Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verlangt pädagogisches Feingefühl. Dies gilt insbesondere für LSBTTIQ-Jugendliche, die man für ihre sexuelle Identität häufig noch immer ausgrenzt und diskriminiert. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit setzt sich deshalb für eine bessere Einbindung von allen Jugendlichen ein.
Sie fordert Sozialarbeitende dementsprechend dazu auf, sich als Rollenvorbilder anzubieten. Dazu gehört es auch, Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner für sexuelle Entwicklungsaufgaben zu sein. Wie das gelingt, zeigt Daniel Marenke in seiner Publikation.
Die Sozialarbeitenden sollten eine Grundhaltung entwickeln, die die Belange von LSBTTIQ-Jugendlichen wahrnimmt. Dabei ist es besonders wichtig, keine Fremdzuschreibungen vorzunehmen, sondern die Selbstbezeichnungen der Jugendlichen zu respektieren. Daniel Marenke erklärt, wie Sozialarbeitende sich selbst und Andere für die Arbeit mit den Jugendlichen sensibilisieren.
Aus dem Inhalt:
- Gender Studies;
- Queer Studies;
- Sozialarbeit;
- Offene Kinder- und Jugendarbeit;
- Geschlechtsidentität
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abstract / Zusammenfassung
Theoretischer Teil
1 Einleitung
2 Begriffsannäherungen
2.1 Queer und Queer Theory
2.2 LSBTTIQ
3 Offene Kinder- und Jugendarbeit
3.1 Entstehung und Entwicklung des Arbeitsfeldes
3.2 Strukturelle Prinzipien und Inhalte
3.3 Pädagogisches Handeln
3.4 Geschlechterdifferenzierte Arbeit
3.5 Sexualpädagogik
3.6 Zugänge zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit
3.7 Arbeitsbeziehungen
4 LSBTTIQ-Jugendliche
4.1 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
4.2 Coming-out
4.3 Besondere Entwicklungsherausforderungen für LSBTTIQ-Menschen
4.4 Diskriminierungserfahrungen von LSBTTIQ-Personen
4.5 Nutzung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und anderer Unterstützungsangebote
Empirischer Teil
5 Zur Methodik des Expert_inneninterviews
5.1 Sampling und Aufbau
5.2 Das Kategoriensystem
5.3 Der Leitfaden
5.4 Durchführung und Transkription
6 Auswertung der Expert_inneninterviews
6.1 Hauptkategorie: Zugänge
6.2 Hauptkategorie: Bedarfe
7 Fazit und Ausblick
8 Literaturverzeichnis
9 Anhang
9.1 Anhang 1
9.2 Anhang 2
9.3 Anhang 3
9.4 Anhang 4
9.5 Anhang 5
Abstract / Zusammenfassung
Zusammenfassung
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist ein Arbeitsfeld Sozialer Arbeit, das sich nicht an eine konkrete Zielgruppe richtet, sondern für alle Menschen bis 27 Jahren nutzbar ist. Entsprechend den Forderungen der Landesregierung Baden-Württemberg aus dem Jahr 2012 sollen LSBTTIQ-Jugendliche stärker in das Angebot eingebunden werden. Es stellt sich jedoch die Frage, wie den Bedarfen, die diese Jugendlichen haben, im Arbeitsfeld begegnet werden kann. Das theoretische Gerüst der vorliegenden Arbeit bildet die Queer-Theory, anhand derer die Lebenssituation von LSBTTIQ-Jugendlichen betrachtet wird. Das Arbeitsfeld zeigt spezifische Herausforderungen, wie etwa die Aushandlung über Angebote mit der Klientel und die Freiwilligkeit der Teilnahme. Daher sind die Sozialarbeitenden gefordert, sich selbst als Rollenvorbilder mit ihren eigenen Einstellungen zur Verfügung zu stellen. Die Bewusstwerdung der eigenen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität geschieht oft im Jugendalter, weshalb für LSBTTIQ-Jugendliche Unterstützung in dieser Phase besonders wichtig ist. Sie erfahren immer noch Diskriminierung und Ablehnung und das innere und äußere Coming-out verlangen von ihnen ein hohes Maß an Selbstakzeptanz. Wie die passende Unterstützung geleistet werden kann, wurde anhand von Expert_inneninterviews mit Fachkräften aus dem Arbeitsfeld beleuchtet. Hier zeigte sich, dass die Sichtbarkeit von LSBTTIQ-Jugendlichen stark eingeschränkt ist. Daher sollte in Einrichtungen Trans*- und Homonegativität vermieden werden, über Symbole die Offenheit gegenüber der LSBTTIQ-Thematik gezeigt und spezifische Angebote angedacht werden. Die Sozialarbeitenden sollten eine Grundhaltung entwickeln, die die Belange von LSBTTIQ-Jugendlichen wahrnimmt. Sie können sich als Ansprechpartner_innen für sexuelle Entwicklungsaufgaben anbieten und ihre Ansprache sollten sie nicht aufgrund von Fremdzuschreibungen, sondern anhand der Selbstbezeichnungen der Klientel vornehmen. Eine Offene Kinder- und Jugendarbeit, die sich an den Bedarfen von LSBTTIQ-Jugendlichen orientiert, kann die Lebenssituationen dieser erheblich verbessern.
Abstract
The Open Youth Work in Germany is a branch of social work, which does not focus on a specific target group, but enables access to every individual under the age of 27. In 2012 the state government of Germany’s Baden-Württemberg, called for better inclusion regarding the LGBTQI-Youth. However, it remains unclear how the needs of LGBTQI-Youth can be met within this field of work. The theoretical foundation of this thesis is the queer theory, which provides perspective for examining the issues of the LGBTQI-Youth. Open Youth Work has specific challenges, such as negotiating deals with its clients and participation must be on a voluntary basis. Social workers must also offer themselves as role models by sharing their personal attitudes to relate. Often the realization that ones’ sexual orientation or gender identity differs from others’, occurs in adolescence, that’s why support for LGBTQI-Youth is extremely important. This specific group still is being discriminated against or rejected by peers and society. Coming-out is a process that takes a high degree of self-acceptance. Object of research within the empirical part of this thesis was to see how social workers, of the Open Youth Work, could assist therefore properly. Interviews were conducted with social workers who are currently employed in youth centers and other similar institutions. The results show, that LGBTQI-Youth are still strongly undermined and practically invisible to professionals. In conclusion, the thesis reflects that trans*-negative and homo-negative attitudes from peers should be avoided at all cost, while indications toward open mindedness can be used to show receptiveness. Specific programs can help complement open work. Social workers should develop a stance on this very issue and recognize the needs of the LGBTQI-Youth. Being a person to talk to about sexual topics can enable the youth to open-up about personal feelings. Addressing these individuals with a definition of their own choosing is crucial. If Open Youth Work opens itself for the needs of LGBTQI-Youth, it can drastically improve and support these Youths’ living conditions.
