Diese Arbeit hat zum Ziel die Konstruktion des Vorstellungsraums "Flüchtling" aufzuzeigen und die damit einhergehenden Machtströme herauszuarbeiten. Zunächst wird dafür der Diskurskontext "geflüchtete Menschen in Deutschland" skizziert. Dabei wird allgemein in das Thema eingeführt, eine historische Perspektive mit dem Fokus auf Ausgrenzungsmechanismen eröffnet, die aktuelle Entwicklung in Deutschland aufgezeigt sowie einige wissenschaftliche Perspektiven mit dem Fokus auf diskurstheoretische Ansätze vorgestellt. Bei der anschließenden Dekonstruktion des Flüchtlings stößt die Arbeit auf zwei zentrale Herausforderungen: Zum einen auf das Problem der Subtilität der Konstruktionsmechanismen der Diskurse, und zum anderen auf deren Komplexität.
Ersterer begegnet die Arbeit mit Michel Foucaults Diskurstheorie. Diese wird durch die daran geübte Kritik der Diskursanalytikerin Angelika Magiros erweitert. Dabei wird die Diskurstheorie auf einen postmodernen Diskurs der Fremdenfeindlichkeit ausgerichtet, wodurch der Blick für die Angst vor der Nicht-Identität der "Deutschen" geschärft wird. MAGIROS' Ansätze wirken zudem wie ein Scharnier zwischen Foucaults Diskurstheorie und drei weiteren, daran angeschlossenen Perspektiven, die diesen Diskurs in seiner Machtwirkung und Struktur besser zu fassen vermögen. Dazu zählen das "OtheringKonzept", die theoretischen Perspektiven der konstruktivistischen Geographie sowie die Hegemonietheorie.
Auf der Grundlage der aufgezählten Theorien, geht die Arbeit anschließend auf den Forschungsgegenstand ein. Dieser umfasst 268 Zeitungsartikel aus den Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Bildzeitung aus dem 3. Quartal 2015. Die sich dabei abzeichnende Komplexität der Diskurse versucht die Arbeit durch Codierungsverfahren zu vereinfachen und durch Quantifizierungen, Tendenzen des Diskurses herauszuarbeiten. Anschließend wird vor dem Hintergrund der im Diskurs quantifizierten Tendenzen eine exemplarische Feinanalyse vollzogen. Zudem verfolgt die Arbeit einen interpretativen Ansatz, der als subjektivistisch oder konstruktivistisch angesehen werden kann.
Inhaltsverzeichnis
I Abbildungsverzeichnis
II Tabellenverzeichnis
1. Einführung in den Gegenstand und den Aufbau der Arbeit
2. Annäherung an das Thema: Flucht und Migration in Deutschland
2.1 Flucht und Migration im Allgemeinen
2.2 Historische Perspektive auf geflüchtete Menschen in Deutschland und deren sprachliche Repräsentation
2.3 Gesellschaftspolitische Entwicklung: Der Kontext des Diskurses in Deutschland 2015
2.4 Diskurstheoretische Perspektiven auf die Konstruktion des Flüchtlings in Deutschland
3. Foucault and Friends: Theoretisches Handwerkszeug 15
3.1 Vom „Diskurs über Flüchtlinge in den Medien“ zur „Diskussion über massenmedial vermittelte, geflüchtete Menschen“: Einige Überlegungen zum Begriffsgebrauch
3.2 Einführung in die Diskurstheorie Foucaults. Einige Werkzeuge aus seiner „Kiste“
3.3 Diskursanalyse und moderne Fremdenfeindlichkeit
3.4 Die Theorie des „Othering“ und der Postkolonialismus
3.5 Die Konstruktion des Konstrukteurs: „Deutschland“ die Gussform geflüchteter Menschen
3.6 Ein theoretisches Bindeglied: Die Hegemonietheorie und ihre Potentiale innerhalb der Diskursanalyse
4. Eine Brücke von der Diskurstheorie zur Diskursanalyse: Das methodische Vorgehen
4.1 Begriffliches Handwerkszeug der Diskursanalyse
4.2 Ansätze zur praktischen DiskursanalyseAlterität
4.3 Anzahl und Auswahl der Zeitungsartikel
4.4 Zergliederung des Diskurses: Code-Struktur und Codierungsverfahren
5. Quantitative Ergebnisse und qualitative Analyse
5.1 Alterität im Diskurs
5.2 „Hilflose Kinder“: Geflüchtete Menschen als OpferAlterität im Diskurs
5.3 Ursachen und Verantwortung für die Opfersituation geflüchteter Menschen
5.4 „Die amorphe Masse kommt“: Geflüchtete Menschen als Bedrohung für Deutsch-e/-land
5.5 „Jung, lernwillig und arbeitsam“: Geflüchtete Menschen als Helfer
5.6 Marginalisiert und rar: Geflüchtete Menschen als politische Subjekte
5.8 Die Täter sind die Anderen: Deutsch-e/-land als Täter
6. Aufgliederung der analysierten Zeitungen in ihre jeweilige Darstellungstendenz 101
7. Im Spannungsfeld der Kategorien: Die Konstruktion des Flüchtlings als Projektionsfläche deutscher Interessen
III QUELLENVERZEICHNIS
IV Literaturangaben zu den analysierten Zeitungsartikeln
IV.I Quellenverzeichnis: Frankfurter Allgemeine Zeitung
IV.II Quellenverzeichnis: Bildzeitung
IV.III Quellenverzeichnis: Süddeutsche Zeitung
I Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklung der jährlichen Asylanträge 1988-1993/2011-2015
Abbildung 2: Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte im Vergleich 2014/2015
Abbildung 3: Durchschnittlicher täglicher Verkauf der Zeitungen im 3. Quartal 2015
Abbildung 4: Die Zwillingssäulen des Diskurses
Abbildung 5: Der Vorstellungsraum Flüchtling im Spannungsfeld der einzelnen Darstellungstendenzen
II Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Übersicht der Zeitungsartikel aus der F.A.Z., SZ und BILD (politische Orientierung, Anzahl vergebener Codings, Anzahl der Artikel, Anzahl der Wörter)
Tabelle 2: Übersicht der Obercodestruktur sowie Anzahl der vergebenen Codings
Tabelle 3: Übersicht der Obercodestruktur und der daran angeschlossenen Subcodes
Tabelle 4: Codes, in ihrer Flächenabdeckung bezüglich des gesamten Textkorpus´ in tatsächlichen bzw. relativen Prozentsätzen
Tabelle 5: Codes, die sich auf die Stoßrichtung einer Artikelaussage beziehen sowie Anzahl / Prozentsatz vom Korpus aus 268 Artikeln
Tabelle 6: Codes, die sich auf einzelne Wörter und Zahlen beziehen sowie die Anzahl deren Vergabe im gesamten Textkorpus
Tabelle 7: Analysekategorien der Feinanalyse
Tabelle 8: Drei zentrale Fragen an die Artikel bei der Feinanalyse
Tabelle 9: Signifikante Ähnlichkeiten der Codierungsverteilung zwischen den drei Zeitungen
Tabelle 10: Signifikante Unterschiede der Codierungsverteilung zwischen den drei Zeitungen
1. Einführung in den Gegenstand und den Aufbau der Arbeit
Geflüchtete Menschen spielten in den Massenmedien Deutschlands in den letzten Jahren wieder verstärkt eine Rolle. Im Jahr 2015 stieg ihre mediale Repräsentation zu einer nie dagewesenen Präsenz an (Hildebrand 2015: 1). Dies hatte zur Folge, dass der Begriff „Flüchtling“ zum Wort des Jahres gewählt wurde, da er laut Jury „[...] das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich besonders bestimmt [...]“ (DIE ZEIT 2015b: 1) habe.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel die Konstruktion des Vorstellungsraums „Flüchtling“ aufzuzeigen und die damit einhergehenden Machtströme herauszuarbeiten. Zunächst wird dafür der Diskurskontext „geflüchtete Menschen in Deutschland“ skizziert. Dabei wird allgemein in das Thema eingeführt, eine historische Perspektive mit dem Fokus auf Ausgrenzungsmechanismen eröffnet, die aktuelle Entwicklung in Deutschland aufgezeigt sowie einige wissenschaftliche Perspektiven mit dem Fokus auf diskurstheoretische Ansätze vorgestellt. Bei der anschließenden Dekonstruktion des Flüchtlings stößt die Arbeit auf zwei zentrale Herausforderungen: Zum einen auf das Problem der Subtilität der Konstruktionsmechanismen der Diskurse, und zum anderen auf deren Komplexität.
Ersterer begegnet die Arbeit mit Michel Foucaults Diskurstheorie. Diese wird durch die daran geübte Kritik der Diskursanalytikerin Angelika Magiros erweitert. Dabei wird die Diskurstheorie auf einen postmodernen Diskurs der Fremdenfeindlichkeit ausgerichtet, wodurch der Blick für die Angst vor der Nicht-Identität der „Deutschen“ geschärft wird. Magiros´ Ansätze wirken zudem wie ein Scharnier zwischen Foucaults Diskurstheorie und drei weiteren, daran angeschlossenen Perspektiven, die diesen Diskurs in seiner Machtwirkung und Struktur besser zu fassen vermögen. Dazu zählen das „Othering-Konzept“, die theoretischen Perspektiven der konstruktivistischen Geographie sowie die Hegemonietheorie.
Auf der Grundlage der aufgezählten Theorien, geht die Arbeit anschließend auf den Forschungsgegenstand ein. Dieser umfasst 268 Zeitungsartikel aus den Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Bildzeitung aus dem 3. Quartal 2015. Die sich dabei abzeichnende Komplexität der Diskurse versucht die Arbeit durch Codierungsverfahren zu vereinfachen und durch Quantifizierungen, Tendenzen des Diskurses herauszuarbeiten. Anschließend wird vor dem Hintergrund der im Diskurs quantifizierten Tendenzen eine exemplarische Feinanalyse vollzogen. Zudem verfolgt die Arbeit einen interpretativen Ansatz, der als subjektivistisch oder konstruktivistisch angesehen werden kann. Dieser hilft die große Vielzahl an möglichen Aussagen über den Diskurs auf einige prägnante Beispiele zu beschränken, ohne jedes Diskursfragment für diese Interpretation offenlegen zu müssen. Im Schlussteil werden Darstellungstendenzen geflüchteter Menschen in Deutschland miteinander in Beziehung gesetzt und aus deren Zusammenführung ein umfassendes Flüchtlingskonstrukt nachgezeichnet. Auf diese Weise können Machtwirkungen im Diskurs im besonderen Maße aufgezeigt werden.
2. Annäherung an das Thema: Flucht und Migration in Deutschland
Zur Einführung in die Thematik der Arbeit, wird in diesem Kapitel der soziale, politische und historische Kontext der Diskurse über geflüchtete Menschen in Deutschland skizziert. Die Repräsentation geflüchteter Menschen, etwa in Form ihrer Quantifizierung, wie sie in diesem Kapitel vorgenommen wird, ist problematisch. In der Gestalt von „harten Fakten“ neigen Zahlen dazu, einen quasi metaphysischen Wahrheitsgehalt zu beanspruchen. Die in diesem Kapitel vorgestellten Inhalte sind – auf den Kritiker und Philosophen Michel Foucault vorweggreifend – jedoch eher auf einer „Diskursebene der Wissenschaft“ zu verstehen und bieten einen Referenzpunkt für den in der Analyse herausgearbeiteten Diskurs. Diesem Referenzpunkt soll jedoch kein unumstößlicher Wahrheitsgehalt gegenüber den „konstruierten Zeitungsartikeln“ zugesprochen werden, sondern er soll der Orientierung des Lesers innerhalb der geführten Diskurse und dem darin verhandelten Wissen dienen.
