Psychiatrischer Behandlungsbericht aus der Arbeitstherapie (AT) der sich insbesondere an angehende Ergotherapeut/-innen, aber auch an Krankenschwestern oder auch pflegende Angehörige richtet.
In dem Bericht beschreibe ich die Entfaltung eines Patienten, der zu Beginn der Berichtserstellung 58 Jahre alt war und beschreibe die erstaunliche Entwicklungen der folgenden fünf Jahre. Hierbei handelt es sich nicht um Schülerarbeit, es ist auch kein Praktikumsbericht, sondern ein praxisorientierter Behandlungs- und Verlaufsbericht.
Zur Autorin:
Ida Krämer ist Ergotherapeutin, Kranken- und Kinderkrankenschwester und arbeitet seit 1998 als Gruppenleiterin in einer Werkstatt für psychisch kranke Menschen und ist in der praktischen Ausbildung von Ergotherapie - Schülern tätig.
Seit 2006 leitet sie die Kreativwerkstatt der BruderhausDiakonie in Reutlingen.
Inhalt
1. Fallbeispiel
1.1 Allgemeine Daten des Patienten
1.2 Soziale Anamnese
1.3 Medizinische Anamnese
1.3.1 Autismus
1.4 Arbeitsanamnese / Berufsanamnese
1.5 Resümee der Anamnese
2. Arbeitstherapeutische Befundaufnahme
2.1 Arbeitstherapeutischer Befund
2.2 Interpretation des Befundes und daraus resultierende Problemstellung
3. Zielsetzung
3.1 Angestrebtes Rehabilitationsziel mit Begründung
3.2 Mittelfristige Ziele
3.3 Kurzfristigen Ziele
3.4 Aufzeichnung des therapeutischen Weges
4. Durchführung der geplanten arbeitstherapeutischen Behandlung
5. Zusammenfassende Auswertung der Behandlung bzgl. Planung und Durchführung
6. Vorschläge für weiteres therapeutisches Vorgehen innerhalb der AT und flankierende Maßnahmen
7. Selbstreflektion zur Arbeit mit dem Patienten
Literaturempfehlungen
1. Fallbeispiel
1.1 Allgemeine Daten des Patienten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.2 Soziale Anamnese
Herr P. ist das erste Kind von Dreien der Familie. Herr P. lebt seit seiner Jugend ununterbrochen in der betreuten Einrichtung unseres Hauses. Die Eltern sind verstorben, zu Geschwistern hat er keinen Kontakt mehr. So beschränken sich seine sozialen Kontakte auf einen Mitbewohner der Wohngruppe, mit dem Herr P. einmal wöchentlich Musikkassetten hört, sowie Mitarbeiter und andere Beschäftigte der WfbM, wo er seit nunmehr 35 Jahren arbeitet. Herr P. nimmt von sich aus keinen Kontakt zu seinen Mitmenschen auf.
1.3 Medizinische Anamnese
In der medizinischen Anamnese gibt es keine schwerwiegende Erkrankungen, Unfälle oder Operationen. Auch Krankenhausaufenthalte sind in der Vergangenheit nicht notwendig gewesen. Herr P. leidet lt. Erstdiagnose vom Kinder- und Jugendpsychiater unter einem frühkindlichen Autismus mit mittelgradiger geistigen Behinderung. Diese Diagnosen wurden 1972, als eine erneute gründliche psychiatrische Untersuchung erfolgte, bestätigt. Herr P. leidet zudem unter autoaggressiven Ausbrüchen, die aber nicht so weit führen, dass er sich ernsthaft verletzt.
1.3.1 Autismus
Spätestens seit Rain Man ist dieses Krankheitsbild ziemlich bekannt geworden. Die Erkrankung beginnt schon als frühkindlicher Autismus, das heißt, dass die ersten Auffälligkeiten schon recht früh da sind. Die schwersten Probleme haben Autisten bei der Kontaktaufnahme und bei Beziehungen zu anderen Menschen, zur Umwelt oder auch Dingen, die Kommunikation ist mehr oder weniger stark gestört, die Wahrnehmung der Welt erfolgt in einer anderen Art und Weise, wie bei Menschen, die nicht autistisch sind. (Ich verwende den Vergleich mit "normalen" Menschen niemals, denn jeder nimmt die Welt anders wahr, und wer bestimmt, was "normal" ist?)