Theoretischer Teil
1 Einleitung
Im Juni 2012 beauftragte die Landesregierung Baden-Württembergs das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren einen Aktionsplan zu erstellen, der den Titel ‚Für Akzeptanz & gleiche Rechte Baden-Württemberg‘ tragen sollte. Entsprechend des damaligen Koalitionsvertrages der Regierungsparteien war das Ziel die „[…] Gleichstellung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren (LSBTTIQ) Menschen [...], um Baden-Württemberg ein neues und tolerantes Gesicht zu geben und zu einem Vorreiter für Offenheit und Vielfalt zu machen.“ (Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg 2015: 3). Es wurden konkrete Maßnahmen formuliert, die unter anderem auch auf die Anpassung der Jugendarbeit zielten. So wurden einerseits spezifische Angebote für LSBTTIQ-Jugendliche gefordert und andererseits eine bessere Inklusion von LSBTTIQ-Jugendlichen in die bereits etablierten Strukturen. Für die Fachkräfte sollten entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen bereitgestellt werden (ebd.: 3-4). Diese Forderungen betreffen insbesondere auch die Offene Kinder- und Jugendarbeit, von der es laut der Berichterstattung des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales 2015 in Baden-Württemberg 1.043 Einrichtungen gab (Miehle-Fregin und Reif 2015: 83). Die fokussierte Toleranz erhielt einen Rückschlag, als es 2015 zu massiven Protesten gegen den neu erstellten Bildungsplan kam, der die Darstellung vielfältiger sexueller Lebensweisen in den Blick nehmen wollte (Kalkum und Otto 2017: 7). Es scheint also so, dass Baden-Württemberg ein interessantes Beispiel für den Versuch Akzeptanz für LSBTTIQ-Belange zu schaffen darstellt, weshalb sich diese Arbeit immer wieder auf Erkenntnisse aus diesem Bundesland bezieht, gleichzeitig aber eine wissenschaftliche Betrachtung vorgelegt wird, die nicht ausschließlich versucht die landesspezifischen Strukturen abzubilden.
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit stellt ein Arbeitsfeld dar, in dem Sozialarbeitende zu Vertrauenspersonen von Jugendlichen werden. Sielert (2015: 94) meint, dass durch die persönliche Arbeitsbeziehung hier insbesondere auch Jugendliche aus dem LSBTTIQ-Spektrum Unterstützung erfahren können. Wenn die Sozialarbeitenden zu Ansprechpartner_innen werden, die akzeptierend, begleitend und beratend tätig sind, dann können sie erheblich zur Selbstannahme von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen beitragen. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, da die Bewusstwerdung dieser Persönlichkeitsmerkmale meist im Jugendalter liegt (Krell und Oldemeier 2017: 9). Es sind also Fachkräfte gefordert, die sensibel auf die Belange von LSBTTIQ-Jugendlichen eingehen können. Sie stellen, neben den institutionellen Rahmenbedingungen, den ausschlaggebenden Faktor dar, der für eine Offene Kinder- und Jugendarbeit benötigt wird, die sich an den Bedarfen von LSBTTIQ-Jugendlichen orientiert. Deshalb wurden diese Fachkräfte in der hier präsentierten Abhandlung zum Gegenüber in einem qualitativen Forschungsvorhaben, das im zweiten Teil dieser Arbeit beschrieben wird.
„Aufgabe Sozialer Arbeit ist es, Inklusion und Exklusion zu reflektieren, zu analysieren, wer sich wie, in welcher Weise von Angebotsstrukturen angesprochen fühlt und wer nicht“ (Micus-Loos 2013: 191). So müssen Sozialarbeitende bestrebt sein, unterschiedliche Lebensarten anzuerkennen (ebd.). Auch im Sinne eines Tripelmandates, wie es Silvia Staub-Bernasconi (2007: 199-200) formuliert, muss die Soziale Arbeit berufsethisch handeln und die Öffnung von Angeboten für marginalisierte Gruppen kann als Teil dieser Berufsethik verstanden werden. Die Abwertung gegenüber LSBTTIQ-Personen geschieht oft aus der starren Festlegung der Geschlechterrollen heraus. Eine Auflösung dieser Geschlechterstereotypen würde jedoch nicht nur LSBTTIQ-Personen helfen, sondern ihre heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Peers würden hiervon ebenfalls profitieren. Die Eröffnung eines größeren Handlungsspielraums kann als gewinnbringend erachtet werden (Rauchfleisch 2011: 76).
Das theoretische Gerüst, auf dem diese Arbeit aufbaut, bildet die Queer Theory (anwendungsbezogen oft auch ‚Queer Studies‘ genannt), die in Kapitel 2.1 dargelegt wird. Somit kann die nachfolgende Abhandlung als Beitrag zur queeren Theoriebildung im Kontext Sozialer Arbeit verstanden werden. Da das Spektrum LSBTTIQ sehr groß ist, wird bei Bezugnahme auf Quellen immer die dort genannte Gruppe mit benannt, um klare Abgrenzungen ermöglichen zu können. Die Entscheidung für den Überbegriff ‚Soziale Arbeit‘ wurde trotz der klar pädagogischen Akzentuierung des Feldes der Offenen Kinder- und Jugendarbeit getroffen, um die angrenzenden Wissensbereiche der Sozialpädagogik mit einzuschließen. Im ersten Teil dieser Arbeit befindet sich eine Begriffsannäherung, worauf die theoretischen Abhandlungen zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit und zur Lebenssituation von LSBTTIQ-Jugendlichen folgt. Der zweite Teil ist, wie bereits dargelegt, die Beschreibung einer durchgeführten empirischen Forschung. Im Zuge dieser Arbeit soll geklärt werden, wie den Bedarfen von LSBTTIQ-Jugendlichen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit begegnet werden kann.
2 Begriffsannäherungen
Um der Thematik auch sprachlich dienlich zu formulieren, werden in der vorliegenden Arbeit die sonst eindeutig geschlechtsspezifisch normierten Begriffe mit einem Sternchen* versehen, um sie für Menschen mit unterschiedlichen Lebensweisen zu öffnen. Auch wird der Unterstrich, der sogenannte gender_gap benutzt, um einen Zwischenraum innerhalb des heteronormativ geprägten Gesellschaftskonstruktes zu beschreiben (Krell und Oldemeier 2017: 21-22). Es folgt eine Begriffsannäherung, die die wichtigsten Beschreibungen einzugrenzen versucht. Gleichzeitig muss betont werden, dass die zugrundeliegenden Studien und Abhandlungen unterschiedliche Definitionen wählen, denen durch die Verwendung der dort gewählten Begriffe Rechnung getragen werden soll. Außerdem stellt die Infragestellung von Kategorien, wie etwa der Homosexualität, einen Ausgangspunkt für queertheoretisches Denken dar (Förster 2017: 21), weshalb es sich nicht um absolute Definitionen handeln kann, sondern um Begriffsannäherungen, die dazu dienen sollen, das Spektrum an thematischen Gegenständen beschreibbar zu machen.
2.1 Queer und Queer Theory
Queer meint in der folgenden Arbeit einerseits einen Überbegriff, der von Personen genutzt wird, wenn sie sich nicht dem Geschlechterdualismus unterordnen wollen und eine Selbstdefinition jenseits dieser Zuschreibungen suchen (Sielert 2015: 68) oder ihre sexuelle Orientierung nicht eindeutig einordnen können oder wollen (Krell und Oldemeier 2017: 20). Andererseits beschreibt der Begriff eine Denkrichtung, die als sogenannte Queer Theory in den wissenschaftlichen Diskurs einging und im deutschsprachigen Raum innerhalb der Gender-Studies einen Platz gefunden hat (Förster 2017: 27). Zuerst gesellschaftlich als Schimpfwort für homosexuelle Menschen verwandt, eigneten sich ebendiese Menschen den Begriff ‚Queer‘ selbst an und nutzen ihn um politische Bündnisse zu begründen und ein theoretisches Konstrukt im akademischen Kontext zu etablieren. Im englischen Sprachraum entwickelten sich die sogenannten Lesbischen und Schwulen Studien hin zu der Queer Theory (Jagose 2017: 13), deren Kern die Irritation von etablieren Differenzierungen und Kategorien ist (Kenklies 2017: 204). Daher liegt die Einschätzung nahe, Queer Theory „[...] ist […] nicht ein systematisches Theoriegebäude, sondern es sind vielfältige queere Positionen und Perspektiven gemeint“ (Förster 2017: 18-19). Diese setzen zwar an Themen wie Homosexualität und Trans*sexualität an (Jagose 2017: 15), jedoch sind diese nicht ausschließlicher Gegenstand von queeren Theorien und queerer Wissensbestand ist transdisziplinär anwendbar.