Das Kapitel unterteilt sich in den einleitenden Unterpunkt „Flucht und Migration im Allgemeinen“, in eine historische Perspektive mit dem Fokus auf Ausgrenzungsmechanismen und in dem dritten Unterpunkt über die aktuelle Entwicklung in Deutschland. Abschließend werden eine Auswahl wissenschaftlicher Perspektiven mit dem Fokus auf diskurstheoretische Ansätze vorgestellt, die sich mit geflüchteten Menschen in Deutschland auseinandersetzen.
2.1 Flucht und Migration im Allgemeinen
Laut Karl-Heinz Meier-Braun, Politologe und stellvertretender Vorsitzender im Rat für Migration (RfM), leben in Deutschland rund 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, was ca. 20,5% der gesamten Bevölkerung ausmacht (vgl. Meier-Braun 2015: 11). Menschen mit Migrationshintergrund definiert Meier-Braun als „[...] sowohl die seit 1950 nach Deutschland Eingewanderten und deren Nachkommen als auch die ausländische Bevölkerung“ (Meier-Braun 2015: 12). Ein Teil dieser Menschen werden als „Flüchtlinge“ kategorisiert. Eine trennscharfe Definition von „Fluchtmigration“ in Abgrenzung zu anderen Formen der Migration (etwa die sog. Arbeitsmigration oder der Familiennachzug bei Migrationsbewegungen) ist kaum möglich (vgl. Treibel 2003). Ohnehin wäre die Übernahme von rechtlich-politisch definierten Kategorien, wie sie in den Zuschreibungen „Flüchtling“ oder „Migrant“ zum Ausdruck kommt, in einer dekonstruktivistischen Arbeit nicht sinnvoll, da durch ihre Reproduktion eben diese Kategorisierungen legitimiert würden, die es zu dekonstruieren gilt (vgl. Niedrig und Seukwa 2010: 182).
Im Jahr 2014 ist die Zahl fliehender Menschen auf der Welt mit knapp 60 Millionen auf einem „[...] traurigen Rekordniveau“ (Meier-Braun 2015: 19). Davon sind 19,5 Millionen außerhalb ihres Landes auf der Flucht und 1,8 Millionen gelten als Asylbewerber, deren Anerkennungsverfahren in den Aufnahmeländern noch läuft (vgl. Meier-Braun 2015: 20). Meier-Braun sieht bis in die Mitte des Jahres 2015 Europa und Deutschland im internationalen Vergleich nur in geringer Weise als Aufnahmeländer und spricht von einem „Rinnsal“ (Meier-Braun 2015: 20) von 0,24% der geflüchteten Menschen, die Deutschland erreichen (vgl. Meier-Braun 2015: 20). Im Gegensatz dazu nehmen die vergleichsweise wirtschaftlich ärmeren Länder deutlich mehr geflüchtete Menschen auf und „[...] tragen das Weltflüchtlingsproblem“ (Meier-Braun 2015: 20).
Hauptursache für die Flucht von Menschen sind in den letzten Jahren Bürgerkriege, wie beispielsweise der aktuell in Syrien stattfindende Konflikt (vgl. Meier-Braun 2015: 91). Allgemeiner gelten als Fluchtursache laut der Definition Meier-Brauns neben Bürgerkriegen auch andere Notlagen, aus denen heraus Regionen oder Länder, außerhalb des Heimatlandes, aufgesucht werden, um Schutz und Zuflucht zu suchen (vgl. Meier-Braun 2015: 53). Artikel 1A der Genfer Flüchtlingskonvention definiert geflüchtete Menschen spezifischer als Personen, die sich
[...] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung [...] außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen [...] (UNHCR o.J.: 20).
Die 1951 beschlossene Konvention, bzw. das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ – so der offizielle Titel der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) – sowie das 1967 beigefügte ergänzende Protokoll, ist immer noch das wichtigste internationale Dokument zum Schutz von geflüchteten Menschen (vgl. Meier-Braun 2015: 90). Der Artikel 33 über das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung innerhalb der Konvention enthält das Verbot, einen „Flüchtling“
[...] auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen [zu dürfen], in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde (UNHCR o.J.: 15).
Dieses Ausweisungs- und Zurückweisungsverbot wird international als „Non-refoulement-Prinzip“ bezeichnet und ist in eine ganze Reihe regionaler und internationaler Menschenrechtsverträge eingegangen. Insgesamt sind neben Deutschland bisher 147 Staaten der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten (vgl. Meier-Braun 2015: 90f.). Mehrere Aspekte des Asylrechts schränken die zugrunde gelegte Genfer Konvention jedoch entschieden ein. Dazu gehört etwa die Definition des Bundesrates und Bundestages der sog. „sicheren Herkunftsländer“, deren Bürger kein Anrecht mehr auf einen Asylstatus in Deutschland bekommen. Einschränkungen wie diese veranlassten Thomas Hohlefeld in seiner Analyse der „Flüchtlingsbürokratie“ bereits 2005 von der „Entkernung des Asylrechts“ (Hohlfeld 2005: 50) zu sprechen.
Um auf legalem Weg nach Europa einreisen zu können, brauchen geflüchtete Menschen ein Visum. In Kriegsgebieten bestehen jedoch kaum Chancen auf ein Visum, da die Botschaften und Konsulate oft geschlossen haben (vgl. Meier-Braun 2015: 73). Zudem sind Visa an strenge Bedingungen geknüpft, wie beispielsweise an den Nachweis ausreichender finanzieller Mittel (vgl. Meier-Braun 2015: 74). „So bleibt den Flüchtlingen keine andere Wahl, als sich ohne Papiere und unter Lebensgefahr auf den Weg zu machen“ (Meier-Braun 2015: 75), da kein legaler Zufluchtsweg für flüchtende Menschen nach Europa offen gelassen wird (vgl. Meier-Braun 2015: 75). Laut PRO ASYL sind auf dem Seeweg nach Europa im Jahr 2015 3.771 flüchtende Menschen gestorben oder als vermisst gemeldet worden (PRO ASYL 2016b: 44).
Erst wenn geflüchtete Menschen in Deutschland ankommen, einen Antrag auf Asyl stellen und dieser anerkannt wird, werden sie vom deutschen Staat offiziell als „Flüchtlinge“ anerkannt (vgl. Meier-Braun 2015: 53), sofern diesen ein „anerkannter Fluchtgrund“ zugesprochen wird. Vom deutschen Staat anerkannte „Flüchtlinge“ werden von sog. „Migranten“ und „Geduldeten“ unterschieden denen zugeschrieben wird, aus eigenem Antrieb nach Deutschland gekommen zu sein. In den analysierten Zeitungsartikeln werden die Kategorien „Flüchtling“, „Migrant“, „Asylbewerber“ und „Geduldeter“ meist unter den Begriff „Flüchtling“ subsumiert. Es wird sich zeigen, dass ein pauschaler Vorstellungsraum des „Flüchtlings“ kreiert wird, was sich in der Subsumtionsfunktion des Wortes bereits abzeichnet.
2.2 Historische Perspektive auf geflüchtete Menschen in Deutschland und deren sprachliche Repräsentation
Die Geschichte geflüchteter Menschen in Deutschland ist auch eine Geschichte deren Ausgrenzung durch die Ankunftsgesellschaft. Im Folgenden werden dazu chronologisch einige Beispiele gegeben. Etwa schrieb bei der Rückkehr der sog. „Heimatvertriebenen“ nach dem zweiten Weltkrieg die Rhein-Neckar-Zeitung am 13.05.1949:
Die Flüchtlinge sind grundsätzlich schmutzig. Sie sind grundsätzlich primitiv, ja sogar grundsätzlich unehrlich. Das sie faul sind versteht sich am Rande und dass sie lieber einen braven Einheimischen betrügen, als ihm eine Arbeit abzunehmen. Ganz abgesehen davon, das sie das streitsüchtigste Volk sind, das in unseren Gassen und Gässchen einherläuft. Und ein Dank für das, was man ihnen tut, kennen sie nicht. Das ist es was man in 90 von 100 Unterhaltungen über Flüchtlinge zu hören bekommt (Rhein-Neckar-Zeitung, zit. nach Meier-Braun 2015: 55f.).
Dieser Ausschnitt macht deutlich, wie offen Vorurteile und Stigmatisierungen über geflüchtete Menschen in Deutschland ausgedrückt wurden. Auch die im Zuge der sog. „Arbeitsmigration“ bezeichneten „ArbeitsmigranntenInnen“ erfuhren von der deutschen Bevölkerung Ablehnung, was sich sprachlich in den geläufigen Bezeichnungen wie „Spaghettifresser“ und später dann im Wort „Knoblauchfresser“ manifestierte (vgl. Hoerder 2016: 2). Historisch betrachtet entwickelte sich Deutschland dennoch zu einem Einwanderungsland, auch, wenn dies nur zögerlich anerkannt wurde. Laut Meier-Braun kamen zwischen 1955 bis zum Anwerberstopp im Jahre 1973 insgesamt 14 Millionen Menschen nach Deutschland, die den Status eines Migranten zugesprochen bekamen (vgl. Meier-Braun 2015: 35).
Ab 1988 ließ sich nach einem Rückgang der ArbeitsmigrantInnen ein erneuter Anstieg der Migration nach Deutschland feststellen. In Zuge dessen zeichnet sich auch ein Anstieg von Gewalttaten gegenüber migrierten und geflüchteten Menschen ab. Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) spricht dabei von „[...] einer Welle rechtsextremer Gewalttaten“ (bpb 2013: 1) in den Jahren 1990-1992. Die Amadeu Antonio Stiftung verzeichnet allein für das Jahr 1990 insgesamt sieben Todesopfer rechtsextremer Gewalt und acht Opfer für das Jahr 1991. Mit insgesamt 27 Toten werden im Jahr 1992 die meisten Opfer verzeichnet (Amadeu Antonio Stiftung, zit. nach Brausam: 2015: 1). In diesem Zeitraum ereigneten sich auch zwei pogromähnliche Übergriffe, die massenmedial besondere Aufmerksamkeit bekamen und daher als „Diskursereignisse“ bezeichnet werden können:
Im September 1991 werden in Hoyerswerda Asylsuchende und Vertragsarbeiter nach mehrtägigen Ausschreitungen unter dem Beifall von Anwohnern aus ihren Unterkünften vertrieben und mit Brandflaschen und Steinen beworfen. An den Übergriffen sind bis zu 500 Menschen beteiligt. Neonazis feiern „Deutschlands erste ausländerfreie Stadt“ seit 1945 (bpb 2013: 2).
Dieses Ereignis markiert den Beginn einer Serie rassistischer Angriffe auf sog. „Flüchtlingswohnheime“. Im August 1992 belagern hunderte Rechtsextreme und bis zu 3.000 Schaulustige Unterkünfte von Asylbewerbern in Rostock-Lichtenhagen. Dieser Zustand dauerte mehrere Tage an, schließlich wurden die Unterkünfte in Brand gesetzt. In Mölln verübten Rechtsradikale am 23. November 1992 einen Brandanschlag auf die Wohnhäuser türkischer Familien. Dabei ermordeten sie zwei Frauen und ein Kind (vgl. bpb 2013: 3). Diese Vorfälle stehen in enger Verbindung zu den journalistischen Darstellungen von geflüchteten Menschen in Deutschland. Die Bundeszentrale für politische Bildung geht davon aus, dass dem militanten Rassismus eine „[...] lange, aggressive und emotional aufgeladene Debatte in Medien und Politik um das Asylrecht und um Flüchtlinge [...]“ (2013: 3) vorausging. Schlagworte wie „Überfremdung“, „Asylantenschwemme“, „Schmarotzer“ und „Zustrom von Asylbewerbern“ bestimmten die Debatte dieser Zeit und erlangten Anfang der 1990er Jahre eine hohe Popularität (vgl. bpb 2013: 3).
Auch die Nichtregierungsorganisation PRO ASYL bringt diese Ereignisse mit der sprachlichen Repräsentation geflüchteter Menschen in Verbindung:
Seit dem Beginn der neunziger Jahre nahmen die Verbalattacken gegen Flüchtlinge dramatisch zu. Mit Parolen wie „Das Boot ist voll“ und Schlagworten wie „Asylantenflut“ oder „Missbrauch des Asylrechts“ wurden Ressentiments gegen Flüchtlinge geschürt (PRO ASYL 2016a: 1).
