Die vorliegende Arbeit erörtert den Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen in den unterschiedlichen Lebenswelten von Kindern, indem sie die in der BRD geführte Diskussion zu diesem Thema aufgreift. Der betrachtete Zeitraum beschränkt sich dabei auf die Zeit seit 1970. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, diese kontrovers geführte Diskussion zu einer Lösung zu führen, sondern sie lediglich in ihrer Vielfalt darzustellen. Die vorliegende Arbeit ist eine Gemeinschaftsarbeit von Thilo Heidelmayer und Mike Schwering. Die Verfasser der einzelnen Kapitel werden durchgängig kenntlich gemacht.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung (Thilo Heidelmayer/ Mike Schwering)
1.1 Forschungsinteresse
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Begriffsbestimmungen/Grundlegungen
2.1 Kindheit (Mike Schwering)
2.1.1 Lebensphase Kindheit
2.1.2 Die Entwicklung zum ‚Kind als Akteur’
2.1.3 Eingrenzung des Kindheitsbegriffes
2.2 Der Begriff der Lebenswelt (Thilo Heidelmayer)
2.2.1 Die Wurzeln des Lebensweltbegriffes
2.2.2 Lebenswelt von Kindern
2.2.3 Sozialökologische Betrachtungsweise
3 Zur Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung (Thilo Heidelmayer)
3.1 Identität und Selbstkonzept
3.1.1 Die Rolle der Körper- und Bewegungserfahrungen für die Selbsterfahrung
3.1.2 Rückschlüsse von Selbsterfahrungen auf die eigene Person
3.1.3 Die Rolle des Selbstkonzeptes für das Kind
3.1.4 Empirische Befunde
3.2 Soziale Entwicklung
3.2.1 Empirische Befunde
3.3 Kognitive Entwicklung
3.3.1 Der Prozess des Lernens
3.3.2 Empirische Befunde
3.4 Gesundheit und Wohlbefinden
3.4.1 Gesundheitsfaktoren
3.4.2 Empirische Befunde
3.5 Motorische Fähigkeiten
4 Kinder und Familie (Mike Schwering)
4.1 Darstellung der Veränderung
4.1.1 Familienstruktur
4.1.2 Erziehung
4.2 Diskussion um die Veränderung
5 Kindliche Wohnumwelt (Thilo Heidelmayer)
5.1 Darstellung der Veränderung
5.1.1 Veränderung des Stadtbildes
5.1.2 Veränderung der Wohnsituation
5.2 Diskussion um die Veränderung
6 Formelle Räume für Kinder (Mike Schwering)
6.1 Darstellung der Veränderung
6.1.1 Kindertageseinrichtungen
6.1.2 Schule
6.1.3 Verein
6.1.4 Kommerzielle Anbieter
6.2 Diskussion um die Veränderung
7 Kinder und Konsum (Mike Schwering)
7.1 Medienkonsum
7.1.1 Darstellung der Veränderung
7.1.2 Diskussion um die Veränderung
7.2 Kinder als Konsumenten
7.2.1 Darstellung der Veränderung
7.2.2 Diskussion um die Veränderung
8 Der Umgang mit Zeit (Thilo Heidelmayer)
8.1 Darstellung der Veränderung
8.2 Diskussion um die Veränderung
9 Aussichten (Mike Schwering/Thilo Heidelmayer)
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung (Thilo Heidelmayer/ Mike Schwering)
Die vorliegende Arbeit erörtert den Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen in den unterschiedlichen Lebenswelten von Kindern, indem sie die in der BRD geführte Diskussion zu diesem Thema aufgreift. Der betrachtete Zeitraum beschränkt sich dabei auf die Zeit seit 1970. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, diese kontrovers geführte Diskussion zu einer Lösung zu führen, sondern sie lediglich in ihrer Vielfalt darzustellen. Die vorliegende Arbeit ist eine Gemeinschaftsarbeit von Thilo Heidelmayer und Mike Schwering. Die Verfasser der einzelnen Kapitel werden durchgängig kenntlich gemacht.
1.1 Forschungsinteresse
Unsere moderne Gesellschaft zeichnet sich durch Widersprüche in bewegungsbezogenen Lebenswelten von Kindern aus, welche polare Tendenzen aufzeigen. Diese grenzen das Kontinuum der geführten Diskussion ein. So ist zum einen eine vermehrte Körperthematisierung auszumachen, bei gleichzeitigem Verschwinden von Körperlichkeit. Zum anderen wird ein Verlust von Primärerfahrungen beklagt, dem eine Steigerung der Erfahrungsmöglichkeiten gegenübersteht. Des Weiteren wird den heutigen Kindern ein Bewegungsmangel konstatiert, in einer Zeit, in der die Bewegungsangebote für sie immer differenziertere Züge annehmen.
In der Öffentlichkeit wird dieses dargestellte, breite Spektrum der Diskussion vornehmlich auf den negativen Pol reduziert, was sich in Form einer Defizithypothese zeigt.
Bekräftigt wird dieses Meinungsbild durch Beiträge aus der Wissenschaft, welche den Kindern eine Bewegungssituation und Fitness attestieren, welche „desolat [ist] und noch desolater [wird]“ (BÖS 1999, S.45) und auf Bewegungsmangel zurückzuführen sei. Metaphorisch wird die Dringlichkeit der Situation mit dem Verweis deutlich gemacht, dass es „5 Minuten vor 12“ (BÖS 1999, S.33) sei und eine positive Lebensbewältigung und ein Leben in Gesundheit in Frage stehen (vgl. ebenda, S.45).