Im deutschen Diskurs sind insbesondere die Arbeiten von Judith Butler häufiger Ausgangspunkt für Auseinandersetzungen mit der Queer Theory (Förster 2017: 10-11). Sie zweifelte 1991 in ihrer Veröffentlichung ‚Das Unbehagen der Geschlechter‘ (im Original: ‚Gender Trouble‘) erstmals die Unterscheidung zwischen sex und gender an. Hier schrieb sie, dass nicht nur das als gender beschriebene soziale Geschlecht, sondern auch die Beschreibung des biologischen Geschlechts eine kulturell erzeugte Kategorie darstellt und die Unterscheidung der beiden dazu führt, dass durch die vermeintlich natürlichen Gegebenheiten ein binäres Geschlechtersystem gestützt wird (Butler 2016: 22-24). Butlers Äußerungen können im Kontext von poststrukturalistischer Theoriebildung gesehen werden, in der die Sprache zum Zentrum der Auseinandersetzung wird (Förster 2017: 16). So gehen Poststrukturalist_innen davon aus, „[…] dass es keine Realität gibt, die nicht schon sprachlich geprägt wäre und zu der die Erkenntnissubjekte einen außer- oder vorsprachlichen Zugang hätten“ (ebd.). Butlers Arbeiten erlauben sozialtheoretische Rückschlüsse auf die Entstehung von sozialer Ordnung und der Identitätsbildung (Jergus 2012: 32). So meint sie des Weiteren, dass durch die Ansprache von Subjekten als ‚Mann*‘ oder ‚Frau*‘ diese ihre Identität als ebensolche konstruieren, wenngleich die vollständige Erreichung dieser Ideale eine Utopie darstellt. Die Herstellung der Ideale geschieht einerseits durch die ständig wiederholte Ansprache der Individuen und andererseits über den Ausschluss des Gegenteils, also der entgegengesetzten Geschlechtsidentität (Butler 2017: 259-260). Den Konstruktionen Mann* und Frau* ist laut Butler (2016: 45) auch immer ein strukturierendes heterosexuelles System zu Grunde gelegt. Der Ansprache kommt also eine hohe Wirkkraft zu, da sie Machtverhältnisse begründen oder zur Aufrechterhaltung beitragen kann. Butler (2017: 259) nennt dies Performativität. Aufgrund dieser Erkenntnisse muss es darum gehen, Ausschlüsse zu vermeiden und vielfältige Identitätskonstruktionen zuzulassen (Förster 2017: 24).
Weitere queere Theorieperspektiven folgen ebenfalls einem konstruktivistischen Denken. Wie bereits beschrieben, wird etwa die Homosexualität als gesellschaftlich konstruierte Lebensweise gesehen, da gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zum Ausgangspunkt für eine ganze Identitätsbildung herangezogen werden (Jagose 2017: 22-23). Auch das Coming-out kann kritisch betrachtet werden, da die Befreiung aus der Unsichtbarkeit eine Illusion darstellt. Zur Herstellung von Sichtbarkeit müsste sich ein Individuum immer wiederkehrend und in jedem sozialen Setting outen, was in vielen Kontexten gar nicht als Möglichkeit betrachtet werden kann (Förster 2017: 23). Die Verbindungslinien zwischen Queer und Pädagogik scheinen im deutschen Sprachraum kaum diskutiert zu werden. Auch hier zeigt sich somit eine große Diskrepanz zu englischsprachigen akademischen Kontexten, in denen es unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem Querschnitt beider Themenfelder gibt (Kenklies und Waldmann 2017: 7). Erste Ansätze aus deutscher Sicht liefert etwa Melanie Plößer (2013: 209-213), die Konsequenzen für die Soziale Arbeit formuliert, wenn Butlers Arbeiten als Grundlage für sozialarbeiterisches Handeln hinzugezogen werden. So meint sie, dass Sozialarbeitende auf institutioneller Ebene gesellschaftliche Normen infrage stellen und reflektieren sollten, wem diese nutzen und wer durch sie von Ausschlüssen betroffen ist. Auf der Handlungsebene zwischen Klient_innen und Sozialarbeitenden sollte außerdem die Ansprache bedacht werden, das heißt, die Nutzung von Fremdbezeichnungen soll vermieden werden und die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Identitätskonstruktion, die auch widersprechende Anteile haben kann, eröffnet werden. Schließlich beschreibt sie noch die Dekonstruktion von Handlungszielen, also das Hinterfragen von Normalisierungsbestrebungen. Kenklies (2017: 218) meint, dass „[e]ine ge-queerte Allgemeine Pädagogik […] sich fragen [würde], inwiefern das Pädagogische nicht generell utopisch, illusionär ist“. Dies gründet er darauf, dass theoretische Beschreibungen immer Kategorien darstellen, die es zu hinterfragen gilt und auch darauf, dass pädagogische Prozesse nicht greifbar sind und Lernprozesse undurchsichtig bleiben (ebd.).
Die Bandbreite an queeren Perspektiven ist also groß und gleichzeitig bilden sie den theoretischen Boden für die nachfolgende Arbeit. Es soll um die Stärkung von LSBTTIQ-Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehen und die Queer Theory bietet theoretische Bezüge, die helfen sollen, verletzende Rahmenbedingungen abzuwenden.
2.2 LSBTTIQ
Die Abkürzung LSBTTIQ steht für lesbisch, schwul, bisexuell, trans*sexuell, trans*gender, inter*sexuell und queer und fasst damit die Fremd- und Eigenbezeichnungen von Menschen, die eine nicht heterosexuelle Orientierung haben oder deren Geschlechtsidentität nicht mit der bei der Geburt zugewiesenen Geschlechtsbeschreibung übereinstimmend ist, zusammen (Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2016: 34). Ursprünglich setzte sich die Abkürzung im englischen Sprachraum aus LGBT, also lesbian, gay, bisexual und trans* zusammen, mit dem Ziel eine Verbundenheit dieser Lebenswelten zu symbolisieren. Diskurse über die Erweiterung dieses Akronyms wurden angestoßen, sodass etwa die Abkürzung LSBTTIQQAA, also Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Trans*gender, Trans*sexuell, Inter*geschlechtlich, Queer, Questioning, Asexual und Allies, angedacht wurde (Krell und Oldemeier 2017: 18). Durch die Durchsetzung von Queer als Überbegriff (Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2016: 38) scheint es passend die Abkürzung LSBTTIQ zu nutzen, wenngleich auch hier wieder Ausschlüsse produziert werden. Im rechtlichen Sprachgebrauch fasst der Begriff ‚sexuelle Identität‘ die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zusammen, so etwa im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (Krell und Oldemeier 2017: 20), dennoch bietet es sich an, diese Einteilung vorzunehmen, weshalb die weiteren Begriffe entlang dieser Kategorien beschrieben werden.