Sprachliche Äußerungen dieser Art sind auch noch 2015 aktuell, weshalb Klaus J. Bade von der „Etablierung despektierlicher Begriffe“ (Bade 2015: 3) bezüglich geflüchteter Menschen in Deutschland spricht. Um hier Foucault vorwegzunehmen, ist der Zusammenhang zwischen den negativ konnotierten Kollektiv-Symbolen (wie etwa „das Boot ist voll“) und den rassistischen Übergriffen ein notwendiger, da für Foucault laut Jürgen Link der „Diskurs […] lediglich die sprachlich-schriftliche Seite einer „diskursiven Praxis“ [ist]“ (Link und Link-Heer 1990: 90). Am 29. Mai 1993 wurden in Solingen fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen bei einem Brandanschlag ermordet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Entwicklung der jährlichen Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) 1988-1993/2011- 2015 (Eigene Darstellung nach BAMF 2015: 1)
Dieses Verbrechen ist der zu diesem Zeitpunkt folgenschwerste rassistische Anschlag innerhalb einer Reihe deutschlandweiter rassistischer Angriffe auf „Flüchtlinge“ in der Geschichte der Bundes-republik (vgl. Bpb 2013: 3).
Wie in Abbildung 1 deutlich wird, zeichnet sich in den Jahren 1988-1993 und 2011-2015 eine vergleichbare Entwicklung ab (vgl. Abb. 1). Parallel dazu (ohne hier einen zwingend notwendigen, kausalen Zusammenhang sugerrieren zu wollen) ist, ähnlich wie im Zeitraum 1988-1993, ein Anstieg von Übergriffen auf sog. „Flüchtlingsunterkünfte“ festzustellen. Aus Abblidung 2 geht hervor, dass rückblickend auf das Jahr 2015 von 1072 Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland ausgegangen werden kann (vgl. Abb. 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte im Vergleich 2014/15 (Eigene Darstellung nach PRO ASYL und Amadeu Antonio Stiftung 2016a: 1)
Bei 136 Fällen handelte es sich dabei um Brandanschläge, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass im Durchschnitt in Deutschland jeden dritten Tag eine Flüchtlingsunterkunft brannte. Auch das Bundeskriminalamt geht laut PRO ASYL von über 1000 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2015 aus (vgl. BKA, zit. nach PRO ASYL 2016a: 31). Im Vergleich dazu erfassten PRO ASYL und die Amadeu Antonio Stiftung „nur“ 199 Straftaten in 2014 (PRO ASYL und Amadeu Antonio Stiftung 2016a: 1). Wie bereits beschrieben steigen gewalttätige Übergriffe gegenüber geflüchteten Menschen 1988-1993 parallel zur Zahl der Asylanträge. Auch 2011-2015 ist dieser Zusammenhang festzustellen, wobei sich eine sprunghafte Entwicklung 2014-2015 abzeichnet. Der Zusammenhang zwischen der journalistischen Darstellung und den genannten Übergriffen zeigt auch im Hinblick auf diese Parallele die Brisanz dieser aktuellen Diskursanalyse. Denn die sprachliche Repräsentation von geflüchteten Menschen scheint gerade während Migrations- und Fluchtbewegungen bezüglich Ausgrenzungsmechanismen von Bedeutung zu sein.
Nicht nur in Form von gewaltvollen Übergriffen manifestieren sich Ausgrenzungsmechanismen, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Tina Hollstein, Cornelia Schweppe und Lena Huber, die sich mit Armut in Deutschland auseinandersetzen, sehen eine enge Verbindung zwischen Armut und Migration. Aus den Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahr 2008 fassen sie zusammen, dass
[…] [2008] mehr als jeder Vierte (28%) der ca. 14,8 Millionen in der Bundesrepublik lebenden Menschen mit Migrationshintergrund - gegenüber 12% Personen ohne Migrationshintergrund – [...] einem Armutsrisiko ausgesetzt [ist] (BAMF 2008, zit. nach Hollstein et al. 2008: 45).
Dies änderte sich auch nicht in der „Armuts- und Reichtumsberichterstattung“ von 2012 laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS):
Familien mit Migrationshintergrund sind insgesamt etwa doppelt so häufig armutsgefährdet wie Familien ohne Migrationshintergrund. Die Armutsrisikoquote von Menschen mit Migrationshintergrund und ausländischer Staatsangehörigkeit ist gegenüber Personen ohne Migrationshintergrund sogar dreimal höher (BAMS 2013: 125).
Dieser bisher aufgezeigten sozialen und wirtschaftlichen Ausgrenzung geflüchteter Menschen in Deutschland, steht ein breites Angebot an nicht-staatlichem, ehrenamtlichem Engagement gegenüber; durch die relativ dezentrale, oft auch lokal strukturierte ehrenamtliche Arbeit mit geflüchteten Menschen ist es jedoch schwierig, konsistente Statistiken darüber zu entwickeln. Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) befragte 70 Organisationen und kam im April 2015 zu dem Ergebnis, dass die Zahl der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer in den vergangenen drei Jahren parallel zur Zahl der geflüchteten Menschen seit dem Beginn der sog. „Syrien-Krise“ von 2011 stark gestiegen ist (BIM 2015: 4). Auch der stellvertretende Geschäftsführer von PRO ASYL, Bernd Mesovic, stellt laut ZEIT ONLINE fest: „In den letzten zwei Jahren ist die Zahl an Freiwilligen, die sich bei PRO ASYL und anderen Anlaufstellen melden, enorm gestiegen“ (Hassenkamp, zit. nach ZEIT ONLINE: 2015). Die Hilfe findet dabei meist in Form von Kleiderspenden, Deutschunterricht und Amtsbegleitung statt (vgl. Hassenkamp, zit. nach ZEIT ONLINE 2015).
Die historische Perspektive zeigt eine Entwicklung hin zu einer „bipolaren Tendenz“ der deutschen Bevölkerung geflüchteten Menschen gegenüber. Einerseits ist die Geschichte der Einwanderung in Deutschland von wirtschaftlichen, sprachlichen und sozialen Ausgrenzungsmechanismen bis hin zu gewaltvollen Übergriffen geprägt. Auf der anderen Seite steht die schwer in Zahlen zu fassende, nicht-staatliche „Flüchtlingshilfe“, die in den letzten Jahren zugenommen hat.
2.3 Gesellschaftspolitische Entwicklung. Kontext des Diskurses in Deutschland 2015
Rückblickend auf das Jahr 2015 fasst das Bundesministerium des Innern, auf Zahlen des BAMF zurückgehend, zusammen, dass die Zahl der Einreise von Schutzsuchenden in Deutschland etwa bei 1,1 Millionen Personen liegt. Davon hätten insgesamt 476.649 Personen Asylanträge gestellt (BMI 2016). Der mit 34% größte Anteil der Asylbewerber kommt aus Syrien. Zentrales bürokratisches Organ stellt dabei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dar. Dies übernimmt in Deutschland seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 neben den Asylverfahren und der Entscheidung über deren Bewilligung auch die Aufgabe der Integration von geflüchteten Menschen (vgl. Meier-Braun 2015: 45). Die Auswahl der analysierten Artikel bezieht sich auf einen Zeitraum, während dem alle Mitgliedsstaaten der EU sowie Bosnien und Herzegowina, Ghana, Mazedonien, Senegal und Serbien (vgl. Meier-Braun 2015: 87) als „sichere Herkunftsstaaten“ gelten. Laut dem Glossar des BAMF sind das Staaten,
[...] bei denen aufgrund allgemeiner politischer Verhältnisse die gesetzliche Vermutung besteht, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet (BAMF 2016: 1).
Renate Zöller kritisiert daran, dass Ghana und Albanien kurzerhand zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt werden um die Abschiebung zu vereinfachen und zu beschleunigen: „Ein despektierlicher Unterton schwingt mit, wenn Albaner, Kosovaren oder Ghanaer „Wirtschaftsflüchtlinge“ genannt werden“ (Zöller 2015: 103). Als Beweggrund für die Bewertung einiger Staaten als „sicher“ sieht Zöller eine Vermeidungsstrategie: „Letztlich nämlich ringen die europäischen Staaten darum, möglichst wenigen Flüchtlingen Zuflucht gewähren zu müssen“ (Zöller 2015: 103). Über 507 Millionen Einwohner hat die europäische Union, so dass aktuell über eine Million Flüchtlinge nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen und ohne Probleme versorgt werden könnten (vgl. Zöller 2015: 104). „Trotzdem machen sich in Europa überall Überfremdungsängste breit [...]“ (Zöller 2015: 104); so mahnte auch der UN-Hochkommissar António Guerres: „Ängste von angeblichen Massenbewegungen von Flüchtlingen in die Industrieländer sind stark übertrieben“ (Zöller 2015: 103f). Diese Ängste treffen im Jahr 2015 auf das, was die stellvertretende Flüchtlingskommissarin Katharina Lumpp als „[...] das größte Flüchtlingsdrama unserer Zeit vor den Toren Europas“ bezeichnet (Lumpp, zit. nach PRO ASYL 2016b: 5).
Ein Ansatz um die Ursachen dieser Ängste fassen zu können, liegt im Verhältnis zwischen „Deutschen“ und „Flüchtlingen“ bzw. in deren Konstruktion. Die leibliche, unmittelbare Wahrnehmung und der Kontakt zwischen der deutschen Bevölkerung und den geflüchteten Menschen bleibt gering da die meisten Flüchtlingsunterkünfte am Rande von Städten verortet werden was u.A. die diskurstheoretisch arbeitende PolitikwissenschaftlerInnen Alena Reichmayr und Jannick Popelka dazu veranlassten herauszustellen, dass der den geflüchteten Menschen zugewiesene Platz „[...] jenseits des Gemeinsamen“ (Reichmayr und Popelka 2013: 14) liegt. Insofern muss die massenmediale Vermittlung als der Hauptzugang und der Konstruktionsknotenpunkt der Diskurse zum Thema geflüchtete Menschen gelten. Dadurch verspricht eine Diskursanalyse dieser Medien besonders aussagekräftig Feststellungen über gesellschaftliche Vorstellungen von geflüchteten Menschen treffen zu können.
2.4 Diskurstheoretische Perspektiven auf die Konstruktion des Flüchtlings in Deutschland
Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es ein breites Feld an Forschungsperspektiven, die sich mit Migration und Flucht auseinandersetzen. Die für diese Arbeit erhobene, spezifisch diskurstheoretische Literatur zu Flucht und Asyl aus dem deutschsprachigen Raum ist jedoch überschaubar.
Einen diskurstheoretischen Ansatz der Konstruktion von „Flüchtlingen“, verfolgen die Erziehungswissenschaftler Heike Niedrig und Louis Henri Seukwa mit dem Forschungsschwerpunkt Migration und Flucht. Anhand postkolonialer theoretischer Ansätze dekonstruieren sie die „[...] essenzialisierende Kategorie „Flüchtling““ (Niedrig und Seukwa 2010: 181). Anhand der Dreiecksstruktur Täter-Opfer-Retter arbeiten sie die von europäischen „Weißen“ dominierten diskursiven Strategien heraus, die „[...] eine Funktion [für] die national kodierte Selbstdeutung der Mehrheitsgesellschaft“ (Niedrig und Seukwa 2010: 181) hat.
Eine veröffentlichte Projektstudie von Alena Reichmayr und Jannick Popelka stellt die Frage nach der politischen Subjektposition von geflüchteten Menschen in Deutschland (vgl. Reichmayr und Popelka 2013). Indem geflüchtete Menschen an der durch ein emanzipatorisches Politikverständnis charakterisierten Theorie von Jacques Rancièrs kontrastiert werden, wird deutlich, dass geflüchteten Menschen die Position als politisches Subjekt in der deutschen Gesellschaft verwehrt bleibt:
Aus der einen Perspektive wird die Asylbewerberin also mit dem Missbrauch des Asylrechts identifiziert, aus der anderen ist sie das Opfer von Diskriminierung im Heimatland, die den Schutz der Bundesrepublik benötigt. Beide Perspektiven sind nicht fähig, sie als ein politisches Subjekt zu begreifen (Reichmayr und Popelka 2013: 14).