Diese und ähnliche Aussagen sollen durch den Verweis auf exemplarische Studien zum Bewegungsverhalten heutiger Kinder untermauert werden.
Weniger spektakulär versucht sich der Erste Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht dieser Thematik anzunehmen. Jedoch stellt auch er fest, dass „die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen 25 Jahren um durchschnittlich mehr als 10% abgenommen hat“ (SCHMIDT et al 2003, S.105). Dem stellt der Bericht eine beständig steigende Mitgliederzahl von Kindern in Sportverbänden gegenüber (vgl. ebenda, S.161).
Die im Laufe dieser Arbeit durch Zahlen belegte und oben erwähnte Paradoxie des Zustandes heutiger Kinder, von Bewegungsmangel bedroht zu sein, aber gleichzeitig ein immer größeres Sportangebot vorzufinden, veranlasst uns, den Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen in Lebenswelten von Kindern analytisch zu bearbeiten. Leitfaden hierfür soll die hierüber geführte Diskussion sein.
Was heißt es, ‚erwachsen’ zu sein? Was bedeutet es für individuelle Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse, wenn die Gesellschaft sich verändert, in die Kinder doch ‚hineinwachsen’ sollen? Diese Fragen sind seit den 70er Jahren drängend geworden. Eine ‚alle Lebensbereiche erfassende Entwicklungsbeschleunigung’, ein ‚Modernisierungsschub’ (vgl. Zeiher & Zeiher 1994) wurde zum Impuls einer sozialwissenschaftlichen Debatte über Kinder und Kindheit, die bis heute anhält.
1.2 Aufbau der Arbeit
Zu Beginn sollen die in dieser Arbeit benutzten Begriffe Kindheit und Lebenswelt erläutert werden.
In einem kurzen historischen Abriss wird in Unterpunkt 2.1.1 zunächst die Entstehung der Lebensphase Kindheit dargestellt. Der Begriff der Entstehung macht deutlich, dass es diese Lebensphase nicht immer gab. Sie ist ein Kunstprodukt der Gesellschaft und damit ständig Veränderungen unterworfen, die von den jeweiligen Normen und Werten der Gesellschaft abhängen. Wichtig dabei ist auch, dass nicht von der Kindheit bzw. den Kindern gesprochen werden kann. Es gibt immer verschiedene Darstellungen von Kindheit und auch, wenn von Angleichungen der Bedingungen die Rede ist, ist zu berücksichtigen, dass Kindheit weder in der Vergangenheit, noch heute für jedes Kind gleich ist. Sie ist immer individuell, und auch wenn in dieser Arbeit verallgemeinernd von Kindheit die Rede ist, sollte dieser Aspekt vom Leser berücksichtigt werden.
Der anschließende Unterpunkt 2.1.2 beschäftigt sich mit der veränderten Sicht auf die kindliche Entwicklung, bis hin zum aktuellen Bild der Kindheitsforschung, dem des Kindes als Akteur.
Abschließend werden zwei verschiedene Definitionen von Kindheit präsentiert, deren Intention die zeitliche Eingrenzung dieser Lebensphase ist und somit für den weiteren Verlauf der Arbeit eine genaue Abgrenzung darstellt.
Der Begriff der Lebenswelt wird in der Kindheitsforschung regelmäßig zur Beschreibung der Lebensumstände mit all ihren Facetten genutzt, wobei er in den seltensten Fällen klar definiert wird (z.B. BREUER 2002). Um in dieser Arbeit eine klare und einheitliche Nutzung des Lebensweltbegriffes sicherzustellen, klärt der zweite Teil der Grundlegungen diesen. Vor einer Erläuterung der kindlichen Lebenswelt, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, wird auf die Ursprünge des Lebensweltbegriffes und seine Begründer eingegangen.
So wird zuerst auf die Sichtweise HUSSERLs (1962) eingegangen, welcher zum einen die Lebenswelt als eine anschauliche und konkrete Umwelt ansieht, zum anderen als „das Universum des Selbstverständlichen, als anthropologisches Fundament jeder Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt“ (HUSSERL 1962).
Die Sichtweise auf diese Umwelt haben SCHÜTZ/LUCKMANN (1991) weiterentwickelt und damit eine systematische Beschreibung der Alltagswelt als soziale Wirklichkeit vorangetrieben, wobei sie einen oszillierenden Charakter dieser ‚alltäglichen Lebenswelt’ herausstellen. Wissen über diese Lebenswelt kann nur über ‚verstehende Aufarbeitung menschlicher Erfahrungen’ gesammelt werden (vgl. BAACKE 1995, S.82).