2.2.1 Sexuelle Orientierung
Die sexuelle Orientierung meint die Beschreibung der gewählten Geschlechtspartner_innen eines Individuums. So wird die ausschließlich gleichgeschlechtliche Orientierung etwa als Homosexualität bezeichnet (Fiedler 2004: 61-63). Sielert (2015: 86-87) teilt das Verhalten von Personen in unterschiedliche Grade des gleichgeschlechtlichen Kontaktes ein, so beschreibt er, dass sich Individuen homophil verhalten, wenn sie gleichgeschlechtliche Freundschaften pflegen, homoerotisch, wenn sie sich von den Charakteristika einer anderen Person des gleichen Geschlechts angezogen fühlen, homosensuell wenn gleichgeschlechtliche Küsse oder Umarmungen stattfinden und schließlich homogenital, wenn genitaler Kontakt zwischen zwei Personen mit gleichen Geschlechtsmerkmalen stattfindet. Dieser homogenitale Kontakt, meint er, wird dann gesellschaftlich als Homosexualität bezeichnet. Weibliche* Individuen, die gleichgeschlechtliche Sexualpartner_innen wählen, bezeichnen sich oft als lesbisch, männliche* Individuen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung bezeichnen sich oft als schwul (Krell und Oldemeier 2017: 19). Da jedoch homosexuelles Verhalten auch bei Individuen auftritt, die sich als heterosexuell, also gegengeschlechtlich orientiert, bezeichnen, präsentiert sich die sexuelle Orientierung als ein nicht in sich abgeschlossenes Faktum (Fiedler 2004: 63). Auch können Menschen, die gelegentlich gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakt haben, sich als nicht homosexuell definieren, es stellt sich also die Frage, was etwa Homosexualität überhaupt ausmacht (Jagose 2017: 20). Breit werden auch die Entstehungsfaktoren für eine homosexuelle Orientierung diskutiert. Hier konkurrieren oder aber ergänzen sich biologische Ansätze mit psychologisch, lerntheoretischen Ansätzen, eine abschließende Betrachtung liegt nicht vor (Fiedler 2004: 78-92). Durch die Bestätigung, dass eine homosexuelle Orientierung angeboren sei, erhofften sich frühe Sexualwissenschaftler_innen eine Straffreiheit für homosexuelles Verhalten, jedoch wurde ebendiese Begründung dann im Nationalsozialismus genutzt, um Menschen mit einer nicht heterosexuellen Orientierung zu töten. Wenn psychologische Faktoren zur Entstehung von Homosexualität hinzugezogen werden, eröffnen diese wiederum die Perspektive der Genesung von homosexuellem Verhalten (Förster 2017: 20-21). Die Suche nach Entwicklungsfaktoren muss daher immer vorurteilsfrei und nicht pathologisierend vorgenommen werden (Fiedler 2004: 70). Homosexuelles Verhalten unter Männern* war in Deutschland lange Zeit ein Straftatbestand und wurde erst durch die Streichung von §175 StGB 1994 vollständig straffrei. Auch erfolgte 1992 die Depathologisierung von Homosexualität, indem die Weltgesundheitsorganisation die ICD-Klassifikation von Homosexualität als Krankheit aufhob (Krell und Oldemeier 2017: 22). Homonegativität, also die negative Einstellung gegenüber Menschen, die homosexuell orientiert sind, schränkt Individuen in unserer Gesellschaft weiterhin ein, weshalb es gilt, ihr zu begegnen. Homophobie ist eine Form der Homonegativität, die die Angst vor Personen, die eine nicht heterosexuelle Orientierung haben, beschreibt (Sielert 2015: 92-93) und auch strukturell verankert sein kann. Dann ist sie gruppenbezogen und führt zu Diskriminierungen, die die Benachteiligung von Individuen und Gruppen begünstigen (Krell und Oldemeier 2017: 21).
Die als Bisexualität bezeichnete Orientierung beschreibt Menschen, die „[…] sowohl homosexuell als auch heterosexuell leben und lieben können“ (Sielert 2015: 90). Diese Menschen haben oft die Zuschreibung erhalten, sie würden ihre Homosexualität nur zeitenweise leben, um gesellschaftlich eher akzeptiert zu werden (Fiedler 2004: 105). Dies kann sich in Ablehnung sowohl von sich heterosexuell, als auch sich homosexuell bezeichnenden Personen ausdrücken und eine Zuordnung zu einer Gruppe erschweren (Rauchfleisch 2011: 84). Eine weitere sexuelle Orientierung ist die Pansexualität, die eine Anziehung zu Menschen, unabhängig derer geschlechtlichen Zugehörigkeit meint (Krell und Oldemeier 2017: 19). Pansexualität und weitere Selbstbezeichnungen, werden in der folgenden Arbeit unter dem Überbegriff Queer gefasst, der im vorausgegangen Teil dieses Kapitels beschrieben wurde. Diese Entscheidung wurde getroffen, da die zugrundeliegenden Texte nur randständig mit diesen Kategorien arbeiten und eine Vergleichbarkeit kaum zulassen. In der Studie von Krell und Oldemeier (2017: 40) werden diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter dem Begriff der orientierungs*diversen Personen gefasst, eingeschlossen sind hier auch Personen, die keine Angabe zu ihrer sexuellen Orientierung geben wollten oder konnten. Wenn im Nachfolgenden also Bezüge zu dieser Studie hergestellt werden, wird dann dennoch auch diese Kategorie verwendet, um innerhalb des Queerbegriffes die Unterscheidung zu ermöglichen, ob sich dieser auf die sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität bezieht.
2.2.2 Geschlechtsidentität
Für viele Menschen stellt sich die Frage nach ihrer Geschlechtsidentität nie. Sie fühlen und bezeichnen sich anhand der Einteilung Mann* oder Frau* (Fiedler 2004: 137). Jedoch gibt es auch Individuen, die eine Kategorie jenseits dieser Einteilungen suchen oder die ihnen zugeschriebene Identität nicht als passend empfinden. Als Versuch Diskrepanzen zwischen körperlichen Merkmalen und dem gefühlten oder sozial gelebten Geschlecht zu beschreiben, wurde die Unterscheidung zwischen sex und gender etabliert (Krell und Oldemeier 2017: 19), die, wie bereits beschrieben, im queertheoretischen Kontext auch kritisch betrachtet werden kann.
Als trans*sexuell werden Personen bezeichnet, deren Identitätserleben nicht mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht übereinstimmt. Sie streben eine Änderung ihres Körpers an, um diesem zu begegnen (Fiedler 2004: 137). So werden Individuen, die als weiblich* definierte Körpermerkmale haben durch eine Transition zu Trans*jungen, beziehungsweise dann zu Trans*männern und die mit als männlich* definierten Körpermerkmalen geborenen Mädchen* werden als Trans*frauen oder Trans*mädchen bezeichnet (Krell und Oldemeier 2017: 19-20). Anders als bei der Homosexualität ist Trans*sexualität noch als Krankheit klassifiziert, der ICD-10 nennt sie als psychische Störung (Rauchfleisch 2016: 17). 1980 wurde das ‚Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen‘ erlassen, das auch als Transsexuellen-Gesetz (TSG) bezeichnet wird. Es ermöglicht, dass Personen, nachdem sie zwei unabhängige von Psycholog_innen oder Ärzt_innen erstellte Gutachten vorgelegt haben, ihren Vornamen und ihren Personenstand, also die Geschlechtsbezeichnung in offiziellen Dokumenten, ändern lassen können (Fiedler 2004: 155-156). Grundlage für eine Transition bildet die Diagnose, dann folgt oft der sogenannte ‚Alltagstest‘, in dem Personen bereits ein bis zwei Jahre in der angestrebten Geschlechtsrolle leben, um sich des Vorgehens zu vergewissern. Es folgt die Hormongabe und chirurgische Eingriffe. Dann kann entlang der eben dargelegten gesetzlichen Vorgaben eine Personenstandsänderung vorgenommen werden und schließlich folgt noch eine Nachbetreuung, die körperliche, als auch psychische Faktoren miteinschließen kann (Rauchfleisch 2016: 30-36). Wenn die Trans*sexualität bereits im Jugendalter diagnostiziert wird, besteht außerdem die Möglichkeit, pubertätshemmende Medikamente zu verabreichen (ebd.: 90). Aufgrund dieser starken Pathologisierung hat sich als Gegengewicht der Begriff Trans*gender entwickelt, der die vielfältigen Lebensweisen von Trans*personen zu erfassen versucht (Krell und Oldemeier 2017: 20). Da manche Trans*menschen keine operativen Eingriffe wünschen oder sich dem Geschlechterdualismus nicht unterwerfen möchten, wählen diese eher den Trans*gender-Begriff (Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2016: 50). Trans*phobie kann analog zur Homophobie verstanden werden und hat somit die gleichen Eigenschaften, beschreibt aber die Abneigung Trans*personen gegenüber. Als Gegenpol zu Trans* hat sich der Begriff Cisgeschlechtlichkeit etabliert, der Menschen beschreibt, bei denen das gelebte Geschlecht mit den entsprechenden Köpermerkmalen übereinstimmen (Krell und Oldemeier 2017: 19-21).