Neben dieser Unfähigkeit, geflüchteten Menschen Handlungsspielräume zu gewähren, stellt Anna Jobst heraus, dass „dem Flüchtling“ diskursiv eine Rolle der Schwäche und Schutzlosigkeit zugeschrieben wird (vgl. Jobst 2012). Dadurch wird in den Vorstellungen der Menschen eine enge Relation zwischen „passivem Opfer“ einerseits und „Flüchtling“ andererseits evoziert, die den geflüchteten Menschen beinahe jegliche Autonomie abspricht: „Sie sind fremd-bestimmt und -gesteuert, ein Spielball der bösen Mächte, der europäischen Regierungen und ihrer Helfer, die ihnen ihre Subjektivität rauben“ (Jobst 2012: 58).
Neben diesem engeren Feld an diskursorientierten Arbeiten über geflüchtete Menschen gibt es ein weites Feld an Arbeiten die Darstellungsweisen von „Migranten“ in den Massenmedien behandeln. Diese bleiben jedoch weitestgehend in den diskursimmanenten Strukturen verhaftet und finden daher in dieser Arbeit nur peripher Anklang.
In den einleitenden Kapiteln zeichnet sich ab, dass die Sprache sowie die massenmediale Vermittlung von geflüchteten Menschen eng mit deren Konstruktion sowie der daraus folgenden Inklusion oder Exklusion verquickt ist. Wie dieser wirklichkeitshervorbringende Charakter der Sprache in ihren multiplen Extensionen zu fassen ist und wie darin konstruierte Vorstellungsräume entstehen, dem wird sich das folgende Spektrum an Theorien widmen.
3. Foucault and Friends: Theoretisches Handwerkszeug
Zunächst werden in diesem theoretischen Teil der Arbeit einige Begriffe und deren Verwendung definiert. Anschließend wird Foucault als Herzstück der hier entworfenen theoretischen Perspektive vorgestellt. Dieser eröffnet uns einen Blickwinkel auf die Wirklichkeit, die uns in besonderem Maße Zugang zur Konstruktion des „Flüchtlings“ ermöglicht. An Foucault anschließend werden theoretische Ansätze diskutiert die erstens Foucaults Diskurstheorie an einen postmodernen Diskurs adaptieren und zweitens Foucaults theoretische Ansätze durch einige griffige Ansatzpunkte erweitern.
3.1 Vom „Diskurs über Flüchtlinge in den Medien“ zur „Diskussion über massenmedial vermittelte, geflüchtete Menschen“: Einige Überlegungen zum Begriffsgebrauch
Schon dem Wort „Flüchtling“ sind einige essentialisierende Konnotationen inhärent. Es wird gebildet aus dem Verb „flüchten“ und dem Ableitungssuffix „-ling“ und verknüpft sprachlich also die Person mit der dauerhaften Eigenschaft des Flüchtens. „Flüchtling“ ist nach Seukwa jedoch „[…] kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein Rechtskonstrukt, das als eine Folge institutionellen Handelns in der Ankunftsgesellschaft gesehen werden muss“ (Seukwa 2010: 3, zit. nach Geiger 2016: 18). In dieser Form kommen in der Literatur immer wieder Warnungen vor der „Naturalisierung der Flüchtlingsexistenz“ (Hemmerling 2003: 15, zit. nach Geiger 2016: 18) vor. Die Essentialisierung von geflüchteten Personen, die ihre Flucht als Identität vom Bezeichnenden „vermacht bekommen“, marginalisiert ihre individuelle Vielfalt. Der sächsische Flüchtlingsrat kritisiert daher treffend:
Hinter der Versachlichung, die durch das Suffix „-ling“ entsteht, verschwinden persönliche Hintergründe von Personen, Bildungs- und Berufsgeschichten, persönliche Interessen und politische Meinungen. Daher ist es angebrachter, von „geflüchteten oder geflohenen Menschen“ zu sprechen (Sächsischer Flüchtlingsrat 2015: 2).
In dem vorrausgegangenen Zitat befindet sich der Hinweis, dass die Flucht der Menschen durch ihre Bezeichnung als geflüchtete Menschen zu einer Episode in ihrem Leben wird und nicht zum essentialistischen Hauptkriterium. Handlungen, die in der Regel zeitlich begrenzt sind, werden durch die Dauerhaftigkeit der sprachlichen Verknüpfung zu einer essentialisierenden Identitätszuschreibung. Die Tendenz der von Außen stattfindenden Essentialisierung findet sich in der späteren Analyse signifikant wieder, was in Verbindung mit der wortimmanenten Zuschreibung verstärkt wird. Wenngleich neben der Bildzeitung die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Wortkonnotation punktuell selbst reflektierten, so verwendeten doch alle drei Zeitungen innerhalb des analysierten Zeitraumes fast ausschließlich das Wort „Flüchtling“ zur Bezeichnung geflüchteter Menschen. Da die Bezeichnung „Flüchtling-in“ nicht gebräuchlich ist, stellt das Wort „Flüchtling“ zudem ein generisches Maskulinum dar, das durch die Verwendung der Bezeichnung „geflüchtete Menschen“ vermieden werden kann. Das wichtigste Kriterium, aufgrunddessen in dieser Arbeit von „geflüchteten Menschen“ gesprochen wird, hängt jedoch mit dem sprachtheoretischen Paradigma zusammen, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Zur Dekonstruktion des „Flüchtlings“ ist es notwendig, sich von seiner normativen Rezeption zu lösen und diese als Konstrukt zu entlarven. Dazu ist ein neues Vokabular hilfreich, da dieses erstens analytisch treffender ist und zweitens eine neue, dekonstruierte Perspektive eröffnet. Auch die Philosophin Hannah Arendt schrieb 1943 in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ über die individuellen Konsequenzen der Essentialisierung in Bezug auf die Identität angekommener Menschen:
Nur sehr wenige Individuen bringen die Kraft auf, ihre eigene Integrität zu wahren, wenn ihr sozialer, politischer und juristischer Status völlig verworren ist. Weil uns der Mut fehlt, eine Veränderung unseres sozialen und rechtlichen Status zu erkämpfen, haben wir uns statt dessen entschieden, und zwar viele von uns, einen Identitätswechsel zu versuchen. Und dieses kuriose Verhalten macht die Sache noch viel schlimmer (Arendt 1943: 7f.).
Arendt kritisiert diese Form der Diskriminierung als „soziales Mordinstrument“ und schließt ihre Stellungnahme mit der Zurückführung auf das Wort „Flüchtling“: „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns „Flüchtlinge“ nennt“ (Arendt 1943: 21).
Neben dem Wort „Flüchtling“ wird in dieser Arbeit auch das Wort „Diskurs“ nicht alltagssprachlich gebraucht, sondern in einem engen Bezug zur foucaultschen Diskursanalyse verwendet. Im Alltagsgebrauch meint Diskurs meist die sprachliche Auseinandersetzung mit einem Thema unter einer wissenschaftlichen Perspektive. Diskurs wird auch als „niveauvolles“ Gespräch oder Dialog verstanden. Der Diskursbegriff bei Foucault hingegen bezieht sich auf alle sprachlichen Äußerungen (vgl. Jäger 2000: 1) und ist eng mit einem theoretischen Konzept verbunden, das im Anschluss erläutert wird.
Zudem wird in dieser Arbeit zwischen Medien und Massenmedien unterschieden. Unter Medien subsumiert diese Arbeit – im Rückgriff auf medientheoretische Ansätze wie etwa bei Martin Seel – alle möglichen Medien des Wahrnehmens und versteht diese philosophisch, medientheoretisch als offenen Begriff (vgl. Seel 1998: 250f.). Massenmedien bezeichnen jedoch in dieser Arbeit die im Alltagsgebrauch als „Medien“ bezeichnete „vierte Gewalt“ der öffentlichen Massenmedien.
3.2 Einführung in die Diskurstheorie Foucaults. Einige Werkzeuge aus seiner „Kiste“
„Die Wirklichkeit ist diskursiv“ (Jäger 1996: 1)
In diesem Kapitel wird erörtert, wie die Wirklichkeit durch eine radikal-konstruktivistische Perspektive als diskursiv-konstruiert wahrzunehmen ist und gezeigt, wie dadurch Ansätze für eine fruchtbare Analyse von Identitätszuschreibungen wie etwa bei den „Flüchtlingen“ eröffnet werden.
Um die foucaultsche Diskurstheorie zu verstehen, ist es notwendig, sich von der Position einer „Alltags-Rezeption“ zu lösen, in der die Wirklichkeit oftmals naturalisiert und gesetzte Normen universalisiert werden. Einleitend werden einige Ansätze von Sprachtheoretikern vorgestellt, auf Basis deren Erkenntnisse Foucaults Diskurstheorie leichter und gleichzeitig fundierter verstanden werden können. Vom Diskursbegriff Foucaults ausgehend werden die im Diskursbegriff wirkenden Elemente der Wahrheit, der Macht, des Wissens und der Kritik vorgestellt. Durch das semantische Verhältnis und das Ineinandergreifen dieser einzelnen Elemente innerhalb des Diskursbegriffs Foucaults, werden die Wirkmechanismen der Diskurstheorie offengelegt und die Anwendbarkeit der Begriffe in der abschließenden Analyse ermöglicht. Abschließend wird die Diskurs theorie in ihren Grenzen skizziert und durch selbstreflexive Anmerkungen die Möglichkeiten in der Diskurs analyse aufgezeigt.
Foucaults diskurstheoretischer Ansatz ist vor dem Hintergrund des theoretischen Ansatzes des Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure besser zu verstehen.
Saussure ist ein Fixpunkt in allen Geschichten der Linguistik und der Kulturwissenschaft, denn mit seinem Namen ist das verbunden, was als Strukturalismus zu einer der wirkungsmächtigsten Theorien in der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts werden sollte (Jäger 2010: 1).
Der von Ludwig Jäger zusammengefasste Einfluss Saussures beruht auf den folgenden theoretischen Ansätzen. Saussure unterscheidet zwischen „Signifikant- und Signifikat-Qualitäten“ (vgl. Jahraus 2016: 29) von Worten. „Signifikant“ ist dabei die Zeichenkette beispielsweise F-l-ü-c-h-t-l-i-n-g als Zusammensetzung semiotischer Einzelteile beziehungsweise die sprachliche Lautfolge. „Signifikat“ bezeichnet hingegen die mit dem Signifikanten verbundene Inhalts- und Bedeutungsseite. Signifikat und Signifikant sind in einer beliebigen, willkürlichen Weise miteinander verbunden. Diese Willkürlichkeit der Verbindung wird auch als „die Freiheit des Zeichens“ bezeichnet. Diese Bezeichnung basiert auf der Annahme, dass es keine im Zeichen selbst liegende und der Zeichensynthese vorausliegende Eigenschaft gibt, die diese an eine Bedeutung bindet (vgl. Jahraus 2016: 28f.). Diese als Arbitraritätsprinzip bezeichnete „Beliebigkeit des Signifikanten“ radikalisiert etwa der Psychoanalytiker Jacques Lacan und löst die Bedeutungsebene völlig von der Zeichen- und Sprachebene (vgl. Evans 1996: 269).