Dieser Erkenntnis folgend teilt diese Arbeit die Lebenswelten von Kindern in thematische Strukturen auf, um den immer schneller werdenden Modernisierungsprozess und die Ausdifferenzierung von Lebensmustern möglichst anschaulich darstellen zu können, wobei dies aus einer sozial-ökologischen Sichtweise geschieht (vgl. DIETRICH/LANDAU 1990) . Die Lebenswelt heutiger Kinder wird in das folgende Determinantensystem unterteilt:
1. Familie
2. Wohnumwelt
3. Formelle Räume
4. Medien
5. Zeit
Die Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung wird in Punkt 3 erläutert. Dieser möchte zum einen den ganzheitlichen Aspekt der kindlichen Entwicklung betonen und körperliche Bewegung als vor allem „ein grundlegendes Mittel zum gefühlsmäßigem Erleben, zur Verständigung, Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft und Erkenntnisgewinnung“ (Sportjugend NRW 1996, S.4) herausstellen. Zum anderen dient es dem Zweck des Versuchs einer Erklärung des Aufkommens der schon seit längerem geführten Diskussion innerhalb Deutschlands bezüglich einer veränderten Lebenswelt und den sich daraus ergebenden Folgen auf die Körper- und Bewegungserfahrungen für Kinder. Dem ganzheitlichen Ansatz folgend, werden die Körper- und Bewegungserfahrungen in fünf Aspekte unterteilt. So werden Körperaktivitäten in Bezug auf die Entwicklung der Identität und des Selbstkonzeptes, der sozialen Entwicklung, der kognitiven Entwicklung, der gesundheitlichen Entwicklung sowie der motorischen Entwicklung dargestellt. In der eingangs erläuterten Defizithypothese wird vornehmlich auf einen Rückgang der motorischen Fähigkeiten hingewiesen. Die gewählte Reihenfolge der Auflistung spiegelt keine Gewichtung der einzelnen Aspekte wider. Ein Blick auf verschiedene empirische Untersuchungen soll am Ende jedes Unterpunktes die in der einschlägigen Fachliteratur getätigten Aussagen belegen oder widerlegen oder zur Erkenntnis führen, dass bestimmte Zusammenhänge nur sehr schwer anhand bestehender wissenschaftlicher Studien belegt werden können.
Das bereits erwähnte Determinantensystem und die dazugehörige Unterteilung in Cluster soll die Darstellung der Veränderungen in den komplex miteinander verwobenen Lebenswelten vereinfachen, um an ihnen den Stellenwert der Körper- und Bewegungserfahrungen in diesen Clustern zu verdeutlichen. Eine von uns vorgenommene Gewichtung der einzelnen Cluster spiegelt sich in Hinblick auf ihren Einfluss auf Körper- und Bewegungserfahrungen in der gewählten Reihenfolge wider. Die beiden letzten Cluster stellen keine Lebenswelten dar, sondern sind übergeordnet zu betrachten. Sie beleuchten das Konsumverhalten von Kindern und ihren Umgang mit der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit. Diese systematische Strukturierung dient ausschließlich der Vereinfachung der Darstellung. Die Cluster selbst sind inhaltlich untrennbar miteinander verbunden.
„Die Familie ist für fast alle Kinder der erste und wichtigste Lebensbereich [und] […] fungiert als elementare Sozialisationsinstanz, die alle Entwicklungsimpulse für Kinder koordiniert“ (BRÜNDEL/HURRELMANN 2003, S.96). Damit hat sie besonderen Einfluss auf die Körper- und Bewegungserfahrungen der Kinder. Wie in Punkt 2.1.1 bereits geschildert, ist dieser Lebensbereich immer schon Veränderungen unterworfen gewesen, doch besonders in den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Lebensbereich, wie in Punkt 4.1 beschrieben wird, noch einmal enorm gewandelt. Dies ist Grund genug, die Familie, die darin erfolgten Veränderungen und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Körper- und Bewegungserfahrungen der Kinder darzulegen. Dabei werden die Veränderungen dieses Lebensbereiches von Kindern zum einen an der Familienstruktur und zum anderen an der Erziehung festgemacht.
Das zweite Cluster beschreibt die kindliche Wohnumwelt, welche die Wohnung als auch die nähere und weitere für das Kind erreichbare Wohnumgebung umfasst. Der erste Teil dieses Kapitels zeigt die starke Veränderung inner- wie außerhäuslicher Wohnumstände während der letzten Jahrzehnte getrennt auf, wobei hauptsächlich die baulichen Veränderungen und der vermehrt aufkommende Verkehr mit ihren Folgen für die Handlungsmöglichkeiten heutiger Kinder beschrieben werden. Diese Veränderungen werden anhand von konkreten Zahlen im zweiten Teil dieses Abschnitts veranschaulicht. Des Weiteren werden Studien vorgestellt, welche das Bewegungsverhalten der letzten drei Jahrzehnte beispielhaft miteinander vergleichen und sich das Bewegungsverhalten heutiger Kinder in ihrer Umwelt genauer betrachten. Im darauf folgenden Abschnitt wird die in der BRD geführte, die kindliche Wohnumwelt betreffende Diskussion mit ihren verschiedenen Facetten vorgestellt. So haben sich in Bezug auf kindliche Lebenswelten die Begriffe ‚Verhäuslichung’ und ‚Verinselung der Lebenswelten’ (ZINNECKER 1990) herauskristallisiert, welche andere Autoren jedoch als „Extremformen“ (LEDIG et al 1987, S.29) ansehen und relativieren. Die letztere Gruppe sieht in den Kindern „produktiv-realitätsverarbeitende Subjekte“ (HURRELMANN 1989, S.93), welche die ihnen gegebenen, äußeren Umstände in ihrem Sinne nutzen. So steht in der Diskussion die Meinung über Wohnumwelt als etwas „[B]ewegungsfeindliches“ (KIPHARD 1997, S.51) der Meinung einer neuen „Asphalt-Kultur“ (SCHMIDT 2003, S.120) mit „großer Bewegungsvielfalt“ gegenüber.