Da sowohl kognitive (denken) als auch sprachliche, motorische (bewegen), emotionale (empfinden) und interaktionale (miteinander) Funktionen betroffen sind, ist die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Eingliederung in die sozialen Gruppen (Primärgruppe: Familie, sekundär: Kindergarten, Schule, Gemeinschaft, usw.) oft sehr stark gestört. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung mit einem vielfältigen Erscheinungsbild. Für die Diagnose müssen nach den modernen Klassifikationssystemen Auffälligkeiten in drei Bereichen vorhanden sein:
- Sprachentwicklung, verbale und nonverbale Kommunikation
- Soziale Interaktion
- Spielverhalten
Häufig können Über- und Unterempfindlichkeiten auf Licht, Geräusche oder Berührungen beobachtet werden. In den meisten Fällen treten die Symptome bereits in den ersten drei Lebensjahren auf. Autistische Störungen können von geistigen Behinderungen begleitet werden.
Die Ursachen des Autismus sind bis heute nicht vollständig geklärt. Bei der Entstehung spielen mit Sicherheit mehrere Faktoren eine Rolle. Genetische Einflüsse und wahrscheinlich biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die autistische Störung auslösen. Autismus entsteht bestimmt nicht durch familiäre Konflikte oder Erziehungsfehler und ist kein seelisches Leiden.
Häufigkeit
Bei vielen betroffenen Menschen, vor allem mit Mehrfachbehinderungen oder mit nur leicht ausgeprägtem autistischem Verhalten, wird es verpasst, die Diagnose "Autismus" zu stellen.
Die Tendenz der Erkrankung ist steigend, nach heutigen Untersuchungen sind etwa 0,6% - 08% der Bevölkerung an Autismus Erkrankt.
Symptome
Auftretende Symptome können in qualitativ unterschiedlichen Ausprägungen und Beeinträchtigungen sowie in öfters auch individuell wechselnder Häufigkeit erscheinen
- besondere Vorliebe für konstruktive und anforderungsreiche Gedulds- und Kombinationsspiele
- kein kreatives Spielen und Beschäftigung meistens mit dem gleichen Spielzeug
- keine aktive Teilnahme an einer Gruppentätigkeit oder Gruppenspiel über längeren Zeitraum
- tägliche Gefahren werden nicht erkannt (Hund, Straßenverkehr...)
- unbegründete Ängste vor alltäglichen Dingen (Band eines Kassettenrekorders...)
- körperliche Nähe und Berührungen werden als unangenehm empfunden
- der Augenkontakt wird gemieden
- die Sprache fehlt oder wird nicht zur Kommunikation eingesetzt
- kein Interesse an anderen Menschen
- auffälliges Spielverhalten mit Neigung zu stereotypen Wiederholungen
- auffällige Hand- oder Körperbewegungen
- Faszination an drehenden oder sich bewegenden Dingen
- besondere Kenntnisse oder Leistungen in eingegrenzten Gebieten
Therapie
Es gibt nicht die Therapie für autistische Kinder. Je nach Ausprägung und Intensität der Symptome müssen die pädagogischen und therapeutischen Ansätze verschieden sein. Wichtig hierbei ist, das Kind ganzheitlich zu sehen und zu fördern. (Buchtipp: Autismus: Therapien im Vergleich. Weitere Buchempfehlungen s. unter Literaturhinweise am Ende des Berichtes) Je früher die Förderung einsetzt, um so größer sind die Aussichten auf eine Besserung der Symptome.
Das therapeutisch-pädagogische Handeln zielt besonders auf die Normalisierung von Wahrnehmungsstörungen, den Aufbau positiver menschlicher Beziehungen, die Entwicklung von Kommunikationsstrategien und den Abbau von Ängsten und Irritationen.
Folgende Therapieformen werden als erfolgversprechend angesehen:
- Affolter-Therapie
- Bobath-Konzept
- Differentielle Beziehungstherapie
- Musiktherapie
- Psychotherapie
- Sensorische Integrationstherapie
- Sprachliche Förderung
- Verhaltenstherapie
1.4 Arbeitsanamnese / Berufsanamnese
Herr P. hat eine Sonderschule für geistig Behinderte in seinem Heimatort *** besucht. Dort hat er die elementaren Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens erlernt. Diese kann er auch heute noch anwenden. Nach der Schule wurde er in die Behindertenwerkstatt aufgenommen, wo er seit nunmehr über 35 Jahren in der gleichen Einrichtung ganztags tätig ist. Einen Beruf hat Herr P. nie erlernt. In der WfbM galt er lange Zeit als nicht förderbar, auch mit einfachsten Tätigkeiten überfordert und nicht lernfähig. Die letzten 15 Jahre webte er an einem kleinen Tischwebstuhl 10 cm breite Bänder.
1.5 Resümee der Anamnese
Herr P. leidet an einem frühkindlichen Autismus mit autoaggressiven Tendenzen bei Überforderung, sowie an einer mittelgradigen geisigen Behinderung. Es bestehen keine sozialen Kontakte außerhalb der Einrichtung, wo er wohnt und arbeitet.