Als Inter*sexuell werden Menschen bezeichnet, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig als männlich* oder weiblich* kategorisiert werden können. Hier wurde lange Zeit eine frühe Entscheidung für das eine oder andere Geschlecht von außen vorgenommen, sodass es im späteren Lebenslauf dieser Personen zu Schwierigkeiten kommen konnte (Fiedler 2004: 138-139). Die Gabe von Medikamenten oder Operationen zur Anpassung an vorgegebene Vorstellungen werden heute von inter*sexuellen Personen stark kritisiert und auf die Bedeutung der körperlichen Selbstbestimmung hingewiesen (Krell und Oldemeier 2017: 20). Auch Professionelle vertreten mittlerweile vermehrt die Ansicht, dass erst mit der eigenen Identitätsentwicklung eine Festlegung auf ein Geschlecht fokussiert werden sollte (Fiedler 2004: 139). Inter*sexuelle Jugendliche und junge Erwachsene wurden in der Studie von Krell und Oldemeier (2017: 33) nicht erreicht, in einer Onlineumfrage aus Baden-Württemberg waren jedoch 11 Erwachsene beteiligt, die inter*sexuell sind. Diese Daten geben zwar darüber Aufschluss, dass im medizinischen Bereich für inter*sexuelle Personen negative Vorkommnisse im Mittelpunkt stehen (FaFo Familienforschung Baden-Württemberg 2014: 61), jedoch kann kein eindeutiges Bild von der Lebenssituation inter*sexueller Jugendlicher präsentiert werden. Daher sollen sie in der vorliegenden Arbeit mitgedacht werden und eine Vergleichbarkeit im Erleben mit Personen, die den vorher beschriebenen Gruppen angehören, wird unterstellt, kann aber nicht belegt werden.
Die gesellschaftliche Haltung der Heteronormativität, die einerseits die feste Zuordnung zur Geschlechterdichotomie verlangt und ein gegengeschlechtliches Begehren impliziert (Krell und Oldemeier 2017: 21) muss kritisch betrachtet werden, was ebenfalls Gegenstand dieser Arbeit sein soll. Auch in Bezug auf die Geschlechtsidentität wird der Begriff der gender*diversen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (ebd.: 40) gewählt, wenn von Personen gesprochen wird, die sich als queer bezogen auf ihre Geschlechtsidentität definieren.
3 Offene Kinder- und Jugendarbeit
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist eines der Arbeitsfelder Sozialer Arbeit und versteht sich als Teil der Kinder- und Jugendhilfe. Sie grenzt sich zu anderen Formen der Kinder- und Jugendarbeit, wie verbandlicher oder mobiler Jugendarbeit, ab und wird in Jugendzentren, Jugendhäusern, Jugendfreizeitstätten und anderen, ähnlichen Einrichtungen angeboten (Schmidt 2011a: 7). Sie ist für alle Kinder, Jugendlichen und junge Erwachsene bis 27 Jahre zugänglich und richtet sich somit an keine konkret bestimmte Zielgruppe. Ihre gesetzliche Grundlage bildet insbesondere §11 SGB VIII, in dem das Ziel der Angebote innerhalb des Arbeitsfeldes wie folgt beschrieben wird: „Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.“ Es liegt also ein demokratischer Grundgedanke vor, der als Leitlinie verstanden werden kann (Sturzenhecker und Richter 2012: 469-470). Seit den 1980er Jahren werden im Kontext von Jugendarbeit auch Angebote für Kinder durchgeführt, sodass die Bezeichnung des Arbeitsfeldes erweitert wurde (Thole 2000: 22). Kennzeichnend für das Arbeitsfeld ist eine offene Treffmöglichkeit für Kinder und Jugendliche (Schmidt 2011b: 14-15), wodurch es zu Fluktuationen in der Besucher_innenschaft kommt (Sturzenhecker und Richter 2012: 469-470), der in der Arbeit entsprechend begegnet werden muss.
3.1 Entstehung und Entwicklung des Arbeitsfeldes
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ‚Jugend‘ gesellschaftlich erstmals als eigene Lebensphase mit besonderen Herausforderungen erkannt. So kam es neben der Entstehung von Jugendvereinen zur Gründung der staatlichen Jugendpflege, die auf den Jugendpflegeerlässen der damaligen preußischen Regierung beruhte und den Ursprung des heutigen Arbeitsfeldes bildet (Lindner 2011: 669). Erklärtes Ziel war es, vor allem männliche* Jugendliche, die als ‚sozial auffällig‘ wahrgenommen wurden, einzubinden und an den damalig vorherrschenden Gedanken der „[…] vaterländische[n] Gesinnung und Wehrerziehung heranzuführen“ (ebd.). Der kontrollierende Charakter der Jugendpflege wurde weiter bis in die Weimarer Republik verfolgt, in der das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz weiter die Zugänge zu erzieherischen Angeboten regelte (Hafeneger 2013: 37). Mit Aufstieg des nationalsozialistischen Regimes gingen sowohl Jugendverbände, als auch die Jugendpflege, in die ‚Hitlerjugend‘ und den ‚Bund Deutscher Mädchen‘ auf. Durch die Teilung Deutschlands nach Kriegsende entstanden im Westen und Osten des Landes ab 1945 unterschiedliche Traditionen der Jugendarbeit (Lindner 2011: 670). In der DDR wurden Jugendklubs der ‚Freien Deutschen Jugend‘ gegründet, deren erzieherische Aufgabe einerseits politisch geprägt war und auf die Stützung des sozialistischen Gedankens zielte (Hafeneger 2013: 39), andererseits normativ hoch bewertete Freizeitbeschäftigungen im Sinne kultureller Bildung anbieten wollte (Lindner 2011: 670). Die amerikanische Militärregierung gründete in der Bundesrepublik sogenannte ‚German Youth Activities‘, also Jugendclubs, die von Erziehungsoffizieren geleitet wurden. Hier sollten sich die Jugendlichen, die nicht organisiert in Jugendverbänden waren, aufhalten können. Die Demokratisierung der Jugend stand in diesen Einrichtungen im Mittelpunkt. Gleichzeitig waren sie Anlaufstelle für Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen und versorgten diese mit Essen und Kleidung. Nach und nach wurden die ‚German Youth Activities‘ in öffentliche Trägerschaft überführt. Nun unter dem Namen ‚Heime der Offenen Tür‘ sollten die Einrichtungen allen Jugendlichen offenstehen, ohne dass diese einem Verein oder anderen Gruppen angehörig sein mussten. Die freie Gestaltung ihrer Freizeit ohne äußerlichen Druck durch hindernde Lebensumstände sollte den Jugendlichen ermöglicht und ein gelingender Übergang in das Erwachsenenalter unterstützt werden. In den 1960er Jahren rückte der Mitbestimmungsgedanke in den Mittelpunkt der Arbeit, was in den 1970er Jahren in der Jugendzentrumsbewegung deutlichsten Ausdruck erlangte (Hafeneger 2013: 38-43). So wurden leerstehende Häuser besetzt und für jugendspezifische Zwecke umgewandelt. Gründung neuer Angebote, wie etwa Beratungsprojekte und Kulturinitiativen waren die Folge. Die Anstellung von Fachkräften trug zur Professionalisierung bei (Lindner 2011: 671). Eine daraus resultierende stärkere Orientierung an den Bedürfnissen der Jugendlichen zeichnete sich auch in den 1980er Jahren ab (Sturzenhecker und Richter 2012: 471). So wurden Angebote, die etwa nach Cliquen oder Alter differenzierten, fokussiert. Auch wurde zum ersten Mal spezifische, als ebensolch benannte, Mädchen*- und Jungen*arbeit flächendeckend etabliert (Hafeneger 2013: 43-44), die in Kapitel 3.4 genauer beleuchtet werden wird. In den 1990er Jahren wurde die Bildung des Individuums zum bestimmenden Gedanken in der Jugendarbeit (Sturzenhecker und Richter 2012: 471). Und gleichzeitig erhielten räumliche Aspekte sowohl als Vernetzungspotential, als auch als Selbstaneignungsmöglichkeit für die Zielgruppe vermehrt Bedeutung (Hafeneger 2013: 45). Mit seinem Konzept der Lebensweltorientierung trug Thiersch (2014: 21) 1992 im 8. Jugendbericht dazu bei, dass die Angebote des Arbeitsfeldes „[...] in den gegebenen Struktur-, Verständnis- und Handlungsmustern […]“ der Jugendlichen angesiedelt wurden. Obwohl die außerschulische Bildung an Stellenwert gewonnen hat, steht die Offene Kinder- und Jugendarbeit seit Anfang der 2000er Jahre unter zunehmendem Legitimationsdruck (Lindner 2011: 673-674).