Nach der ausführlichen Beschreibung der kindlichen Wohnumwelt sollen im nächsten Schritt, demnach Punkt 6 dieser Arbeit, die formellen, also betreuten Lebensräume von Kindern dargestellt werden. Auch diese Lebenswelten von Kindern waren in den letzten Jahrzehnten einigen Veränderungen unterworfen, die Einfluss auf den Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen der Kinder haben. Um die Veränderungen in diesen Räumen besser darlegen zu können, ist eine differenzierte Sicht auf die einzelnen formellen Räume erforderlich. Die vorgenommene Aufteilung in die Räume Kindertageseinrichtung, Schule, Verein und kommerzielle Anbieter ist daher sinnvoll. Der Begriff ‚Kindertageseinrichtung’ ist wenig konkret, weshalb er in der Arbeit selbst noch einmal in die Räume Kindergarten, Hort und Kinderkrippe untergliedert wird. Die Reihenfolge der Räume ist bewusst ausgewählt. Als erstes beschreibt diese Aufteilung in Kindertagesbetreuung und Schule den gewohnten Sozialisationsablauf eines Kindes, um dann anschließend mögliche, begleitende Institutionen des Kindes zu nennen, wobei der Stellenwert der kommerziellen Anbieter mit dem des Vereins, besonders während des in dieser Arbeit gewählten Altersabschnittes der Kinder, nicht zu vergleichen ist.
Das Cluster ‚Kinder und Konsum’ teilt sich in zwei Teile auf. Zunächst wird der Medienkonsum von Kindern erörtert. Dabei wird der Blick zunächst auf die durchschnittliche Ausstattung der deutschen Haushalte mit Medien aller Art gerichtet. Um die Veränderungen aufzeigen zu können, werden dabei Daten von 1979, 1990 und 2003 miteinander verglichen. Dieser Vergleich wird ebenfalls bei der Mediennutzung der Kinder vorgenommen. Unterschieden wird bei diesen beiden Vergleichen zwischen den Klein- bzw. Vorschulkinder und den Grundschulkindern. Anschließend wird die Diskussion über die Konsequenzen der in Punkt 7.1.1 nachgewiesenen vermehrten Medienpräsenz und auch Mediennutzung für die Körper- und Bewegungserfahrungen der Kinder wiedergegeben. Im zweiten Abschnitt dieses Punktes wird auf die Kinder als Konsumenten eingegangen. Die Neuentdeckung des Kindes als kaufkräftiger Konsument als auch die Wirkung von Fernsehwerbung auf Kinder steht dabei im Fokus der Betrachtung. Diese Aspekte haben auch Auswirkung auf das Bewegungsverhalten von Kindern, welche sich in dem dargelegten Meinungsbild der verschiedenen Autoren widerspiegeln.
Das letzte Cluster greift den Aspekt der Zeit auf und beschreibt die Entwicklung der Sichtweise auf Zeit von etwas „natürlich Erlebtem“ (ROLFF/ZIMMERMANN 1985, S.169) zu einem von Terminen geprägten „Modernen Zeit-Rhythmus“ (DIETRICH 1985, S.66). Letzterer wird anhand eines exemplarischen Zeitbudgetplans heutiger Kinder verdeutlicht, welcher den durchstrukturierten Charakter eines für Kinder typischen Nachmittags verdeutlichen soll. Im zweiten Teil dieses Clusters werden Studien vorgestellt, die Auskunft über zeitliche Abläufe in der Freizeit Aufwachsender aufzeigen, wie z.B. anhand einer Top-Five-Tätigkeitsliste (vgl. KLEINE 2003a, S.21 f.), welche Daten über die konkrete Zeitnutzung heutiger Kinder - die Lebenswelten übergreifend betrachtend- herausstellt. Hierbei soll den Bewegungszeiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit der die Zeit heutiger Kinder betreffenden Diskussion. Diese werden weniger kontrovers geführt als z.B. die Diskussion um die Nutzung heutiger städtischer Räume. Dieser Abschnitt ist deshalb vielmehr eine Aneinanderreihung von Feststellungen und Interpretationen des oben aufgezeigten Verhaltens im Umgang mit der Kindern zur Verfügung stehenden Zeit. So wird die Zeit heutiger Kinder z.B. als „schematisiert, befristet und budgetiert“ (ROLFF/ZIMMERMANN 1985, S.169) bezeichnet.
Das letzte Kapitel möchte einen kurzen Blick auf zukünftige Aufgaben in dem behandelten Themenbereich werfen.
Bei der Darstellung der Diskussion kommt es in dieser Arbeit nicht darauf an, ein komplettes Sammelsurium an Autoren zu liefern, welche einer bestimmten Meinung zustimmen. Vielmehr sollen die Meinungen zu den jeweiligen sich gegenüberstehenden Positionen verschiedener Autoren gebündelt und damit die Hauptstränge der Diskussion im jeweiligen Bereich aufgezeigt werden.
Die in dieser Arbeit erörterte Veränderung verschiedener Aspekte der Kindheit und den diesbezüglichen Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen werden auf vielen Ebenen thematisiert. So werden gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Diskussionen über diese Thematik geführt. Diese Arbeit ist zwar durch gesellschaftliche bzw. mediale Diskussionen angeregt, stellt aber ausschließlich die wissenschaftliche Diskussion dar. Hierbei wird sich wirkmächtiger Autoren bedient, die Abhandlungen zu den jeweiligen Themenbereichen verfasst haben und regelmäßig von anderen Autoren zu diesem Thema zitiert werden.