2. Arbeitstherapeutische Befundaufnahme
2.1 Arbeitstherapeutischer Befund
Herr P arbeitet seit vielen Jahren in der Handweberei des Hauses. Die Arbeitsschritte des Webens auf einem kleinem Tischwebstuhl hat er internalisiert und führt sie routiniert und mit gutem Ergebnis aus. Das Ergebnis seiner Arbeit ist verwertbar, wenn auch hin und wieder Fehler darin enthalten sind. So werden die End- und Anfangsfäden nicht mit eingewoben sondern hängen am Rand des Gewebes lose heraus. Der Rand des Gewebes ist oft ungleichmäßig. Muster entstehen nur, wenn er Hilfeleistung bekommt, indem die Anleiterin verschiedene Schiffchen in verschiedenen Farben bewickelt. Herr P. webt dann die Schiffchen einfach leer. Andere Tätigkeiten sind zum Zeitpunkt x, als dieser Bericht begonnen wurde, nicht möglich. Eine gezielte Untersuchung der feinmotorischen Fähigkeiten ist auf Grund der Schwere des Krankheitsbildes nicht möglich und erfolgt lediglich über Beobachtungen.
Bei der Befunderhebung handhabte Herr P. das Schiffchen und den Webstuhl mit gutem Geschick. Leichte Einschränkungen bei der Kraftdosierung und der Feinmotorik zeigten sich beim Weben, das Webbild wies ungleichmäßigen Anschlag auf. Die Figur-Grund-Wahrnehmung scheint ebenfalls gestört zu sein, denn Herr P. steckt das Schiffchen manchmal nicht in das Fach, sondern darunter. Dieses Problem lernte er jedoch zu kompensieren, in dem er mit der anderen Hand ins Fach "gegengreift" und dem Schiffchen entgegenkommt.
Das Vorlassen der Kette bewältigt Herr P. selbständig. Ist die Kette leer, oder der Warenbaum voll, holt er dabei von sich aus keine Hilfe, sondern hört auf zu weben, sitzt vor-und-zurück schaukelnd vor dem Webstuhl und wartet mit zunehmender motorischer Unruhe, bis die Gruppenleiterin das Problem erkennt und löst. Ist die Gruppenleiterin nicht innerhalb kurzer Zeit da, oder anderweitig beschäftigt, steigert sich die Unruhe immer mehr, bis Herr P. anfängt, sich mit der Faust zu schlagen.
Bei den Grundarbeitsfähigkeiten zeigt sich Herr P. zuverlässig und pünktlich. Er kommt zu festen Zeiten, wenn in der Wohngruppe das Frühstück eingenommen wurde. Herr P. hat keine Fehlzeiten, auch keine krankheitsbedingte Ausfälle Mit seinem Urlaub kommt er bis Jahresende aus, die Urlaubsregelung wird in Absprache mit der Wohngruppe abgestimmt.
Zum Zeitpunkt der Abteilungsübernahme durch mich gibt es außer der Frühstücks- und Mittagspause in dieser Abteilung keine festen Pausenzeiten für die Beschäftigte, Pausen macht Herr P. wenn er es für nötig hält.
Außer Weben gibt es keine andere Tätigkeit für Herrn P.
Herr P. bekommt nach dem Mittagessen um 12:30 Uhr 1/2 Tablette Dipiperon. Diese wird im Medikamentenschrank aufbewahrt und von der Gruppenleiterin ausgehändigt, damit Herr P. sie nehmen kann. Ist die Gruppenleiterin zu exakt diesem Zeitpunkt noch nicht in die Gruppe zurückgekehrt oder hat sie frei und ein ZDL die Vertretung, so kommt es ebenfalls innerhalb kürzester Zeit zu den bekannten Ausbrüchen.
2.2 Interpretation des Befundes und daraus resultierende
Problemstellung
Jeder Versuch einer Veränderung führt bei Herrn P. zur Überforderung und dadurch zur autoaggressiven Handlungen. Dadurch und durch die geistige Behinderung sind dem Arbeits-und Entwicklungsfähigkeiten von Herrn P. klare Grenzen gesetzt. Herr P. ist in seiner Welt isoliert. Er nimmt von sich aus keine Notiz von der Umwelt. Die einmal erlernte monotone Arbeit führt er seit Jahren ohne Veränderungen durch.
Durch die bevorstehende Umstrukturierung der Abteilung ist es unumgänglich, dass er gewisse Veränderungen in seiner Umgebung durchmachen muss. Diese sind durch äußere Faktoren bestimmt. Für ihn bedeutet dies, langjährig eingefahrene Rituale verändern zu müssen.
Herrn P. so behutsam wie möglich auf diese Veränderungen vorzubereiten und ihn dabei zu begleiten ist einer meiner Hauptaufgaben in der nächsten Zeit.
[...]
- Arbeit zitieren
- Ida Krämer (Autor:in), 2005, Autismus im Erwachsenenalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44942
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