3.2 Strukturelle Prinzipien und Inhalte
Laut Sturzenhecker und Richter (2012: 469) können als Prinzipien der Offenen Kinder- und Jugendarbeit die Interessensorientierung, die Freiwilligkeit, die Partizipation, die fehlende Leistungserwartung und die offene Gestaltung der Inhalte identifiziert werden. Die Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Baden-Württemberg definiert ebenfalls grundlegende Arbeitsprinzipien, die teils deckungsgleich mit den eben genannten sind, jedoch unter anderem um ein ‚Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit‘ erweitert wurden. Dieses soll sicherstellen, dass die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen* und Jungen* beachtet werden. Das Prinzip der Offenheit meint hier nicht nur den nicht vorgegebenen Inhalt des Angebotes, sondern auch die Niedrigschwelligkeit und die Offenheit für Anregungen, die die Jugendlichen einbringen. Außerdem stellt das Prinzip der Freiwilligkeit sicher, dass nur die Personen beteiligt sind, die dies auch selbsttätig wählen. Der partizipative Gedanke soll dazu beitragen, dass die Klientel aktiv auf die Offene Kinder- und Jugendarbeit einwirken kann. Als letzten Grundgedanken nennen Alt, Bachhofer, Dieterle, Pester und Suerkemper (2018: 14-17) das Prinzip der Lebenswelt- und Sozialraumorientierung, das das Erleben von Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt und gleichzeitig die Aneignung von Räumen fokussiert.
Böhnisch (2013: 3) führt des Weiteren an, dass der Offenen Kinder- und Jugendarbeit außerdem eine sozialintegrative Funktion zukommt. Unter Sozialintegration versteht er, dass „[d]er Einzelne […] aus seiner Lebenswelt heraus der Gesellschaft einen Sinn abgewinnen können“ sollte. Wenn das Arbeitsfeld es schafft, geschützte Milieus zu schaffen, in denen dies ermöglicht wird, nimmt es einen hohen Stellenwert bei der gesellschaftlichen Integration ein (ebd.: 9).
Vor dem Hintergrund dieser Prinzipien soll die Arbeit inhaltlich ausgestaltet werden. Die Schwerpunkte der Jugendarbeit wurden ebenfalls gesetzlich geregelt, in §11 Absatz 3 SGB VIII werden sie wie folgt genannt:
„1. außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung,
2. Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit,
3. arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit,
4. internationale Jugendarbeit,
5. Kinder- und Jugenderholung,
6. Jugendberatung.“
Entsprechend diesen gesetzlichen Vorgaben wird die offene Treffarbeit oft auch von Projekten, Gruppenarbeiten und ähnlichem ergänzt. So können etwa Spiele, sportliche Angebote, sowie Angebote politischer und kultureller Bildung diese inhaltlich füllen. Die Bedeutung von Beratung im Kontext des Arbeitsfeldes nimmt zu und hat sich zu einem wichtigen inhaltlichen Schwerpunkt entwickelt (Schmidt 2011b: 34-38).
Es ist festzuhalten, dass Inhalte immer wieder neu zwischen den Sozialarbeitenden und der Klientel abgestimmt werden müssen. Die Ausgestaltung des Angebotes geschieht in einer Aushandlung, die darüber geführt wird, was mit welchem Ziel und welcher Beteiligung durchgeführt werden kann.
Erfahrungsräume können zur Verfügung gestellt werden, um dem Bildungsanspruch zu begegnen, gleichzeitig muss betont werden, dass ein Zwang zur Selbstaneignung den Grundprinzipien widerstrebt und somit oft gar nicht möglich ist (Sturzenhecker und Richter 2013: 696-697).
3.3 Pädagogisches Handeln
Das pädagogische Handeln in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gleicht in kommunikativen und praktischen Abläufen oft typischen Alltagssituationen (Cloos 2013: 62). Daher erkennen die Zielgruppe und Außenstehende das pädagogische Wirken im Arbeitsfeld in der Regel nicht als professionelles Handeln. Gleichzeitig gibt es wenig empirisch erhobene Daten zur Ausgestaltung des Arbeitsfeldes. Um hier entgegen zu wirken haben Cloos, Köngeter, Müller und Thole (2009: 13-14) mittels ethnografischer Beobachtung als Forschungszugang die pädagogischen Abläufe im Arbeitsfeld rekonstruiert.
Mit dem Begriff der ‚sozialpädagogischen Arena‘ charakterisieren sie den Ort, in dem Kinder- und Jugendarbeit stattfindet. Dieser Begriff soll das immer wiederkehrende Aushandeln der Gestaltung des Ortes in den Blick nehmen. Schnell wechselnde Szenen, in denen Zugehörigkeiten oder Abgrenzungen verdeutlicht werden, oder in denen Individuen sich gezielt präsentieren und auf Rückmeldung ihres Gegenübers warten, kennzeichnen die Geschehnisse. Die Besucher_innen nehmen unterschiedliche Rollen ein, in dem sie sich in Konfrontationen begeben, mit anderen sympathisieren oder Kritik äußern. In diesem Kontext sind die Sozialarbeitenden gefordert, involviert zu sein. Ihr Handeln wird dann professionell, wenn sie unterschiedliche Platzierungspraktiken vornehmen, die Alltagskommunikation hin zu einem pädagogischen Rahmen modellieren und Übergänge in andere, geschlossene Settings, gestalten (Cloos 2013: 62-63).
Als eine Platzierungspraktik kann etwa das ‚Umherschweifen‘ genannt werden, das nur vordergründig ein zielloses Abgehen von unterschiedlichen Orten innerhalb der sogenannten ‚sozialpädagogischen Arena‘ ist. Hier entstehen neue Kontakte oder bereits etablierte können vertieft werden. Das ‚Umherschweifen‘ vermittelt den Anschein, als würde die Kontaktaufnahme ganz zufällig geschehen, dabei ist sie ein gezielt pädagogisches Angebot zum Austausch. Das ‚Sich (präsent) zeigen‘ dient dazu, intervenieren zu können. An einem zentralen Ort der Einrichtung, meist ist dies die Theke, besteht die Möglichkeit zu beobachten und, wo nötig, einzugreifen. Ob über Vorkommnisse hinweggesehen werden kann oder aktiv interveniert werden muss, entscheidet die Fachkraft. Schließlich kann das ‚Sich separieren und Gravitation erzeugen‘ dafür sorgen, dass sich die Vorgänge in einer Einrichtung konzentrieren. Durch gezieltes Separieren der Fachkräfte entsteht die Möglichkeit für intensivere Kontakte, sie bleiben trotz der Separation aber Ansprechpartner_innen für die Klientel (Cloos u.a. 2009: 129-138)
Die ‚Modulation der Alltagskommunikation‘ geschieht, indem die Fachkräfte an den Gesprächen der Zielgruppe teilnehmen oder aktiv in das Gespräch eingreifen. Dabei bildet das Mitwirken an Vorgängen die Grundlage und die Sichtbarkeit der eigenen Einstellung stellt ein Instrument dar.