Einschränkend wirkt dabei der vorgegebene Rahmen der Arbeit, sodass die einzelnen Aspekte der Veränderung nicht bis ins Detail beleuchtet werden können. Vielmehr soll ein möglichst breiter Überblick über die Veränderungen der Lebenswelt von Kindern gegeben werden.
In den von uns betrachteten Zeitraum fällt die Wiedervereinigung Deutschlands. Dies bringt eine Verzerrung der hier vorgestellten Statistiken mit sich, welche zu beachten ist. Ebenso zu beachten ist die durch die Währungsreform hervorgerufene Umstellung von DM auf Euro, welche sich ebenfalls in den Tabellen niederschlägt.
Diese Arbeit folgt der Definition von Körper- und Bewegungserfahrungen des Sportwissenschaftlichen Lexikons (RÖTHIG/PROHL 2003). In ihm werden Körper- und Bewegungserfahrungen innerhalb der Disziplin der Sportpädagogik als notwendige Bestandteile einer ganzheitlichen Erziehung und Bildung bezeichnet (vgl. FUNKE; TREBELS In: THIELE 2003, S.176). Unter Körper- und Bewegungserfahrungen wird in dieser Arbeit die Summe jeglicher Empfindungen und Wahrnehmungen verstanden, welche im Zusammenhang mit dem eigenen Körper stehen (vgl. BREHM/TIEMANN 2003, S.311). Diese Empfindungen werden in dieser Arbeit über Bewegungsaktivitäten vermittelt gesehen.
Die Hausarbeit wurde nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst. Davon ausgenommen sind die verwendeten Zitate der Literatur, die aufgrund des Zeitraums der Veröffentlichung überwiegend in alter Rechtschreibung vorliegen.
2 Begriffsbestimmungen/Grundlegungen
In diesem Kapitel sollen zunächst grundlegende Begriffbestimmungen und Vorgehensweisen dargelegt werden. Da im Folgenden immer wieder die Rede von ‚kindlichen Lebenswelten’ sein wird, gilt es zunächst die Lebensphase von Kindern, also die ‚Kindheit’ zu skizzieren, um dann genauer auf den Begriff der ‚Lebenswelt’ einzugehen.
2.1 Kindheit (Mike Schwering)
Während der letzten Jahrzehnte ist Kindheit immer mehr in den Fokus der Wissenschaft geraten. Mit seinem Buch ‚Geschichte der Kindheit’ schuf Philippe ARIÈS (1998) zu Beginn der 70er Jahre dieses Forschungsgebiet und löste einen regelrechten Boom aus. POSTMAN sieht in diesem Boom ein Anzeichen für das Verschwinden der Kindheit (vgl. POSTMAN 2003, S.15). Dieser Hypothese kann in dieser Arbeit zwar nicht weiter nachgegangen werden, Tatsache ist jedoch, dass sich mit den zahlreichen ernstzunehmenden Erscheinungen in diesem Bereich der Begriff der Kindheit immer mehr ausdifferenzierte.
Diese Ausdifferenzierung spiegelt sich in den verschiedenen Sichtweisen auf Kindheit wider, wie etwa einer soziologischen, psychologischen und pädagogischen. Sozialisationsforschung z.B. betrachtet Kindheit in Verbindung mit der Gesellschaft bzw. das Wirken dieser auf die Kindheit, während die psychologische Sichtweise das Individuum selbst in den Vordergrund stellt und dabei seinen Blick auf die Prozesse und Steuerungsmechanismen, die im Inneren ablaufen, richtet. Pädagogen schließlich gehen von einem normativen Zustand aus und skizzieren, wie Kindheit sein sollte. Diese Bandbreite an Zugängen zum Thema Kindheit macht deutlich, dass an dieser Stelle der Arbeit keine allgemein gültige Definition des Begriffes Kindheit gegeben werden kann. Vielmehr will dieses Kapitel versuchen, den Kindheitsbegriff in einer für diese Arbeit notwendige Art und Weise einzugrenzen.
Weiterhin soll ein kurzer historischer Abriss über die Entstehung des Begriffes Kindheit und seine Entwicklung als Lebensphase bis heute vorgenommen werden. Dies soll herausstellen, dass sie über die Jahrhunderte hinweg immer Veränderungen unterlag, was DE MAUSE (1979), ARIÈS (1998) und POSTMAN (2003) auf unterschiedliche Art und Weise feststellen und interpretieren.
„[Aber] [t]rotz unterschiedlichster Methoden und Bewertungen weisen diese 'Klassiker' einen gemeinsamen Nenner auf: Das Entstehen und Gehen fundamentaler Kategorien des Alltagslebens (z.B. Normen und Werte) und den Bedeutungswandel diverser Institutionen (z.B. Familie und Schule)“ (SCHMIDT 2002, S.12).
Da auf diese Thematik jedoch so differenziert nicht eingegangen wird, verweise ich hier auf die Werke dieser Autoren (vgl. DE MAUSE 1979, ARIÈS 1998, POSTMAN 2003).
Genau wie die Geschichte der Kindheit und die Lebenssituation der Kinder haben sich auch die „Fragen der wissenschaftlichen Bearbeitung und Bewertung von Kindheit“ (SCHMIDT 2003, S.22) im jeweiligen Kontext der Zeit entwickelt, sodass der Stand der modernen Kindheitsforschung in Punkt 2.1.2 seine Berücksichtigung findet.
