtnis, das Bild als eine Erinnerung gelesen werden, die ausgetauscht werden muss, weil die Kapazitäten bzw. die Denkleistungen in Herrn Geisers Gehirn, schlichtweg nicht mehr ausreichen. Gleich auf diese Passage folgt im Buch der Lexikoneintrag über die Gedächtnisschwäche[12] - ein eindeutiger Hinweis.
Das Zitat
„Erosion ist ein langsamer Vorgang.“[13]
beschreibt nach Rossbacher die Analogie zwischen Herrn Geisers Gedächtnisschwäche mit der Erosion als eine „Abtragung und Auswaschung der Person“[14].
5. Sprachliche Mittel
5.1. Die Negation
„Alles in allem kein totes Tal.“[15]
Rossbacher beschreibt in seinem Aufsatz die Negation als Textmerkmal. Herr Geiser fühlt sich demnach vom Negierten bedroht. Wenn die Negation aber in ihr Gegenteil umschlägt, wenn also das Negierte Wahrheit wird, kann es sich nicht um ein lebendiges Tal handeln.[16] Zumindest heißt das, dass das Tal am (Aus)Sterben ist. Das ist der wesentliche Hinweis. Es kann sich dann nur auf Herrn Geiser selbst beziehen und unterstreicht seine Angst vor dem Tod und der eigenen Bedeutungslosigkeit.
5.2. Die Aufzählungen
Die Aufzählung der Donner-, und Regensarten[17], der Vorräte im Haus[18] sind Beruhigungsverfahren, die das Bedrohliche entschärfen sollen und ein Sicherheitsgefühl verschaffen. In Wirklichkeit aber unterstreichen sie für den Leser nur seine Angst.
5.3. Das Symbol der Pagode
Was unternimmt Herr Geiser gegen diese Angst? Einen Hinweis dafür liefert bereits die erste Seite, auf der Herr Geiser „eine Pagode (...) aus Knäckebrot“ bauen will.[19] Mit diesem Wunsch steht er im Zentrum des Geschehens - alles übrige ist die Folge daraus.
6. Entfremdung
Eine Pagode ist ein chinesisches Bauwerk, das zugleich Grabhügel und eine Ansammlung wertvoller buddhistischer Schriften ist[20] und dient in unserer Erzählung dafür Herrn Geisers Weltordnungsstreben zu symbolisieren, das durch die immer wieder einstürzende Pagode, immer wieder scheitert. Es ist auffällig, dass der Bau dieser Pagode, also der Versuch sich mittels Wissen unsterblich zu machen, da dieses den eigenen Tod überdauert, für Herrn Geiser von Anfang an mit Problemen behaftet ist: Der Feldstecher ist nutzlos im Nebel[21], die Zettel rollen sich an der Wand[22], das Lexikonwissen muss ergänzt werden[23].
Doch Herr Geiser leistet Widerstand, indem er sich von den ihn umgebenden Menschen entfremdet, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dieser Widerstand und das häufige Scheitern seiner Bemühungen deuten an, dass er einen Fehler macht und sich damit in die falsche Richtung begibt.
Herr Geiser entfremdet sich. Er distanziert sich von seiner Umwelt und scheut den Kontakt zu seinen Mitmenschen, indem er, trotzdem er das Klingeln an der Tür hört’, nicht darauf reagiert.[24] Überhaupt verfällt er in eine regelrechte Beziehungslosigkeit zu den Dingen um ihn herum: Aus dem streunendem „Hund“[25] wird in einer Steigerung ein „Köter“[26], er wirft mit einer Tasse nach vermutlich besorgten Mitmenschen, die nach ihm sehen wollen und setzt sich so gegen sie zur Wehr.[27]
6.1. Versuch einer Flucht über den Pass
Herr Geisers selbstgewählte Isolation zwingt ihn letztendlich dazu das Haus zu verlassen, da er sich durch das gefühlte Nicht-Vergehen der Zeit bedroht fühlt:
„Als Herr Geiser wieder zum Fenster geht, um an den langsam gleitenden Tropfen zu sehen, daß die Zeit nicht stehen bleibt ... zeigt sie sieben Minuten nach sechs.“[28].
Den letzten großen Zug zur Erfüllung dieses Planes stellt dieser Fluchtversuch dar. Heinz F. Schafroth unterstützt diese Lesart:
„Darum einerseits die unsinnige Passwanderung und das Bestehen auf der Erinnerung an die beinahe tödlich verlaufene Matterhornbesteigung vor fünfzig Jahren – beides ist die absurde Auflehnung gegen das Vergehen und Ablaufen der eigenen Zeit und Geschichte.“[29].