Mit der ‚Gestaltung von Übergängen in andere Aktionsrahmen‘ stellt die Offene Kinder- und Jugendarbeit die Bedürfnisorientierung in den Vordergrund. Die Überleitung in Beratungsangebote oder Angebote mit stärkerem Bildungscharakter müssen aufgrund der Offenheit des Angebotes anders gestaltet werden, als in Settings, die nicht auf Freiwilligkeit beruhen. Einerseits muss es eine Bereitstellung von Angeboten geben, andererseits kann die Zielgruppe das Angebot jederzeit ablehnen. Es gilt also, die Anliegen der Klientel wahrzunehmen und diesen entsprechend zu begegnen (Cloos 2013: 64-68).
Cloos, Köngeter, Müller und Thole (2009: 161-170) haben des Weiteren grundlegende Handlungsregeln identifiziert, die dem Arbeitsfeld immanent sind. Es handelt sich um die Mitmach-, die Sparsamkeits- und die Sichtbarkeitsregel. Mit der Mitmachregel ist gemeint, dass Fachkräfte an den Aktivitäten in der Einrichtung auf Augenhöhe mit der Klientel teilnehmen und dabei dennoch verdeutlichen sollten, dass sie Erwachsene und damit unterschiedlich zur Zielgruppe sind. Die Sparsamkeitsregel besagt, dass die Modulation der Alltagskommunikation unauffällig geschehen muss, sodass die Asymmetrie zwischen der Zielgruppe und den Fachkräften nicht zu deutlich, gleichzeitig aber auch nicht verschleiert wird. Mit der Sichtbarkeitsregel wird verdeutlicht, dass die Fachkräfte eigene Einstellungen und Persönlichkeiten haben, die der Zielgruppe sichtbar gezeigt werden sollten.
Der Person als Werkzeug (Spiegel 2013: 93) kommt damit eine hohe Bedeutung innerhalb der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu. Die Transparenz in Bezug auf eigene Einstellungen und persönliche Handlungsweisen tragen zu einer funktionierenden Arbeitsbeziehung zwischen Klientel und Sozialarbeitenden bei.
3.4 Geschlechterdifferenzierte Arbeit
Geschlechterdifferenzierte Arbeitsweisen haben sich als Fachstandard in der Sozialen Arbeit etabliert, obwohl der Diskurs über die Hinwendung zum einen oder anderen Geschlecht divers diskutiert wird (Rose 2013: 24-37). Spätestens seit der gesetzlichen Verankerung von §9 Absatz 3 SGB VIII Anfang der 1990er Jahre, in dem geregelt ist, dass Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern“ haben, ist die Geschlechterthematik akut für die Offene Kinder- und Jugendarbeit geworden. In den 1970er Jahren gab es erste Konzeptentwicklungen von Sozialarbeiterinnen*, die eine feministische Mädchen*arbeit begründen wollten. Die Durchdringung von patriarchalen Strukturen reichte nach Ansicht dieser Sozialarbeiterinnen* bis in die Kinder- und Jugendarbeit hinein, weshalb es galt, Mädchen* zu stärken. Zu den Grundideen dieser Mädchen*arbeit gehörten die Parteilichkeit für Mädchen*, die Solidaritätsstärkung in geschlechtshomogenen Gruppen und die Bereitstellung von weiblichen Identifikationsvorbildern durch die Sozialarbeiterinnen*. Es wurde Mädchen*arbeit von Frauen* für heranwachsende Frauen* durchgeführt mit dem Ziel eigene Räume für diese Geschlechtergruppe zu schaffen und das klassische Rollenbild der Frau* zu irritieren. Obwohl die Jungen*arbeit bereits in den Anfängen dieses geschlechterdifferenzierten Arbeitsansatzes mitgedacht wurde, war sie gekoppelt an die Reglementierung von männlichem* Dominanzverhalten gegenüber Mädchen* und Frauen* (Wallner 2013: 61-66). Es kam zur Gründung autonomer Mädchen*gruppen und Mädchen*cafés und sukzessiv wurden die Angebote der Mädchen*- und Jungen*arbeit auch in anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit implementiert. Dies schien besonders relevant, da die Besucher_innenzahlen von Mädchen* im Arbeitsfeld deutlich unter denen von Jungen* lagen. Trotz der Ausbreitung dieser Arbeitsmethode wurden und wird die Ausrichtung der Angebote, insbesondere in Bezug auf die Jungen*arbeit, immer noch stark diskutiert. Während die ursprünglichen Ansätze klar feministisch akzentuiert waren, konkurrieren mittlerweile männer*bewusste, antisexistische, patriarchatskritische und identitätsorientierte Ansätze miteinander (Thole 2000: 242-247). So schreiben etwa Matzner und Tischner (2008: 12) in der Einleitung ihres Handbuches Jungen-Pädagogik, dass die Arbeit mit Jungen* einen interdisziplinären Zugang braucht, gemeint ist hier insbesondere ein naturwissenschaftlicher oder biologistischer Zugang. Und in der Veröffentlichung des Handbuches Mädchen-Pädagogik postuliert Matzner gemeinsam mit Wybronik (2010: 11): „[E]s [ist] unseres Erachtens Zeit für eine ‚realistische Wende‘ – weg vom einseitig sozialkonstruktivistischen Gender-Paradigma und hin zu einer geschlechtsbezogenen Erziehungswissenschaft im Sinne eines Natur und Kultur integrierenden Zugangs […]“. Dem entgegen setzt Stuve (2001: 281): „Formen der Jungenarbeit, die an einer kohärenten Geschlechtsidentität als Ziel ihrer Arbeit festhalten, produzieren ihre eigenen Sackgassen“. Er meint, dass die Berufung auf biologische Gegebenheiten gezwungenermaßen die Geschlechterdichotomie reproduziert, die mit Hierarchisierungen einhergeht (ebd.). Gemeinsam, so scheint es, ist jedoch allen Ansätzen, dass nicht ausschließlich in geschlechterhomogenen Gruppen gearbeitet werden soll, sondern auch in koedukativen Settings oder im sogenanntem Crosswork, welches die Arbeit von sich als weiblich* identifizierenden Fachkräften mit Jungen* und die Arbeit mit Mädchen* durch sich als männlich* definierende Sozialarbeitende meint, stattfindet (Sturzenhecker 2008: 191; Rauw und Drogand-Strud 2013: 239-240). Von dieser Vorgabe ausgehend, meinen Rauw und Drogand-Strud (2013: 228-238), dass das Ziel von Mädchen*- und Jungen*arbeit sein sollte, Alternativen zu normativ vorgegebenen Rollenzuweisungen erlebbar zu machen und über die vorherrschenden Vorstellungen über Geschlecht zu reflektieren. Damit setzen sie an den Ursprüngen der geschlechterdifferenzierten Arbeit an, erweitern diesen Ansatz aber auch auf die Jungen*arbeit, die nun nicht mehr reglementierenden Charakter hat. Die Anerkennung von Unterschiedlichkeiten zwischen den Geschlechtern, aber auch innerhalb einer Geschlechtergruppe ist ihrer Meinung nach wichtig, die Entstehung von vielfältigen Geschlechterentwürfen soll als bereichernd erlebt werden. Auch betonen sie die Entstehung von Identitäten jenseits des Geschlechterdualismus. Die Fachkräfte werden aufgefordert, in ihrem Handeln die gesellschaftlichen Geschlechterhierarchien zu bedenken und Individuen nicht auf die ihnen zugewiesenen Genderzuschreibungen zu reduzieren. Sie sollen sich selbst als Rollenvorbild zur Verfügung stellen und die Möglichkeiten der Identitätsfindung öffnen, indem sie die Wünsche und Vorstellungen der Klientel wahrnehmen und nicht nach den Zuordnungen fragen. Howald (2001: 304-305) meint, dass es im Sinne einer queeren Pädagogik darum gehen sollte: „Den Begriff Mädchen zu dekonstruieren […], die Existenz der Kategorie Geschlecht zwar als gesellschaftliche Realität zu erkennen, aber nicht mehr definieren zu können, was Mädchen sind. Der Begriff hat so keine Essenz mehr, sondern kann jeweils unterschiedlich besetzt werden“. Gleichzeitig steht eine geschlechterdifferenzierte Arbeit, die sich queertheoretisch positioniert, vor dem Dilemma, dass der Ausgangspunkt der Arbeit immer die Geschlechtszuweisung bleibt (Stuve 2001: 281). Daher gilt es, dies zu bedenken und über die Konstruktion des Arbeitsfeldes zu reflektieren.