2.1.1 Lebensphase Kindheit
„Bis zum Ende des Mittelalters gab es keinen Begriff für »Kindheit« als eine eigenständige Lebensphase in der Biographie eines Menschen“ (BRÜNDEL/HURRELMANN 1996, S.16). Sobald sich Kinder selbst fortbewegen und verständlich machen konnten, waren sie Teil der Erwachsenenwelt. Sie stellten eine „Miniaturausgabe“ (BRÜNDEL/ HURRELMANN 2003, S.58) dieser dar, was sich in der Kleidung, aber auch in den Aufgaben des Alttags und den sozialen Kontakten widerspiegelte. Die Individualität der einzelnen Kinder stand im Schatten der Großfamilie bzw. der zahlreichen Geschwister, was dazu führte, dass der Tod eines einzelnen Kindes keine große Bedeutung hatte. Es wurde schon bald durch ein Neues ersetzt. Familienmitglieder jeder Generation wohnten unter einem Dach, was ein sehr intensives und gemeinschaftliches Leben mit wenig Raum für Intimität, Scham oder Diskretion zur Folge hatte. Die Erwachsenen dienten den Kindern als Lehrmeister für alle Lebensbereiche, woran man sehen kann, dass Kinder nicht bewusst vernachlässigt wurden, sondern das Leben von Pragmatismus bestimmt wurde. Die Familie hatte zu dieser Zeit die Funktion, das Über- und Fortleben des Familienstammes zu sichern und damit auch für die Fortführung des Namens und die Weitergabe von Besitzgütern zu sorgen.
Bereits im Spätmittelalter begannen sich diese Einstellungen gegenüber Kindern zu ändern. Das kindliche Wesen entfaltete vermehrt seine magische Anziehungskraft auf Erwachsene, welche es auch heute noch besitzt. Mütter, Ammen oder Kinderfrauen fanden Gefallen am Spiel mit Kindern und amüsierten sich mit und an ihnen.
Der Einfluss von Moralisten, Wissenschaftlern und Kirche auf die Lebensphase Kindheit wurde im Verlauf des 14. Jahrhunderts immer größer, sodass sich das Bestreben nach Formung, Bildung und Erziehung von Kindern entwickelte. Dieser Gedanke der Erziehung und Bildung war entscheidend für die Entstehung der Lebensphase Kindheit, denn er bewirkte, dass sich Kinder in Seminaren und Kollegs und somit nicht mehr nur in der Welt der Erwachsenen aufhielten. Auch wenn sich dieser Prozess nur sehr langsam vollzog und längst nicht allen Kindern zu Gute kam, kristallisierte sich Schule als eine Institution neben der bürgerlichen Kleinfamilie heraus. Parallel dazu entwickelte sich ein neues, soziales und pädagogisches Bild vom Kindsein, was diesen Prozess begleitete und weiter beschleunigte.
„Kinder galten ab dem 14. Jahrhundert nicht mehr als »kleine Erwachsene«, sondern als Menschen, die noch nicht erwachsen waren und sich in einer eigenständigen Entwicklungsphase befanden; als Menschen, die besondere Verhaltensansprüche stellten und denen noch nicht alle Handlungsmöglichkeiten und Teilnahmerechte der Erwachsenen zugesprochen werden konnten“ (BRÜNDEL/HURRELMANN 1996, S.17 f.).
Zunächst diente diese Entwicklungsphase dazu, „…Kinder und Jugendliche lediglich dem jeweils zeitgeschichtlich für sinnvoll erachteten Verhalten der Erwachsenen anzupassen,…“ (SCHMIDT 2003, S.20). Erst ROUSSEAU (1963) und PESTALOZZI (1956) hinterfragten diese Praxis und beschäftigten sich mit Fragen nach dem eigenen Ziel der Erziehung und dem Recht der Kinder auf eine erfüllte Gegenwart, Mündigkeit und Selbständigkeit.
Einen großen Unterschied in der gerade skizzierten Darstellung von Kindheit gab es innerhalb der Bevölkerungsstände. So findet die Modernisierung bzw. erst einmal die Ausdifferenzierung der Lebensphase Kindheit und eine daraus resultierende Trennung von Erwachsenenleben und Kindheit bis ins industrielle Zeitalter hinein in den armen Bevölkerungsgruppen nicht statt. Die Arbeitskraft dieser Kinder wird z.B. in Manufakturen oder im Bergbau ausgebeutet, was moralisch in dieser Bevölkerungsschicht jedoch keinesfalls verwerflich war.
Diese Problematik der Ungleichheit konnte erst mit dem 1890/91 in Kraft tretenden preußischen Gesetz zum Verbot von Kinderarbeit bis zur Vollendung der Schulpflicht mehr und mehr behoben werden.
Aber vor allem die Einführung der achtjährigen Schulpflicht 1922, das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und die Einführung des Acht-Stunden-Tages bewirkten die schichten- und milieuübergreifende Trennung von Erwachsenen- und Kinderwelt.
Wurde Erziehung und Bildung zunächst nur darauf verwendet, Kinder zu gesellschaftlich tüchtigen Bürgern heranzuzüchten, steht heute die kindliche Subjektivität und Individualität im Vordergrund. Kinder haben einen großen emotionalen Wert und dienen vermehrt der elterlichen Sinnerfüllung. Mit der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts 1990 erhält Kindheit zusätzliche juristische Wertschätzung bzw. eine gesetzliche Absicherung, „…die dem Wohl des Kindes und seiner subjektiven Rechte gewidmet ist“ (SCHMIDT 2003, S.21).