Herr Geiser beobachtet regelrecht das Vergehen der Zeit, schreibt ein Tage-, oder besser Stundenbuch[30], um sich des Fortganges der Zeit, und damit seiner eigenen Existenz und Bedeutung, zu vergewissern. Da er das Vergehen der selbigen mit einem Mal nicht mehr wahrnimmt[31], will er ausbrechen.
Er muss überleben. Vor dem Abschnitt über die Passbesteigung heißt es in einem Lexikonausschnitt über die Erdgeschichte:
„Das organische Leben, vor etwa 1,5 Milliarden Jahren entstanden, aber erst in Gesteinen nachweisbar, die etwa 1 Milliarde Jahre alt sind, strebt höheren Stufen, reicherer Formenentwicklung und höherer Qualität zu. Dabei spielt die Umgestaltung des Erdbildes mit; durch sie werden Pflanzen und Tiere zur Anpassung an neue Lebensverhältnisse, zur Wanderung oder zum Untergang gezwungen.“[32].
Hier wird deutlich, dass Herr Geiser nur die Wahl zwischen Flucht oder Sterben hat– und damit endgültig in Vergessenheit geraten wird. Das ist es, was ihm Angst macht, was ihn so unruhig werden lässt. Trotz aller Widerstände, die sich auftun, der einsetzende Regen und Nebel, kämpft er weiter gegen die Angst an:
„Ein Weg ist ein Weg auch im Nebel.“[33].
6.2. Die Erinnerung an die Matterhornbesteigung
Während der Leser häufig auf Herrn Geisers Vergesslichkeit hingewiesen wird:
„Heute ist Mittwoch. (Oder Donnerstag?)“[34] “Wie heißen die drei Enkelkinder?“[35]
scheint er sich an jede Einzelheit dieser gefährlichen Bergtour zu erinnern. Sie stellt den Höhepunkt und gleichzeitig das Zentrum der Erzählung dar, in der er sich bewusst wird, dass seine bisherigen Bestrebungen, der Versuch der Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens zu entgehen, indem er sich an das im Lexikon aufgespeicherte Wissen klammert und es sozusagen festzementiert, sinnlos waren und es vernünftiger gewesen wäre den Kontakt mit den Mitmenschen zu suchen um darin Bestätigung und Unsterblichkeit zu finden.
Aber möglicherweise hat Herr Geiser genau das geschafft – zumindest einmal im Leben war er auf jemanden’s Hilfe angewiesen. Die Zuneigung seines Bruder hat sich darin gezeigt, dass er ihn aus der Bergspalte gerettet hat. Darin liegt auch ein Akt der gegenseitigen Anerkennung.
Auch bei Michael Butler heißt es:
„Nicht das aufgespeicherte „Wissen“ in Lexika und Geschichtsbüchern also macht das Wesentliche des humanen Lebens aus, sondern einzig und allein die zwischenmenschlichen Beziehungen “[36].
Hat er Geiser sein Ziel also erreicht? Kann er nun ohne Isolation und Entfremdung seine letzten Tage genießen? Er sagt selbst:
„Das bleibt im Gedächtnis.“[37].
Frisch nutzt hier andeutende Paraphrasen, die Ungesagtes offen lassen und dem Leser wieder einmal Raum für Interpretation lassen.[38] Genau dieser Stil ist es, der es so schwierig macht seine Erzählung zu deuten. Sie ist mehrdeutig.
6.2.1. Der resignierte Mensch
Denn einerseits könnte es heißen, dass diese Erinnerung nur in Herrn Geisers Gedächtnis geblieben ist und die Erkenntnis zu spät in ihm aufgegangen ist.
Zwischendurch überkommen ihm nämlich selbst Zweifel an seinem Plan, indem er sich in einem inneren Monolog fragt
„(...) was er sich vom Wissen überhaupt verspricht.“[39].
Außerdem heißt es gegen Ende:
„Es wird nie eine Pagode – Das weiß Herr Geiser.“[40].
6.2.2. Der erfüllte Mensch
Vielleicht aber soll es auch heißen, dass dieses Erlebnis Geisers eigenen Tod überlebt und er sich damit tatsächlich unsterblich gemacht hat, da mit „Gedächtnis“ nicht nur sein eigenes, sondern auch das seines Bruders gemeint sein könnte.