Der Soziologe Stuart Hall verdeutlicht diese Gedanken anhand eines Steins. Dieser existiert zwar unabhängig von unserer Beschreibung von ihm, er ist aber erst aufgrund eines Systems, mit dem wir Objekte „[...] klassifizieren und bedeutungsvoll machen [...]“ (Hall 2002: 107), als „Stein“ zu definieren. Das System funktioniert nach Hall durch Abgrenzung einzelner Entitäten voneinander innerhalb der Sprache und des damit verbundenen Bedeutungssystems. Die Bedeutung entsteht nicht aus den Dingen selbst, der Realität, sondern aus Sprachspielen und Klassifikationssystemen, in welche diese eingeordnet werden. Daraus folgt, dass „Fakten“ eben so sehr als diskursive Phänomene aufgefasst werden müssen (vgl. Hall 2002: 107).
Auf Saussures Arbitraritätsprinzip eingehend erweitert Hall die Wirkmächtigkeit dieses Phänomens durch die Naturalisierungstendenzen während der Zuschreibungsprozesse: „The meaning is not in the object or thing, nor it is in the world. It is we who fix the meaning so firmly that, after a while, it comes to seem natural an inevitable“ (Hall 1997: 7). Der Mensch sieht den Worten die Dinge, die sie repräsentieren, nicht an. Und Hall stellt an Saussure sich anschließend fest:
The main point is that meaning does not inhere in things, in the world. It is constructed, produced. It is the result of a signifying practice – a practice that produces meaning, that makes things mean (Hall 1997: 24).
Nach Hall versieht der Menschen die Worte erst mit Sinnkonstruktionen, die im Laufe der Zeit naturalisiert werden. Wie er deutlich macht, gilt dies für alle sprachlichen Repräsentationen, doch um so mehr, wenn diese keinen gegenständlichen Bezugspunkt haben sondern auf eine immaterielle, hoch komplexe soziale Konstruktion abzielen. Begriffe wie „Heimat“, „Land“ oder „Deutschland“ sowie „fremd“ und „eigen“ oder nicht zuletzt „Flüchtling“ müssen folglich schon allein aufgrund der Komplexität ihres Verweisungszusammenhangs als in hohem Maße konstruiert wahrgenommen werden.
Insofern kann das an den Anfang gestellte Zitat: „Die Wirklichkeit ist diskursiv“ (Jäger 1996: 1) wie folgt verstanden werden: „Es existiert für uns Menschen keine Wirklichkeit die nicht von Diskursen durchdrungen ist“ da es zwar die Dinge unabhängig des Diskurses geben mag, diese aber allein vermöge diskursiv durchdrungener Vermittlung für uns erkennbar sind. Daher spielt die Frage nach der basalen Wirklichkeit, durch die Negierung ihrer unmittelbaren Erfahrbarkeit, für die Diskurstheorie kaum eine Rolle. Im Kontext dieser theoretischen Überlegungen ist auch der „cultural turn“ zu erwähnen, dessen Grundlage in der Umkehrung der Beziehung, die üblicherweise zwischen den Vokabeln der Dingbeschreibung und den Dingen an sich angenommen wird, zu sehen ist. Der einflussreiche Vertreter der „cultural studies“, Paul Du Gay, stellt fest:
In jüngsten Jahren jedoch ist die Beziehung zwischen Sprache und den beschriebenen Objekten Gegenstand eines radikalen Neudenkens geworden. Der Sprache ist eine viel größere Bedeutung zugeschrieben worden. Theoretiker vieler Forschungsbereiche – Philosophie, Literatur, Feminismus, Kulturanthropologie, Soziologie – sehen Sprache als realitätsschaffend an und nicht als rein beschreibend (Du Gay 1994: 5).
Genau diese konstitutive bis hin zur realitätsschaffenden Wirkungsweise von Sprache und Schrift schließt an Foucaults Diskurstheorie an. Seine Arbeitsgebiete belaufen sich im Kern auf das System der Geisteskrankheit, der Strafjustiz, der Delinquenz und der Sexualität. Er sieht diese als von machtausübenden Normensetzungen durchdrungen und basiert seine Theorie der Diskursanalyse auf diesen Beobachtungen. Er hat dabei keinen festen Begriff des Diskurses gezeichnet, sondern diesen, wie der Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker siegfried Jäger es nennt, „umkreist“ (Jäger 1996: 7). Er verwirft im Laufe seines Lebens theoretische Ansatzpunkte und nimmt neue hinzu. Insofern werden seine Arbeiten in Quellen von DiskurstheoretikerInnen wie Angelika Magiros oder Siegfried Jäger als „Werkzeugkiste“ verstanden, aus denen Theoretiker schöpfen können (Jäger und Zimmermamm 2010: 1) (Magiros 2005: 332).
Wie eingangs erläutert, stehen sprachliche Äußerungen in keinem konsistenten Verhältnis zur basalen Wirklichkeit. Auch Foucault schreibt: „Der Diskurs ist kaum mehr als die Spiegelung einer Wahrheit, die vor ihrem eigenen Auge entsteht“ (Foucault 2003: 32). Ähnlich wie in Platons Höhlengleichnis die Projektionen an der Wand (vgl. Platon: 515), wird durch den Diskurs dem Menschen eine Wirklichkeit konstruiert, die mehr durch die diskursinhärenten Mechanismen definiert wird als durch die Wirklichkeit, auf die sich diese beziehen. Hierzu schreibt Foucault vertiefend:
Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muss den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun […] (Foucault 2003: 34f.).
Der Mensch stülpt der Welt folglich ein Bild über, dass durch die diskursive Praxis definiert wird. Foucault öffnet jedoch den Diskursbegriff von einem rein sprachlichen Akt zu einem außersprachlichen, interaktionistischen Raum hin:
Diskurs ist immer nur ein Spiel: ein Spiel des Schreibens im ersten Fall, des Lesens im zweiten Fall oder des Tauschens im dritten. Und dieses Tauschen, dieses Lesen, dieses Schreiben spielt immer nur mit den Zeichen. Der Diskurs verliert so seine Realität, indem er sich der Ordnung der Signifikanten unterwirft (Foucault 2003: 33).
Diskurse dürfen nicht als eine Art neutrales Medium begriffen werden, das das in ihm Formulierte nur vermittelt. Vielmehr müssen sie als etwas verstanden werden, das sich der Ordnung der Signifikanten unterwirft (vgl. Foucault 2003: 33) und sich dadurch von der basalen Wirklichkeit noch entfernt. Hall zufolge beziehen sich die foucaultschen Diskurse auf „[…] die Produktion von Wissen durch Sprache“ (Hall 1994 : 150). Diskurse müssen folglich als Repräsentationssysteme verstanden werden, in denen im Medium der Sprache, Schrift oder sonstiger menschlicher Repräsentationsformen Korridore an als wahr geltenden Aussagen bereitgestellt werden, in denen die Sprecher befähigt werden, sich über einen bestimmten Gegenstand auszutauschen. Dabei wirken Ausschlussmechanismen, die nur eine spezielle Art von Wissen bereitstellen. Hall verdeutlicht den Diskursbegriff Foucaults
[Der Diskurs] verweist auf Äußerungen in einem beliebigen Sprachbereich, die gleichzeitig eine Sprache über ein Themengebiet ermöglichen und eine Form des Spezialwissens über dieses Thema produzieren (Hall 2002: 107).
Jede Diskursebene, wie Themengebiete in der Diskursanalyse bezeichnet werden, definiert sich folglich als Ebene durch das ihr inhärente Spezialwissen. Dieses Wissen ist auch deshalb machtvoll, da es zu Handlungen führt. So fasst Hall den Diskursbegriff Foucaults, zusammenfassend als einem, der
[...] auf die Produktion von Wissen durch Sprache und Repräsentation als auch auf die Art und Weise [abzielt], wie dieses Wissen institutionalisiert wird und damit soziale Praktiken formt und ins Spiel bringt (Hall 2002: 107).
Hier macht Hall die Performativität von Diskursen durch ihre Institutionalisierung deutlich. Sprache und Praxis, Denken und Handeln sind beim foucaultschen Diskursbegriff eng miteinander verbunden. Nach Foucault wäre beispielsweise der deutsche Diskurs über geflüchtete Menschen mit einer Haltung verknüpft, die prägend für das Verhalten der Deutschen gegenüber den geflüchteten Menschen ist. Diskurse wirken zusammengefasst als reglementierend und durch die Feststellung von Wahrheit machtvoll innerhalb verhandelter Themengebiete.
Zugleich betont Foucault jedoch auch die Offenheit und Veränderbarkeit von Diskursen, indem er diese fasst als [Singularitäten], die sich aufgrund ihrer Akzeptabilitätsbedingungen fixieren, und zugleich zu einem Feld von möglichen Öffnungen und Unentschiedenheit, von eventuellen Umwendungen und Verschiebungen, welche sie fragil und unbeständig macht, [hin öffnet] [...] (Foucault: 1992: 40).
Diskurse müssen folglich als ambivalent wirkend gesehen werden. Einerseits sedimentieren sie Normen, Werte, Hierarchien, Ausgrenzungsmechanismen usw., andererseits sind deren Akzeptabilitätsbedingungen angreifbar und somit potentiell Veränderung unterworfen. Link definiert Diskurse zusammenfassend als „[…] geregelte, ansatzweise institutionalisierte Redeweisen als Räume möglicher Aussagen, insofern sie an Handlungen gekoppelt sind und dadurch Machtwirkungen ausüben [nach Foucault]“ (Link 2005: 18, zit. nach Jäger 2012: 26). Auch der Soziologe und Diskurstheoretiker Rainer Diaz-Bone fasst im foucaultschen Sinne Diskurse, in Bezugnahme auf die darin auftretenden Diskurselemente, als
[..] tatsächlich auftretende Aussagen, die in einer Epoche in einem sozialen Feld ein Aussagesystem gebildet haben oder bilden. Diese Aussagen sind wirkmächtig, sie sind Wissen hervorbringend und reproduzieren Praktiken (Diaz-Bone 2005: 540).
Um die Dimension der hier vorgestellten Diskursbegriffe besser zu verstehen und anwendbar zu machen, werden im folgenden die Begriffe Wahrheit, Macht, Wissen und Kritik und ihre Wirkungsweise sowie ihre Verknüpfung innerhalb der Diskurstheorie dargestellt. Zudem wird der an den Wahrheitsbegriff gekoppelte Begriff der Doktrin vorgestellt.
Geht man der Frage nach, wie Diskurse zur Wirklichkeit stehen, trifft man unweigerlich auf den Begriff der Wahrheit. Als allgemeine, alltagssprachliche Wahrheitsdefinition setzt die Arbeit, zur illustrativen Kontrastierung des foucaultschen Wahrheitsbegriffs, die Übereinstimmung einer Äußerung mit der Wirklichkeit. Foucault nähert sich in seinem Buch „Diskurs und Wahrheit“ dem Wahrheitsbegriff zunächst über die Etymologie des griechischen Wortes „parrhesia“ (dt.: alles zu sagen) und dessen Verwendung in der Geschichte seit der Antike (vgl. Foucault 1996: 12). Er stellt sich dabei in Bezugnahme zur griechischen Philosophie die Frage:
[...] welches sind die moralischen, die ethischen und seelischen Bedingungen, die jemanden berechtigen, sich selbst als Wahrsprecher zu präsentieren und als ein Wahrsprecher angesehen zu werden? […] welches ist die Beziehung zwischen der Tätigkeit des Wahrsprechens und der Machtausübung? (Foucault 1996: 177).
Hier wird deutlich, dass Foucault auf der Suche nach „Wahrheit“ nicht nach der Übereinstimmung zwischen Äußerungen und der Wirklichkeit fragt, sondern nach dem Spannungsfeld zwischen dem Subjekt zu sich selbst, seiner äußeren Rezeption und einem irgendwie gearteten Machtgefüge. „Parrhesiastisches Sprechen“ wird von Foucault als ein Sprechen definiert, das von einer Subjektposition ausgeht, die sagt: „ (…) ich bin derjenige, der dieses und jenes denkt“ (Foucault 1996: 11). Schon aus dieser Definition geht ein Wahrheitsbegriff hervor, der nicht in der Wirklichkeit fußt, sondern subjektgebunden ist. Foucault zeigt, dass „parrhesia“ auch als ein „Wahr-Sprechen“ definiert wurde, das nur aus der hierarchisch unterlegenen Position heraus praktiziert werden kann:
Weil der parrhesiastes [der Wahr-Sprechende] ein Risiko eingehen muss, indem er die Wahrheit spricht, kann der König oder der Tyrann im Allgemeinen das parrhesia nicht gebrauchen, denn er riskiert nichts (Foucault 1996: 15).