3.5 Sexualpädagogik
Sexualpädagogik versteht sich als Teildisziplin der Pädagogik, die „[…] sowohl die sexuelle Sozialisation als auch die intentionale erzieherische Einflussnahme auf die Sexualität von Menschen erforscht und wissenschaftlich reflektiert“ (Sielert 2015: 12). Im Kontext der Offenen Kinder- und Jugendarbeit werden sexualpädagogische Angebote oft anlassbezogen durchgeführt und externe Fachkräfte hinzugezogen (Thömmes und Brand 2013: 799). Diese Angebote können meist der Sexualerziehung zugeordnet werden, die darauf abzielt die sexuellen Ausdrucks- und Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zu formen. Ein fester Bestandteil der Sexualerziehung ist immer die Sexualaufklärung, die sich auf die Vermittlung von Fakten zur menschlichen Sexualität stützt (Sielert 2015: 12).
Winter (2008: 585-591) meint, dass die Jugendhilfe im Allgemeinen zu passiv ihre Aufgabe als Institution, die sexualpädagogische Angebote durchführen kann, wahrnimmt und auf Bedarfe erst reagiert, wenn sie an sie herangetragen werden. Dies sieht er im Widerspruch zu der Wichtigkeit, die die Sexualität im Jugendalter einnimmt. Auch kann die Grundhaltung, dass die Klientel bei Fragen auf die Fachkräfte zukommen wird, als problematisch angesehen werden. Während im schulischen Kontext die Teilnahme an Angeboten verpflichtend ist, gilt es in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit die Herausforderungen zu meistern, die mit einer freiwilligen Teilnahme einhergehen. Beim Versuch einer Bestandsaufnahme zeigt sich, dass eine große Bandbreite vorliegt, da die Durchführung von sexualpädagogischen Angeboten von unterschiedlichen Faktoren, unter anderem den Trägerstrukturen, abhängt. Das Delegieren von Angeboten an Externe zeigt Nachteile, da die zeitlichen Ressourcen dadurch beschränkt werden. Er schließt, dass insbesondere wo Schule oder das familiäre Umfeld wenig oder keine sexualpädagogischen Angebote unterbreiten, die Jugendhilfe diese Aufgabe vermehrt übernehmen sollte. Er fordert außerdem die Abwendung vom einem rein präventiven Charakter der Sexualerziehung, bei dem ausschließlich die Vermeidung von sexuell übertragbaren Krankheiten im Vordergrund steht. Sielert (2015: 62) schreibt, dass zur Herstellung sexueller Eigenverantwortung emotionale, intellektuelle, soziale und körperliche Kompetenzen erworben werden müssen. Außerdem sollten gesellschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die angemessene Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Individuen sollten darin gefördert werden ihre Handlungsfähigkeit auszubauen und sich dadurch sexuell ungestört entwickeln zu können.
Es geht also im Zuge einer (neo-)emanzipatorischen Sexualpädagogik darum, Individuen in ihrer sexuellen Entwicklung zu begleiten. Sexualität soll als Bestandteil einer Identität verstanden werden, durch die unterschiedliche Erlebensmöglichkeiten eröffnet werden. Sexualpädagogische Angebote sollen sich daran orientieren, über welche Kompetenzen und welches Wissen die Zielgruppe bereits verfügt und welche Themen von Interesse sind. Da Personen in sexualpädagogischen Angeboten unterschiedlichen Differenzkategorien unterliegen, geht es darum, Vielfaltsaspekte zu reflektieren. Gesellschaftliche Einordnungen zu überdenken, die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten aufzuzeigen und Benachteiligungen abzubauen muss Gegenstand einer Sexualpädagogik der Vielfalt sein. Hier werden insbesondere die Anliegen von LSBTTIQ-Menschen mitgedacht, deren Sichtbarkeit dazu beiträgt, dass Kinder und Jugendliche an den Erlebnissen mit ihnen in einem pädagogischen Setting anknüpfen können (Tuider u.a. 2012: 16-21). Zwar ist Homosexualität zu einer der sichtbarsten sexuellen Orientierungen geworden, dies geschah aber in klarer Abgrenzung zur Heterosexualität. Daraus resultiert, dass Individuen sich einer kollektiv gelebten sexuellen Identität zuordnen mussten, die entsprechende Zuschreibungen hat. Deshalb sollte Homonegativität durch die Auflösung von festgeschriebenen Geschlechterrollen begegnet werden. Nur so können LSBTTIQ-Personen eine selbstbestimmte und authentische Identität entwickeln (Sielert 2015: 92-93).
Von gelingender Sexualpädagogik kann gesprochen werden, wenn Individuen selbstermächtigt sind, ihre Sexualität ganzheitlich zu gestalten. Dies wird in Fachdiskussionen mit dem Begriff der ‚Sexuellen Bildung‘ beschrieben (Tuider u.a. 2012: 16).
3.6 Zugänge zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit
Obwohl die Offene Kinder- und Jugendarbeit proklamiert, offen für alle zu sein und dies, wie beschrieben, zu einem der strukturellen Grundprinzipen erhebt, ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass der Raum, den die Kinder und Jugendlichen betreten, durch Erwachsene bereits besetzt ist, die die institutionelle Macht haben (Cloos und Köngeter 2006: 68). Die Herstellung einer funktionierenden Arbeitsbeziehung ist also von Beginn an eine essentielle Anforderung, um Zugehörigkeit zu einer Einrichtung zu begründen (Cloos und Köngeter 2009: 91). Ebenfalls können architektonische Gegebenheiten den Zugang zu einer Einrichtung erschweren oder gar verhindern (Schmidt 2011b: 65). Selbst wenn die Besucher_innen das Angebot bereits nutzen, kann es in Krisensituationen wichtig sein, ungesehen die Einrichtung, etwa durch einen Hintereingang, betreten zu können (Cloos und Köngeter 2006: 77-78).
Laut Cloos und Köngeter (2009: 89) gibt es fünf unterschiedliche Arten des Zugangs. Nicht immer entscheiden sich Kinder- und Jugendliche aktiv eine Einrichtung aufzusuchen. Stattdessen erhalten sie Zugang über andere Institutionen, wie etwa der Schule oder erlangen Kenntnis über die Einrichtung durch positive Zusprache ihrer Eltern. Ebenfalls kann es sein, dass Offene Kinder- und Jugendarbeit aufgefordert wird, die Klientel aufzunehmen, weil sie an anderen öffentlichen Orten ‚auffällig‘ geworden ist. Das zufällige Finden der Einrichtung, ohne dass ein gezieltes Suchen stattgefunden hat, stellt eine weitere Zugangsmöglichkeit dar. Entgegen diesen Zugangsweisen steht das gezielte Aneignen des Raumes, das Kinder und Jugendliche insbesondere in Gruppen vornehmen. Als letzte Zugangsmotivation kann das Interesse an bürgerschaftlichem Engagement in der Einrichtung genannt werden.
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- Quote paper
- Daniel Marenke (Author), 2019, LSBTTIQ-Jugendliche in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/445714
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