Aber es scheint fraglich, ob sich diese Erkenntnis bei Herrn Geiser wirklich vollkommen durchgesetzt hat. Es ist seine eigene Tochter, die sich besorgt, unter Tränen und mit Hast um ihn kümmert, während er sich ihr gegenüber noch immer entfremdet fühlt:
„Warum redet sie wie mit einem Kind?“[41].
6.2.3. Die Einsicht
Trotz verschiedener möglichen Lesarten kann zweifelsfrei festgestellt werden, dass sich gegen Ende der Erzählung eine Einsicht in Herrn Geiser durchsetzt. Verfolgt man eher die Theorie des „resignierten Menschen“, muss man zugeben, dass Herr Geiser allmählich Zweifel an der Durchsetzbarkeit und dem Sinn seines Planes kommen.
Verfolgt man die Theorie des „erfüllten Menschen“ liegt die Einsicht der vernünftigeren Verhaltensweise in Herrn Geisers Verhalten gegenüber seiner Tochter Corinne.
6.2.3.1. Romantische Einschübe
Die Lesart des in eine Isolation und Entfremdung gedrängten Herrn Geisers, der erst spät zur Einsicht kommt, wird noch einmal durch die romantischen Einschübe in der Erinnerung an die Matterhorn-Besteigung unterstütz, später aber wieder relativiert:
Die Zacken und Türme sind „gelb wie Bernstein“.[42] “Viel war vom Gipfel aus nicht zu sehen. Dann und wann ein Wolkenloch: Blick auf öde Moränen oder auf die schmutzige Zunge eines Gletschers, anderswo eine grüne Alpwiese in der Sonne. (...) ein kleiner Tintensee mit Sonnenglitzer, daneben etwas wie weiße Maden, vermutlich Kühe -.“[43].
Im letzten Zitat mischt sich Unruhe und Unbehagen („Blick auf öde Moränen oder auf die schmutzige Zunge eines Gletschers ... ein kleiner Tintensee ... daneben etwas wie weiße Maden ... .“[44] ) in die romantische Szene, als ob sie ihr wahres Gesicht zeigt und alle Beschönigungen verfliegen.
Die romantische Stimmung und die Deutung eines Herrn Geisers, der sich der Bedeutung wirklicher Werte im Leben bewusst geworden ist, wird damit wieder relativiert. Es scheint als empfände Geiser die Landschaft als “faul“ bzw. als eine Täuschung, die er nicht recht glauben mag und nicht vertraut. Dem entspricht auch folgendes Zitat an einer anderen Stelle:
„Was aus der Ferne wie eine grüne Oase erscheint, meistens ist es Moor.“[45].
Geiser fehlt Vertrauen – Vertrauen in die Sicherheit einer Spezies, die es geschafft hat, die Evolution zu besiegen. Er glaubt nicht an den Fortbestand, sondern an den Stillstand der Dinge. An den eigenen Untergang und den der anderen.
7. Humanismus und Hoffnung
7.1. Entfremdung aus Verweigerung
Heinz F. Schafroth bezeichnet das bisher als „Entfremdung“ konstatierte als “Verweigerung“ – Verweigerung des Protagonisten vor den anderen und Verweigerung des Autors vor dem Leser.[46]
Aber vor was wird sich hier verweigert? Ist es die Preisgabe des Menschen, Herrn Geisers selbst, die er fürchtet? Würde mit dieser Preisgabe der Weg in die eigene Bedeutungslosigkeit geebnet werden? Bereits die Figur Stiller in "Mein Name sei Gantenbein“ probierte „Geschichten an wie Kleider“[47] um sich jeglicher Definition, allen Vorurteilen und Kategorisierungen zu verweigern. Als Gantenbein nahm er sogar eine andere Identität dafür an.
Herr Geiser ist also nicht mehr als ein weitergedachter Stiller, der seine Verweigerung bis in die Selbstaufgabe treibt.[48] Seine letzten Tage werden zum Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit, da die Evolution ihn notwendiger Weise eines Tages überwinden wird.