Foucaults Wahrheitsbegriff scheint also neben der Gebundenheit an eine Subjektposition auf der Begründung in der Personenkonstellation der Sprechenden zu fußen. Es ist folglich ein subjektrelationales Phänomen und keines der Tatsächlichkeit im Sinne der Übereinstimmung von Äußerungen und Wirklichkeit. Der Kontext definiert folglich den Wahrheits- oder Unwahrheitsgehalt von Äußerungen, wodurch Irrtum und Wahrheit nur innerhalb einer „definierten Praxis“ (Foucault 2003: 24) auftaucht und entschieden wird. Diese definierte Praxis bezeichnet Foucault auch als Doktrin. Diese „[...] bindet das Individuum an bestimmte Aussagetypen und verbietet folglich alle anderen [...]“ (Foucault 2003: 29). Dies hat zur Folge, dass der in der Doktrin gefasste Wahrheitsbegriff mit bedeutendem Einfluss auf das handelnde Subjekt wirkt. Das handelnde Subjekt oder die handelnde Gruppe von Subjekten wirken jedoch ihrerseits auf die Doktrin:
Die Doktrin führt eine zweifache Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen (Foucault 2003: 29).
In diesem Wechselspiel muss die Entstehung von Diskursebenen mit spezifischen Sagbarkeitskorridoren verortet werden, in denen spezifisches Wissen als wahr gilt. Insofern spricht Foucault davon, „im Wahren zu sein“ (Foucault 2003: 25) und nicht etwa von „die Warheit sprechen“. Auch in seiner „Archäologie des Wissens“ problematisiert Foucault die Produktion bestimmter Wahrheiten und entwickelt methodologische Ansätze, um den Konstruktionscharakter von Wahrheiten zu benennen. Er fasst darin zusammen:
Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre „allgemeine Politik“ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt (Foucault 1981 : 51).
Dem Konstruktionscharakter der Wahrheit zum Trotz, die nach Foucault weder von einem metaphysischen noch einem physischen Grund her Konsistenz gewinnt, wird durch die Bezugnahme auf die Wahrheit während des Diskurses Macht ausgeübt. Foucault schreibt in seinem Werk „Die Ordnung des Diskurses“ zur Problematisierung des Wahrheitsbegriffs:
Seitdem die Spiele […] der Sophisten verbannt worden sind, seitdem man ihren Paradoxen mit mehr oder weniger Gewissheit einen Maulkorb angelegt hat, scheint das abendländische Denken darüber zu wachen, […] daß der Diskurs lediglich als Kontaktglied zwischen dem Denken und dem Sprechen erscheint (Foucault 2003: 31).
Wo früher der Konstruktionscharakter von „wahren“ Äußerungen sichtbar blieb so verschleiert zunehmend der „Wille zur Wahrheit“ (Foucault 2003: 17) in der Gegenwart die tatsächliche, konstruierte Natur des als wahr Geltenden. Foucault fasst diese Dynamik in der historischen Perspektive indem er feststellt, dass die Wahrheit in der Vergangenheit als ein ritualisierter, gerechter Akt der Aussage aufgefasst wurde, wodurch sie als Konstrukt diskursiver Praxis sichtbar war. Heute wird die Wahrheit in der Aussage selbst verortet, wodurch diese in ihrer Konstruiertheit gleichermaßen verschleiert wird (vgl. Foucault 2003: 14). Am deutlichsten macht Foucault seine Kritik am Wahrheitsbegriff der Gegenwart, indem er feststellt:
Der wahre Diskurs, der die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringe nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, daß die Wahrheit die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern (Foucault 2003: 17).
Der Wille zur Wahrheit hat nun die Dynamik, ihren konstitutiven Konstruktionscharakter zu verschleiern und sich damit als eine quasi metaphysisch begründete naturalisierte Gesetzmäßigkeit zu etablieren, da das Ziel der Wahrheit den vorangestellten Willen nicht anerkennen kann ohne in einen Selbstwiderspruch zu versiegen. Die Konstruktion der Wahrheit innerhalb des Diskurses wird demnach geleugnet. Foucault bezeichnet dies als eine „[...] sehr alte [Form der] Eliminierung der Realität des Diskurses“ (Foucault 2003: 31). Link nennt dazu das Beispiel des Wirtschaftswachstums als Überlebensstrategie des Kapitalismus der sich heute als unumstößliche, geradezu metaphysische Wahrheit etabliert hat (vgl. Jäger 2012: 49).
Diskurse berufen sich auf Wahrheit und werden dadurch akzeptiert, wodurch sie wiederum die Teilnehmer des Diskurses unterwerfen. Link interpretiert Foucaults Verständnis von Diskurs und Wirklichkeit als ein solches, dass die Diskurse vis-à-vis der Wirklichkeit ein „Eigenleben“ führen (Jäger 2012: 33):
Der Diskurs determiniert Realität insofern als dass dieser vermittelt über die Subjekte in ihren gesellschaftlich-diskursiven Kontexten als Co-Produzenten und Mit-Agenten der Diskurse und der Veränderung von Wirklichkeit einbindet (Jäger 2012: 35)
Auch, wenn sein Wahrheitsbegriff subjektiv ist, so spielt für Foucault der Subjektbegriff dennoch eine geringe Rolle, da die Subjekte den beschriebenen diskursiv-konstruierten Doktrinen unterworfen sind. Dies führt etwa Wolf-Dieter Narr dazu bei Foucault vom „Tod des Subjekts“ (Narr 2006: 350) zu sprechen. Vor diesem Hintergrund fordert Foucault:
Man muß sich vom konstituierenden Subjekt, vom Subjekt selbst befreien, das heißt zu einer Gesellschaftsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag (Foucault 1978: 32, zit. nach Jäger 2012: 37).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Foucault von seinem Selbstverständnis als Kritiker und von seiner theoretischen Position des radikalen Konstruktivisten von keiner prädiskursiven oder sonstig metaphysischen Wahrheitsgrundlage ausgeht. Es geht ihm darum, deutlich zu machen, dass Vernunft und Rationalisierung als Wahrheitsbegründungen herangezogen werden um dabei als Deckmantel wirken, unter dem Macht im Diskurs gebündelt wird um Herrschaft auszuüben. Dabei sieht er im historischen Vergleich die vernunftbasierte Gesellschaft, die sich auf „Wahrheit“ begründet sogar als noch gefährlicher an, da die Subtilität ihrer Herrschaftsausübung ihre wahre Natur verschleiert und somit revolutionäre Strömungen hemmt. Als Beispiel bezieht er sich auf die Gefängnisse aus seinem Werk „Überwachen und Strafen“. Wo früher Grausamkeit offen „auf dem Marktplatz“ vom Staat ausgeübt wurde, konnte sie als solche erkannt werden. Die heutigen Haftanstalten leben ihre Herrschaft verborgen aus und fußen in pathologisierenden, juristischen usw., in jedem Fall rational begründeten Diskursen, wodurch diese sedimentiert werden (vgl. Foucault 2008 10ff.).
Diskurse wirken nicht als neutrale Vermittler oder als ein unpolitisches Medium zwischen Mensch/Mensch oder Mensch/Ding. Sie können in diesem Sinne also nicht als „unschuldig“ gelten (vgl. Auernheimer 2003: 72, zit. nach Schönhuth 2015: 1). Foucault schreibt dazu vertiefend:
Der Diskurs […] ist nicht einfach das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er ist auch Gegenstand des Begehrens; […] Er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht (Foucault 2003: 11).
Folglich lässt sich sagen, dass der auf „Wahrheit“ sich begründende Rahmen für Äußerungen von „Wissen“ abgesteckt wird, das als wahr gilt. In der durch das Begehren geleiteten Selektion, was als wahr gilt, kommt „Macht“ zum Ausdruck.
Dies wendet den Blick auf die Begriffe Macht und Wissen, die bei Foucault eng verknüpft sind. Denn es gilt bei Foucault gerade nicht, wie oft angenommen wird, „Wissen ist Macht“, sondern „Macht ist immer mit Wissen verbunden“ (vgl. Jäger 2012 38). Wahres Wissen hat im Rückblick auf die vorangestellte Wahrheitsdefinition für Foucault notwendig auch Konstruktionscharakter, denn so wie Wahrheit stellt auch Wissen für Foucault ein relatives Moment dar, um „[...] Erkenntnisverfahren und -wirkungen zu bezeichnen die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind“ (Foucault 1992: 32). Die Akzeptabilitätsbedingungen werden von Macht definiert. Diese Macht liegt aber nicht wie häufig angenommen „[...] in einer Sonne der Souveränität [...]“ (Foucault 1983: 113), also in einem Machtzentrum, sondern „[...] in dem bebenden Sockel der Kraftverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind“ (Foucault 1983 : 113). Dabei kommt jedem Macht zu. Auf Basis von allgegenwärtigen Aushandlungsprozessen, an denen jeder beteiligt ist, entstehen Diskurse in denen Macht zum Ausdruck kommt. Denn für Foucault gilt: „Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall“ (Foucault 1983: 114). Dabei definiert Foucault die Machtwirkung als eine, der „[...] viele einzelne, definierbare und definierte Mechanismen abdeckt, die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren“ (Foucault 1992: 32).
Wenn Wissen als wahr akzeptiert wird, kann sich dieses Wissen im Diskurs durchsetzen und führt zu Handlungen, wodurch Macht zum Ausdruck kommt. Aufgrund dieser implizierenden Verquickung von Macht und Wissen fordert Foucault für die praktische Diskursanalyse, „[...] einen Nexus von Macht-Wissen zu charakterisieren, mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems erfassen lässt“ (Foucault 1992: 33). Die Machtwirkung verbleibt nicht auf sprachlicher Ebene, sondern induziert Handlungen, wodurch diese einen allumfassenden Einfluss gewinnt. Foucault wehrte sich wiederholt gegen die Bezeichnung seiner Person als Philosoph und verstand sich selbst als Kritiker (etwa im Interview: Foucault 1992: 42f.). Foucaults Kritikbegriff wird hier theoretisch erörtert, ist aber auch im Hinblick auf die später erläuterte Methode zentral. Foucault positioniert Kritik in seinem Werk nach Ingo H. Warnke und Martin Reisigl im „[...] Spannungsfeld zwischen Macht, der Wahrheit und dem Subjekt“ (Warnke und Reisigl 2013: 23). Da er von der Unterwerfung des Individuums durch Machtmechanismen ausgeht, die sich auf Wahrheit berufen, definiert er Kritik folglich als
[...] die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung (Foucault 1990: 15).
Dabei setzt Foucault seinen Kritikbegriff dem Aufklärungsbegriff Kants gleich, den er als einen „Appell zum Mut“ definiert (vgl. Foucault 1992: 16). Kritik ist bei Foucault die Kritik der Macht, die unmittelbar an die Kritik der historisch gewachsenen Rationalisierung gebunden ist, wie in der Erläuterung des „Willens zur Wahrheit“ (Foucault 2003: 17) behandelt wurde. Die formulierten Kernfragen einer Diskursanalyse können folglich lauten: Wie kommt es, dass Rationalisierung als falsch verstandene quasi metaphysische Wahrheit „[...] zur Raserei führt? Welchem exzessiven Gebrauch sah [sie] sich (…) ausgesetzt? Und an welche Herrschaft ist sie dadurch gebunden?“ (vgl. Foucault 1992: 30). Durch eine solche Haltung kann es zur geforderten „Entunterwerfung“ des Subjekts kommen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sich das Subjekt aus der deterministischen Wirkungsweise der Diskurse lösen kann und inwieweit es durch die Kritik wahre Aussagen treffen kann, wenn die „Wahrheit“ als Konstrukt entwertet, ja sogar, als konstruktionsverschleiernd verpönt ist. Dieser Gedanke führt zum selbstkritischen bzw. foucaultkritischen und abschließenden Teil der Einführung in Foucaults Diskurstheorie. Foucault sieht ein wichtiges Moment seiner kritischen Haltung in der Selbstkritik:
Das Hauptmoment der kritischen Haltung muss gerade die Befragung der Erkenntnis über ihre eigenen Grenzen oder Sackgassen sein, auf die sie in ihrem anfänglichen und konkreten Vollzug stößt (Foucault 1992: 42).