Tab. 1 – Vorstellungen von der Persönlichkeit , Erziehung und Bedeutung des Kindes im historischen Verlauf
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(BRÜNDEL/HURRELMANN 1996, S.19)
Diese Tabelle fasst den von mir dargelegten geschichtlichen Überblick noch einmal zusammen und macht außerdem deutlich, dass sich Kindheit über den Verlauf der letzten Jahrhunderte hinweg nicht auf eine Art und Weise beschreiben oder definieren lässt.
„Kindheit […] in einem permanenten gesellschaftlichen Prozess geschaffen und rekonstruiert, erhält in diesem Prozeß ihre spezifischen Merkmale und Charakteristika, die das alltägliche Leben von Kindern und ihre spezifischen Lebenswelten prägen und gestalten. Jede Gesellschaft schafft ihre spezifische Kindheit, die prinzipiell von den gleichen ökonomischen, politischen und sozialen Kräften bestimmt wird, die die Rahmenbedingungen für das Leben der Erwachsenen bilden“ (WILK 1994, S.13).
Das verdeutlicht, dass manche Aussagen über Kindheit reflektiert und relativiert werden müssen, da sie zum großen Teil einer persönlichen Sehnsucht nach der eigenen, zumeist verklärten Sichtweise von Kindheit entspringen. DIETRICH stellt sich eben diese Fragen:
„Sucht man zu Unrecht in der Lebenswelt der Kinder heute die Erinnerungen der eigenen Kindheit? Unterliegen wir damit nicht einer romantisierenden Betrachtung mit Maßstäben, deren Anwendung heute als unangemessen gelten muss“ (DIETRICH 1996, S.35)?
In anbetracht dessen mahnt er an zu hinterfragen, „wie […] Kinder heute ihre eigene Lebenswelt [beurteilen]“ (ebenda, S.35).
„[Außerdem dokumentieren] [a]lltägliche Beobachtungen und auch Selbstzeugnisse […] die großen Unterschiede tatsächlicher Lebensweisen von Kindern. Sie legen nahe, Kinder als „Subjekte“ zu begreifen, die sich vor dem Hintergrund ihrer je spezifischen Bedürfnisse und Interessen mit den räumlichen und sozialen Gegebenheiten ihrer Umwelt aktiv auseinandersetzen“ (BREUER 2002, S.6)
In Bezug auf diese Individualität und Subjektivität von Kindheit sollte im weiteren Verlauf der Arbeit also berücksichtigt werden, dass die von uns getroffenen Aussagen zur Kindheit und dessen Veränderung nicht für jedes Kind relevant sind, sondern immer nur einen Ausschnitt der breiten Masse darstellen.
2.1.2 Die Entwicklung zum ‚Kind als Akteur’
Betrachtet man die Entwicklung von Kindern, bzw. wie sich Körper- und Bewegungserfahrungen auf diese auswirken, ist das in der Kindheitsforschung aktuelle Bild des Kindes grundlegend. In diesem Unterkapitel wird zunächst kurz dargelegt, wie sich die Sicht auf die Entwicklung des Kindes, besonders die auf Bewegungsaktivitäten, in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Anschließend wird das in der Kindheitsforschung aktuelle Bild skizziert, sodass darauf im weiteren Verlauf der Arbeit Bezug genommen werden kann.
„Bis Ende der 60er-Jahre hat eine phasentheoretische Entwicklungspsychologie angenommen, dass die seelische und körperliche Entwicklung in der Natur des Menschen verankert sei“ (SCHMIDT 2003, S.22). PIAGET (2003) war es, der jedem Alter eine bestimmte Entwicklungsstufe zuordnete. „Die Leibeserziehung der 50er und 60er Jahre hat daraus die Zuordnung bestimmter motorischer Leistungsvollzüge zu bestimmten Altersabschnitten abgeleitet“ (SCHMIDT 2002, S.9). Diese fanden sich auch in den Rahmenrichtlinien von 1966 wieder und wurden theoretisch nicht mehr hinterfragt. Erst das Übertreffen der vorgegebenen Leistungsfähigkeit brachte diesen Ansatz ins Wanken. Die Entwicklung sollte von nun an als Ganzes betrachtet werden, „als komplexes Geflecht von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen […] [mit der] individuelle Entwicklungs-Verläufe als Ergebnis der zeitlich vorangegangenen Einflüsse und Ursachen“ (ebenda, S.10) analysiert werden.
„Die moderne Kindheitsforschung […] stellt das Kind als menschliches Subjekt in den Mittelpunkt und akzeptiert es als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Kinder werden als Akteure wahrgenommen, die sich ihre Welt aneignen und sie nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten versuchen. Sie werden nicht als »unfertige« Persönlichkeiten verstanden, die erst erwachsen werden, um reif und selbstständig zu sein. Vielmehr werden sie als Menschen gesehen, die den ersten Abschnitt einer langen Lebensspanne durchleben und hierbei eine ihrer Entwicklung und ihrem Alter angemessene Befriedigung von Bedürfnissen und Erfüllung von Lebensansprüchen erfahren wollen“ (BRÜNDEL/HURRELMANN 2003, S.7).
In dieser Entwicklung sollen sich Kinder soziale, motorische, kognitive und emotionale Handlungskompetenzen zu Eigen machen, „um sich mit der inneren und äußeren Realität auseinander[zu]setzen und mit anderen Menschen kommunizieren und interagieren zu können“ (BRÜNDEL/ HURRELMANN 1996, S.10).