7.2. Entfremdung aus Hoffnung
Schafroth hingegen findet in Adornos Satz „Hoffnung ist am ehesten bei den Trostlosen“[49] eine andere Erklärung für diese Entfremdungs-These:
„Und Herrn Geisers Angst, daß „das Gelände“ nicht mehr gesichert sei „in diesen Tagen“, wäre dann der Liebe zur Erde ähnlich und Max’ Traum von Auflösung, Zersetzung und Respektlosigkeit entspränge eben gerade dem Respekt vor dem Menschen, der Menschenliebe. Und die Erzählung (...) wäre dann der verschwiegene, abweisende Ausdruck ihrer [der Protagonisten aus "Der Mensch erscheint im Holozän“ und "Max“] eigenen Menschen-, und Erdenliebe“.[50].
Auch für diese Deutung gibt es Hinweise im Text selbst. Mit der Erkenntnis, dass es doch die zwischenmenschlichen Beziehungen sind, die im Leben zählen und den Menschen auf gewisse Weise unsterblich machen, kommt auch Herrn Geisers Einsicht über seine wahren Gefühle gegenüber seinen Kindern zum Vorschein:
„Klaus ist ein guter Bruder gewesen. Und Corinne eine liebe Tochter.“[51].
8. Der Giacometti-Effekt
Karlheinz Rossbacher liefert in seinem Aufsatz gleichzeitig eine Erklärung für die Kargheit der Sprache Frischs, die sich selbst immer wieder relativiert und dem Leser Spielraum für Gedanken gibt und Herrn Geisers verweigerndes Verhalten. Er zeigt, dass die Erzählung der „Opera“, einer Skulptur von Alberto Giacometti, ähnlich ist:
„Je schlanker die Figur, um so mehr Raum ergibt sich zwischen ihr und andern Figuren, um so mehr Leben.“[52].
Damit hat er wohl recht. Denn auch wenn eine Skulptur von Giacometti beinahe reglos und mager im Raum steht und uns offensichtlich gar nichts mitteilen will, tut sie das gerade dadurch. Ihre Schlankheit könnte man als Rückzug und Angst aufgrund einer Beschränkung ihres eigenen Raumes deuten. Und ähnlich ist es auch mit Herrn Geiser. Auch sein Rückzug vor den Menschen hat einen Grund: Angst. Diese Angst wird auch im Text nur indirekt über die Landschaft dargestellt. Dem Leser aber drückt sich diese Tatsache als Verweigerung aus.
Auch wer nicht kommuniziert kommuniziert. Watzlawicks Metakommunikatives Axiom besagt, dass man nicht nicht kommunizieren kann.[53] Ein Schweigen ist eine Abwehrhaltung und teilt sich auch als solche mit.
9. Schluss
Aus dem bisher behandeltem ergibt sich die Theorie, die besagt, dass Herr Geisers letzte Tage daraus bestehen gegen den eigenen Tod und die drohende Bedeutungslosigkeit anzukämpfen. Noch vor dem Tod gelangt er zu der Einsicht mit den bisherigen Bemühungen des Baus einer “Pagode“ etwas falsch gemacht zu haben. Fraglich ist nur was für einen Stellenwert diese Erkenntnis für ihn, so kurz vor seinem Tod, hat. Diese kann nämlich einerseits einem Menschen zugeschrieben werden, der etwas aus ihr gelernt hat und dies auch nach außen hin zeigt, andererseits einem Menschen, der resigniert damit leben muss, seine Kräfte verschwendet zu haben.
Es scheint als könne der Text sich nicht festlegen, was wirklich in Herrn Geiser vorgeht, ob er der senile, kautzige alte Mann ist, oder ob er in seinen letzten Tagen doch noch zu sich selbst findet. Die Hinweise, die der Text nach der Erinnerung an die Matterhornbesteigung und mit Corinnes Ankunft liefert, sind widersprüchlich. Denn einerseits gesteht Herr Geiser im obigen Zitat die Liebe zu seiner Tochter ein, der Verdacht der Entfremdung bleibt dem Leser allerdings in Geisers realem Verhalten seiner Tochter gegenüber erhalten:
„Warum redet sie wie mit einem Kind?“[54].
Durch das Schweigen auf ihre Fragen
„Was Corinne wissen will: warum die geschlossenen Fensterläden, wozu die vielen Zettel an der Wand, warum ein Hut auf dem Kopf“[55].
Man kann nicht leugnen, dass Herr Geiser in den letzten Passagen, in denen er selbst noch aktiv ist, etwas an Zuneigung beim Leser gewinnt. Trotzdem er sich davor weigert als solches behandelt zu werden, scheint er wie ein kleines Kind zu sein, das einfach von niemandem verstanden und nur bevormundet wird.