Insofern werden hier zwei prägnante kritische Äußerungen aufgenommen, die im Bezug auf die Forschungsfrage relevant sind und einen Ausweg aus der Kritik, wie sie in dieser Arbeit umgesetzt wurde, aufzeigen. Eine zentrale Kritik an Foucault stammt von Jürgen Habermas. Dieser kritisiert, dass Foucault sich in einen
Widerspruch […] verwickelt, wenn er seine von Aktualität versehrte Kritik der Macht zur Analytik des Wahren derart in Gegensatz bringt, daß jener die normativen Maßstäbe entgleiten, die sie dieser entlehnen müsste (Habermas 1985: 131).
Auch wenn Habermas Foucaults Gesellschaftsanalyse in weiten Teilen in seiner Schrift „Die neue Unübersichtlichkeit“ anerkennt, so sieht er doch einen Widerspruch zwischen Foucaults Kritik der Macht und seinem eigenen Kritikverständnis bzw. der Analytik des Wahren (vgl. Habermas 1985: 131). Denn wenn Foucault die Kritik als eine gesellschaftliche Institution auffasst, die Macht ausübt, so sei diese nicht in der Lage, eine Kritik der Macht zu formulieren, ohne die eigene Argumentation zu unterlaufen.
Dieser Selbstwiderspruch zeichnet sich auch bei einem weiteren integralen Bestandteil der Theorie Foucaults ab. Da man mit Foucault die Sprache als Konstrukt und das Individuum als dem Diskurs weitgehend unterworfen ansieht, entzieht sich der Autor einer Diskursanalyse gleichsam die Aussagekraft. Ganz im Sinne des Selbstanwendungsarguments „Alles was gesagt wird, ist falsch“ begibt dieser sich in einen Selbstwiderspruch. Auch wenn sich dieser Widerspruch wohl nie ganz lösen lassen wird, bedient sich diese Arbeit einer Strategie, ihn zu umgehen: Denn, die Kritik greift nur, insofern vom Autor wahre Äußerungen erwartet werden. Die Stoßrichtung dieser Diskursanalyse hat jedoch eher das Ziel, Strukturen zu erkennen und danach zu fragen; wie und wodurch etwas als wahr gilt und demgegenüber alternative Sagbarkeiten sowie implizite Machtwirkungen aufzuzeigen. Dies geschieht allerdings nicht aus der Position der selbst-unterstellten Objektivität, sondern vielmehr aus der Erkenntnis ihrer Unerreichbarkeit. Auch Jäger gesteht ein, dass jede wissenschaftliche Arbeit, gewollt oder ungewollt eine politische Stoßrichtung verfolgt und somit um ehrlich zu sein der Objektivität abschwören muss (vgl. Jäger 2012: 10).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Foucaults diskurstheoretischer Ansatz als eine Haltung gegenüber der Wirklichkeit verstanden werden muss. Der im Spannungsfeld von Macht, Wissen und Subjekt gezeichnete Diskursbegriff eröffnet eine dekonstruktive eigene Sichtweise auf die Dinge und birgt in sich das Potential, diese aus ihrer Naturalisierung und ihrer Universalisierung zu heben und als ein mit Machtwirkungen versehenes Konstrukt zu fassen.
Diese Perspektive kann als Werkzeugkiste und die daran angeschlossenen und hier definierten Begriffe als Werkzeuge gelten. Diese ermöglichen uns herauszustellen: Der „Flüchtling“ in Deutschland ist nicht so, wie er gezeichnet wird, er wird so gewollt und in einem diskursiv konstruierten Vorstellungsraum geformt. Der Frage, wie diese Formung zu erfassen ist, wird sich in den folgenden Abschnitten des theoretischen Teils der Arbeit genähert.
3.3 Diskursanalyse und moderne Fremdenfeindlichkeit
Angelika Magiros untersucht die Potentiale der foucaultschen Diskurstheorie für die Analyse des „Fremdmachens“ und der Fremdenfeindlichkeit in der Moderne. Dabei entwirft sie eine Kontroverse, zwischen Adorno und Horkheimer einerseits sowie Foucault andererseits. Die Potentiale des foucaultschen „Instrumentariums“ (Magiros 2005: 331) zu theoretischen und methodischen Überlegungen bewertet sie als „[...] besonders leistungsstark und griffig [...]“ (Magiros 2005: 331) in Bezug auf die Analyse von Fremdenfeindlichkeit (vgl. Magiros 2005: 331). Sie müssten jedoch durch Erkenntnisse über die Postmoderne, wie sie von Horkheimer und Adorno in der „Kritik der Aufklärung“ formuliert wurden, erweitert und angepasst werden (vgl. Magiros 2005: 332).
Foucault zufolge gründen als wahr geltende Aussagen in der Moderne zusehends im Biologismus und der Pathologisierung (vgl. Magiros 2005: 332) ganz im Sinne des foucaultschen „Willens zur Wahrheit“ (Foucault 2003: 17). Diese Tendenz stellt eine Macht dar die „[...] eine heilende, schützende Macht sein will [...]“, die jedoch „[...] abwehrend, unterdrückend und gewalttätig bleibt“ (Magiros 2005: 332). Magiros kritisiert an dieser rationalisierenden Macht und insbesondere den pathologisierenden Tendenzen dieser Rationalisierung ihre abwehrenden Mechanismen. In diese passe die „[...] Behandlung des Fremden als „Kranken“ oder „Krankheitserreger“ – vom Therapiezwang gegen ihn bis hin zu den Vernichtungspolitiken der Nazis – zynisch gesprochen, nur zu gut“ (Magiros 2005: 333). Die Tendenz zur Rationalisierung verdeckt gleichsam ihr irrationales Ausgrenzungspotential und verhindert dadurch dessen Weiterentwicklung. So gilt für Magiros, dass Ausgrenzungsmechanismen gegen „Fremde“ nicht als randständige Ausnahme in unserer postmodernen Gesellschaft gesehen werden muss, sondern als deren integraler Bestandteil (vgl. 2005: 336). Foucaults Analysestrategien angewendet auf eben diesen Neo-Rassismus eignen sich für Magiros zunächst nicht da diese gerade bezüglich seiner wirkmächtigen Rationalisierungstendenzen versagen, denn:
[…] sein Kennzeichen ist, dass er die Menschen nicht mehr in biologisch Höher bzw. Minderwertige einteilt, sondern in verschiedene Kulturen, die sich gerade aufgrund ihres je eigenen irreduziblen Werts nicht über Gebühr vermischen dürfen (Magiros 2005: 336).
Eben diese Tendenzen des Neorassismus verhindern zunächst die klassische Anwendung diskursanalytischer Praktiken Foucaults. Der kulturalistisch argumentierende Neo-Rassismus, der nicht mehr objektive Wahrheiten für sich beansprucht, ist „[...] „leer“ und „dünn“ geworden“ (Magiros 2005: 337) und damit auch seine Diskurse (vgl. Magiros 2005: 337). An dieser Stelle vermögen Horkheimer und Adorno durch ihre Perspektive auf die Diskurse, diese wieder „gesprächig“ zu machen. Sie stellen auf Basis der Erkenntnis „[...] des Mythos dessen, was der Fall ist“ (Horkheimer und Adorno 1971: IX, zit. nach Magiros 2005: 336) den kulturalistischen Neo-Rassismus als den Prototypen moderner Rationalität heraus (Magiros 2005: 337). Der moderne Verstand läuft nur noch dem Gesetzt „des Stärkeren“ nach, da dieser „[...] den Vorzug der Tatsächlichkeit gegenüber der verlogenen Ideologie genießt“ (Horkheimer und Adorno 1969: 136). Erst die „einzige Wahrheit“ von Adorno und Horkheimer, dass dem Menschen keine Wahrheit zugänglich ist und dieser dem Widerspruch seines Daseins ausgeliefert ist, ist der Punkt, an dem Foucaults Perspektiven wieder fruchtbar werden. Mit Horkheimer und Adorno kann davon ausgegangen werden, dass kulturalistische sowie individualistische und auch die rationalisierenden Perspektiven nicht minder ideologisch durchdrungen sind. Wenn die diskursanalytische Perspektive an diese Prämisse gekoppelt wird kann wieder angefangen werden, auch in der Postmoderne, nach der ideologischen Durchdringung der Diskurse zu suchen. Magiros fasst abschließend den Fokus einer fruchtbaren Diskursanalyse der Fremdenfeindlichkeit als einen zusammen, der die Angst vor der Nicht-Identität zu fassen vermag:
Kurz und dialektisch: Um Foucaults identitätskritische These weiterführen zu können, muss man an diesem einen zentralen Punkt – an dem der menschlichen Nicht-Identität – seine Methodik der Wahrheitsvermeidung durchbrechen, die doch gerade im strikten Dienst seiner These entstanden ist (Magiros 2005: 340).
Die subtil gewordenen, ihre eigene Ideologie leugnenden, postmodernen Diskurse vermögen ihre eigene Konstruiertheit und Irrationalität besonders hartnäckig zu verschleiern. Daher fordert Magiros, „[…] hinter den „heroisch“ offen subjektivistischen, angeblich so illusionslosen Beschreibungen postmoderner Ideologien die inkarnierte Furcht zu entdecken“ (Magiros 2005: 341). Es wird letztlich die unumgängliche, schmerzliche Nicht-Identität „bis zur Unkenntlichkeit wegarrangiert“; dabei hat dieses Arrangement „[...] die Form des Hochmuts und der Abwehr gegen alles angenommen, was dieses Ganze stört“ (Magiros 2005: 341). Da die postmoderne Identität des Neo-Rassisten ohne objektives Kriterium auskommt, wiederholt das Subjekt schlicht seine Position und geht dabei nicht den Umweg über Ideologien (vgl. Magiros 2005: 342).
Diese Angst vor der Nicht-Identität kommt etwa zum Ausdruck bei Beobachtungen wie die von Stanley Hoffmann bezüglich der aktuellen Entwicklung bei Migrationsbewegungen:
Das sie heute nicht von Armeen und Panzern überrollt werden, sondern von Migranten, die andere Sprachen sprechen, andere Götter verehren, zu anderen Kulturen gehören und in Zukunft, so fürchten sie, ihnen ihre Arbeitsplätze rauben, ihr Land wegnehmen, ihre Sozialsysteme aufzehren und ihre Lebensweise bedrohen werden (Hoffmann 1990: 30, zit. nach Huntington 1996: 319).
Ängste dieser Art fußen nach Hoffmann „[...] auf echten kulturellen Konflikten und Sorgen über die nationale Identität“ (Hoffmann 1990: 30, zit. nach Huntington 1996: 319). Es zeigt sich auch die massive Bezugnahme auf die Nation als identitätsstiftendes Mittel die sich in Abgrenzung zu einem passend konstruierten „Außen“ konstituiert.
Es wird deutlich, dass das Erkennen der Furcht vor der eigenen Nicht-Identität innerhalb der Diskurse als zentraler Indikator für „Fremdmachungs-Prozesse“ gelten sollte. Zudem zeigt sie auf, dass der Neo-Rassismus kulturalistisch, individualistisch und damit ideologisch „dünn“ im Vergleich zu den bisherigen offen ideologisch argumentierenden Diskursen über das „Fremde“ geworden ist.