Letztendlich setzt sich beim Leser aber dennoch die Überzeugung durch, dass Herr Geiser es nicht mehr rechtzeitig geschafft hat seiner Tochter seine volle Zuneigung zu zeigen, dass seine Einsicht schlichtweg zu spät kam und er - mehr oder weniger - durch sein eigenes Verschulden doch als stummer und in sich zurückgezogener Mann gestorben ist.
Literatur
Primärliteratur:
Max FRISCH: Der Mensch erscheint im Holozän, Frankfurt am Main 1979.
Max FRISCH: Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt am Main 1964
Sekundärliteratur:
Michael Butler: Die Dämonen an die Wand malen: Zu Max Frischs Spätwerk “Triptychon“ und “Der Mensch erscheint im Holozän“, in: Text und Kritik: Max Frisch, München 1975, S. 96f. .
Karlheinz Rossbacher: Lesevorgänge: Zu Max Frischs Erzählung “Der Mensch erscheint im Holozän“, in: Paul Michael Lützeler: Zeitgenossenschaft, Frankfurt am Main 1987, S.252-262.
Heinz F. Schafroth: Verweigerung als “Stil“. Über Max Frischs Erzählung “Der Mensch erscheint im Holozän“ und Matthias Zschokkes Roman “Max“, in: Peter Grotzer (Hrsg.): Aspekte der Verweigerung in der neueren Literatur der Schweiz. Sigriswiler Kolloquium der Schweizer Akademie der Wissenschaften, Zürich 1988, S. 117-131.
Wikipedia: Pagode. Online im Internet: URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Pagode [Stand 06.09.2005]
Wikipedia: Metakommunikatives_Axiom: URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Metakommunikatives_Axiom [Stand 13.09.2005]
Erklärung
Die Unterzeichnete versichert, dass sie die vorliegende schriftliche Hausarbeit (Seminararbeit) selbstständig verfasst und keine anderen als die von ihr angegebenen Hilfsmittel benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter Angabe der Quellen (einschließlich des World Wide Web und anderer elektronischer Text- und Datensammlungen) kenntlich gemacht. Dies gilt auch für beigegebene Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und dergleichen. München 08.10.2005
[...]
[1] FRISCH 1979: S. 9
[2] ebd.: S. 42
[3] ebd.: S.85/86
[4] ebd.: S. 70
[5] ebd.: S. 13/14
[6] BUTLER S. 99
[7] FRISCH 1979: S. 141
[8] ebd. S. 142
[9] ebd.: S. 84
[10] BUTLER: S. 100
[11] FRISCH 1979: S. 53
[12] ebd.: S. 53
[13] ebd. S. 64
[14] ROSSBACHER: S. 257
[15] ebd. S. 60
[16] ROSSBACHER: S. 256
[17] FRISCH 1979: S. 55
[18] ebd.: S. 15
[19] ebd.: S 9
[20] WIKIPEDIA: Pagode
[21] FRISCH 1979: S. 14
[22] ebd.: S. 52
[23] ebd.: S. 11
[24] ebd.: S. 121
[25] ebd.: S. 125
[26] ebd.: S. 126
[27] ebd.: S. 126
[28] FRISCH 1979: S. 87
[29] SCHAFROTH: S. 122
[30] FRISCH 1979: S. 54-56
[31] ebd.: S. 85
[32] ebd.: S. 89
[33] ebd. S. 90
[34] ebd.: S. 17
[35] ebd.: S. 128
[36] BUTLER: S. 102
[37] FRISCH 1979: S. 135
[38] ROSSBACHER: S. 252
[39] ebd.: S. 117
[40] ebd.: S. 137
[41] ebd.: S. 137
[42] ebd. S. 128
[43] ebd. S. 130
[44] ebd. S. 130
[45] FRISCH 1979: S. 68
[46] SCHAFROTH: S. 119
[47] FRISCH 1964: S. 74
[48] SCHAFROTH: S. 123
[49] ebd.: S. 128
[50] ebd.: S. 129
[51] FRISCH 1979: S. 135
[52] ROSSBACHER: S. 255
[53] Wikipedia: Metakommunikatives Axiom
[54] FRISCH 1979: S. 137
[55] ebd.: S. 136/137
- Arbeit zitieren
- Nadine Ebert (Autor:in), 2005, Die Haltung des alternden Menschen in "Der Mensch erscheint im Holozän", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45249
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