Um die Diskurse dennoch beschreiben zu können, wurden einige Theorien an die Diskurstheorie angeschlossen. Diese richten ihren Blick auf gleichsam identitätsstiftende wie ausgrenzende Mechanismen. Dazu gehört das theoretische Konzept des „Othering“, einige Überlegungen zu Raumkonstruktionen sowie die Hegemonietheorie, die uns ermöglicht, diskursive Konstruktionen von Identitäten im Raumbezug zu analysieren. Die drei Ansatzpunkte teilen mit der Diskurstheorie ihren poststrukturalistischen Charakter sowie ihren diskurstheoretischen Ansatz, wodurch diese nahtlos ineinander greifen. Die folgenden theoretischen Konzepte sind folglich als unmittelbare Extensionen der foucaultschen Diskurstheorie zu verstehen und haben die Funktion die „schweigenden Diskurse“ wieder zum sprechen zu bringen.
3.4 Die Theorie des „Othering“ und der Postkolonialismus
Rein sprachlich lässt sich die Begriffsschöpfung des „Othering“ transitiv mit „Jemanden anders(artig)machen“ oder „Veranderung“ übersetzen (von engl. other: „andersartig“ mit dem Suffix „-ing“, um das Substantiv bzw. Adjektiv zu einem Verb zu machen) und als die Distanzierungs- oder Differenzierungstechnik von Gruppen zu anderen Gruppen zur Bestätigung ihrer eigenen „Normalität“ beschreiben (vgl. Schönhuth 2005: 1). Das „Andere“ wird durch die Transformation zum Verb „anders-machen“ als intentionaler Akt der „eigenen“ Kreation umgewertet.
Die Dynamik der Selbst- und Fremd-Definition über Abgrenzungsmechanismen fanden erste Beobachtungen bei Karl Marx und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die im Zusammenhang mit dem Othering-Konzept viel zitierte Arbeit des Literaturkritikers und Theoretikers Edward Saids „Orientalism“ (Said 1978), beginnt mit dem Satz Karl Marx´ „Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden“ (Marx 1960: 198f., zit. nach Said 1978: 1), worin bereits wichtige Kernaussagen des theoretischen Ansatzes des „Othering“ festgehalten sind: Es gibt Gruppen von Menschen, die sich repräsentieren können und solche, die repräsentiert werden. Weiter heißt es an dieser Stelle bei Marx: „Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die [...] ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt“ (Marx 1960: 198f.). Hier macht Marx die umfassende Abhängigkeit der Repräsentierten von den Repräsentierenden am Klassenverhältnis deutlich und koppelt die Frage danach, wer „repräsentiert“ und wer „repräsentiert wird“, unmittelbar an die bezogene Machtposition.
Auch Hegel kann als Wegweiser zum Othering-Konzept gelten. In dem Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in seiner „Phänomenologie des Geistes“ geht Hegel von einem dialektischen Verhältnis zwischen Herr und Knecht aus. Denn die Elemente des „Selbst-Bewusstseins“, die für Hegel zur Identität führen, werden als „Für-sich-sein“ (Herr) und „Für-andere-sein“ (Knecht) erschlossen (vgl. Hegel 1807: 87). Für dieses dialektische Verhältnis ist ebenso wie bei Marx ein Machtgefälle der Zuschreibungsgewalt charakteristisch. So schreibt Hegel vom Verhältnis des Herrschers zum Knecht: „Es ist dadurch [durch das dialektische Verhältnis] ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden“ (Hegel 1807: 87).
Said verwendet diese Prämissen und wendet sie auf den postkolonialen Diskurs des Westens über den „Orient“ an. Dabei stellt er die diskursimmanenten Strategien heraus, wie der Westen einerseits seine imperialen Interessen durch die Essentialisierung des „Fremden“ legitimiert und andererseits die kolonialisierten Menschen von ihrer eigenen Unterlegenheit überzeugt: „Said in his book demonstrates how the Western literary and cultural canon has otherized its other and how they have misrepresented the Orient“ (Moosavinia 2011: 2).
Namentlich fand das „Othering-Konzept durch die marxistische Feministin Gayatri C. Spivak seinen begrifflichen Eingang in die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Für Spivak, die sich ebenfalls der postkolonialen Theorie widmete, ist der Begriff „Othering“ bezeichnend für den Prozess, durch den der imperiale Diskurs die Anderen bzw. „[...] das im Machtdiskurs ausgeschlossene Andere […]“ (Spivak 1985: 206) kreiert. Wie bei Marx und Hegel bereits deutlich wurde, nehmen die „Anderen“ dabei eine passive Position ein, die von den Beschreibenden abhängig, beziehungsweise diesen ausgeliefert sind.
Die wissenschaftliche Strömung des Postkolonialismus ist eng mit dem Begriff des „Othering“ verknüpft. Dabei begreift der Postkolonialismus die Kolonialzeit und die Sklaverei nicht als abgeschlossene „[...] dunkle Nebengeschichte der eigentlichen europäischen Geschichte [...] sondern als ihr integraler Bestandteil“ (Niedrig und Seukwa 2010: 186). Diese Idee fußt auf der Prämisse, dass die philosophischen und politischen Konzepte von Aufklärung, Zivilisation und wissenschaftlicher Rationalität erst in Abgrenzung zur „Wildheit“ und „Irrationalität“ der kolonialisierten Völker gedacht werden können. Die europäischen Nationen werden dabei als homogene Subjekte der Abgrenzung von den „anderen Wilden“ verstanden (Niedrig und Seukwa 2010: 187). Hall, der auch im Bereich des Postkolonialismus arbeitet, formuliert dazu passend: „Die Engländer sind nicht deshalb Rassisten, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind“ (Hall 1999: 93, zit. nach Broden und Mecheril 2010: 11). Hier zeigt sich eine klassische „Othering“-Konstellation, indem der Beschriebene in Abhebung zum „Eigenen“ konstruiert wird. Dadurch bekommt der Beschriebene eine konstitutive Funktion für das Selbstverständnis des Beschreibenden.
Diese Form der Selbstvergewisserung ist eng mit dem Denken in binären Oppositionen verknüpft (Mann/Frau, Geist/Körper, Sprache/Schrift, Kultur/Natur), wobei immer eine Seite privilegiert wird. Diese Dynamik wird auch als „Alterität“ bezeichnet, wobei davon ausgegangen wird, dass die eigene Identität immer in Abgrenzung vom „Anderen“ und in der Herabstufung des „Anderen“ hergestellt wird (vgl. Schönhuth 2005: 1). Die in der Analyse dieser Arbeit zugrunde gelegte Struktur der Codierung basiert darauf aufbauend auf eben solchen binären Oppositionen da diese die auf Alterität beruhende Denkstruktur aufgreift.
Astrid Velho und Oscar Thomas-Olalde unterscheiden aus postkolonialer Perspektive bezüglich des „Othering“, zwischen Subjektivierungs- und Objektivierungstendenzen. Objektivierungstendenzen bezeichnen den Prozess innerhalb des „Otherings“, bei dem die „Anderen“ als Objekte des Diskurses wahrgenommen werden. Es wird über sie gesprochen, aber nicht mit ihnen. Die zu den „Anderen“ gemachten bleiben im hegemonialen Diskurs folglich stumm und können sich nicht selbst repräsentieren sondern werden repräsentiert (vgl. Thomas-Olalde und Velho 2011: 30). Die im diskursiven Prozess angestrebte „Objektivierung“ versucht dabei, einen Sachverhalt in eine möglichst objektive Form zu bringen, indem sie diesen von möglichst vielen subjektiven Faktoren befreit. Dies führt zu Essentialisierung der Repräsentierten, da die subjektive Pluralität nivelliert wird. Venloh und Olalde erläutern die Objektivierungspraxis wie folgt:
Essentialising practices turn heterogeneous „bodies of knowledge“ into a compact „mantle of knowledge“ which makes it possible to turn socially produced „information“ into dominating and power-laden assertions about the „essentiality“ of the Others (Thomas-Olalde und Velho 2011: 30).
Die Objektivierungstendenz kann folglich als eine Praxis innerhalb des Diskurses gefasst werden, in der eine beschreibende Gruppe eine „andere“ Gruppe repräsentiert. Dabei kommt die repräsentierte Gruppe selbst nicht zu Wort und hat daher zum einen selbst keinen Einfluss auf ihre gesellschaftliche Wahrnehmung und wird zum anderen essentialistisch und reduktionistisch dargestellt. Ob dies sich bezüglich der deutschen Printmedien und geflüchteten Menschen abzeichnet, wird in der Analyse geklärt werden.
Als Gegenbild der Objektivierungspraxis tritt die Subjektivierungspraxis. Diese bezeichnet das Erzeugen von Subjekten mittels diskursiver Praxen, bei denen Menschen innerhalb des Diskurses positioniert werden. Die Subjektivierunsgpraxis tritt dabei als dominanter Diskurs auf. Ganz im Sinne Louise Althusser wird dabei das Subjekt innerhalb der Gesellschaft „ideologisch angerufen“, sich in eine Subjektposition zu begeben von der das Subjekt glaubt diese selbst zu wollen (vgl. Althusser 1976: 76ff.). Dabei ermöglicht die Subjektivierungspraxis Zuschreibungen und legitimiert diese gleichzeitig indem sie sich auf ein epistemologisch konstruiertes, dichotomes System bezieht, das eine klare Zuordnungen von Subjekten in geregelte Systeme eröffnet. Dies wirkt sich nach Mecheril und Thomas-Olalde deutlich auf das Leben der Betroffenen aus (vgl. 2011: 36).
Auch in heutigen Migrationsgesellschaften spielen „Othering-Prozesse“ eine Rolle. Während in Studien zur postkolonialen Theorie etwa von Said oder Spivak die zu „Anderen“ gemachten aus postkolonialer Sicht „the natives“ sind, d.h. die von den Kolonialmächten minorisierte Bevölkerung des jeweiligen Landes, sind im migrationspolitischen Kontext die zu „Anderen“ gemachten nicht so klar definiert. Dennoch lassen sich deutlich Strukturen des Otherings erkennen und ausmachen. So heißt es bei Said etwa:
[…] no matter how deep the specific exception, no matter how much a single Oriental can escape the fences placed around him, he is first an Oriental, second a human being, and last again an Oriental (Said 1978: 102).
In der Analyse wird sich zeigen, ob und inwiefern ein Bild der geflüchteten Menschen gezeichnet wird, dessen Perspektive „zuerst Flüchtling, dann Mensch und dann Flüchtling“ ist. Zunächst lässt sich jedoch festhalten, dass nach Meier-Braun „[…] immer noch Journalisten mit Migrationshintergrund fehlen“ (2015: 139), wodurch die Repräsentation der geflüchteten Menschen von „Außen“ per se bereits gegeben ist.
Die Analyse von Othering-Prozessen wird dazu dienen, innerhalb der deutschen Gesellschaft, Machtstrukturen auf Basis der zugeschriebenen Subjektpositionen herauszuarbeiten. Die dadurch bestimmte, durch diese Zuweisung zugeschriebene Handlungsmöglichkeiten können dadurch aufgezeigt sowie die je eigene Eingebundenheit in eben diese Machtstrukturen bewusst gemacht werden. In besonderem Maße ist die Konstruktionsweise des „Flüchtlings“ im Rahmen des „Othering“ als eine solche zu betrachten, die immer noch die Position des potentiellen Außen einnimmt, jedoch geographische Grenzen überschreitet und räumlich die Position des „Innen“ aus der Perspektive des Aufnahmelandes einnimmt. Welche Objektivierungspraxis Anwendung findet und welche Subjektpositionen geflüchteten Menschen dabei zugewiesen werden, gilt es folglich in der Analyse herauszuarbeiten.
[...]
- Arbeit zitieren
- Frederic Ecker (Autor:in), 2017, Die Konstruktion des Flüchtlings. Eine Diskursanalyse führender deutscher Tageszeitungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/448784
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