Die persönliche Entwicklung von Kindern kann zwar nicht als abgeschlossen angesehen werden, was aber keinen Unterschied zu jedem anderen Menschen darstellt. Sie sind durchaus in der Lage, ihre Lebenswelt zu erschließen und sie ihrem eigenen, individuellen Bild anzupassen bzw. sie dahingehend zu verändern. Diese Individualität spiegelt sich im Wesen jedes einzelnen Kindes wider und es gilt, diese zu achten.
2.1.3 Eingrenzung des Kindheitsbegriffes
Die aktuelle Kindheitsforschung unterteilt das Leben in die Phasen Kindesalter, Jugendalter, Erwachsenenalter und Seniorenalter. Diese Lebensphasen können noch differenzierter untergliedert werden, was für diese Arbeit jedoch nur für die Lebensphase Kindheit relevant ist. Diese unterteilen BRÜNDEL/HURRELMANN (1996, S.28) zunächst in die frühe und die späte Kindheit. Die frühe Kindheit lässt sich noch in die Abschnitte Säugling (0-1Jahr) und Kleinkind (1-3 Jahre) aufgliedern, die späte Kindheit in die des Vorschulkindes (4-5 Jahre) und die des Grundschulkindes (6-11 Jahre).
Für den weiteren Verlauf der Arbeit ist es uns wichtig, eine Abgrenzung des Kindesalters zum Jugendalter vorzunehmen, um so einen genauen zeitlichen Rahmen unserer Untersuchung abzustecken.
Hilfreich hierfür ist die Definition von Kindheit von DUDEN, die besagt, dass Kindheit eine „Zeit [ist], in der jemand noch ein Kind ist, in der jemand aufwächst, heranwächst; [der] Lebensabschnitt eines Menschen als Kind […] [bzw. die] Altersstufe von der Geburt bis zur Geschlechtsreife“ (DUDEN 1999, S.2114).
Da die Geschlechtsreife jedoch keinen genauen Zeitpunkt in der Entwicklung eines Menschen darstellt, sondern individuell verschieden ist, wird mit der oben genannten Definition von Kindheit demnach kein präziser Zeitabschnitt, gemessen an den Lebensjahren eines Kindes, definiert und damit die Lebensphase Kindheit auf eine für uns erforderliche Art und Weise eingegrenzt.
Eine solche Definition von Kindheit findet man jedoch im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), was in § 7 festlegt:
„(1) Im Sinne dieses Buches ist 1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, soweit nicht die Absätze 2 bis 4 etwas anderes bestimmen,[…] (2) Kind im Sinne des § 1 Abs. 2 ist, wer noch nicht 18 Jahre alt ist. (3) (weggefallen) (4) Die Bestimmung dieses Buches, die sich auf die Annahme als Kind beziehen, gelten nur für Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“ (KJHG, S.42).
Von diesem Gesetz ausgehend befindet sich also jeder zwischen Geburt und 14. Lebensjahr in der Lebensphase Kindheit.
Diese Definition steckt, wie gewünscht, einen genauen zeitlichen Rahmen ab. Da sich der Zeitpunkt der Geschlechtsreife in den letzten Jahren im Lebenslauf jedoch nach vorne verlagerte, verschiebt sich die Jugendphase folgerichtig immer weiter nach vorn (vgl. HURRELMANN 2004, S.8). HURRELMANN (1996) als wirkmächtiger Autor definiert die Phase der Kindheit in seinem Werk als der Zeitraum von der Geburt bis zum 11. Lebensjahr. Diese von ihm vorgenommene Abgrenzung erachten wir in Bezug auf unsere Arbeit als passend, sodass sie uns von nun an als Grundlage unserer Recherche dient.
Diese Abgrenzung ist in dem Bewusstsein gewählt, dass sie eine sehr große Altersspanne abdeckt, welche die vier oben genannten Lebensabschnitte beinhaltet. Damit bezwecken wir, einen Trend für die gesamte Lebensphase Kindheit darzustellen. Der Abschnitt des Grundschulalters findet jedoch in der Darstellung vermehrt Berücksichtigung.
2.2 Der Begriff der Lebenswelt (Thilo Heidelmayer)
In der Kindheitsforschung hat sich größtenteils ein Paradigmenwechsel weg von einer Defizitanalyse hin zu einer Lebensweltanalyse vollzogen. In Diskussionen über den Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen spielt der Begriff ‘Lebenswelt’ eine zunehmend wichtige Rolle, ist er doch sehr dafür geeignet, in dessen Sinne die sozial-ökologischen Bedingungen des Aufwachsens zu beschreiben. Unzählige Veröffentlichungen berufen sich auf eine ‚kindliche Lebenswelt’, welche sich darüber hinaus auch noch „verändert“ (DIETRICH 1985, ZINNECKER 2001). Die „Verinselung der Lebenswelt“, wie es ZEIHER (1994, S.26) geprägt hat, ist ein Aspekt der Beschreibung dieser Veränderung. Eine Vielzahl an Publikationen sieht diese veränderte Lebenswelt im Laufe der Diskussion in direkter Verbindung mit einer „veränderten Bewegungswelt“ (HILDEBRANDT 1993). Diese wiederum, so die Meinung vieler Autoren, stellt nicht mehr genügend Bewegungsanreize zur Verfügung, um eine effektive Entwicklung zu gewährleisten (KIPHARD 1998). Viele Buchtitel lassen die Brisanz der Thematik erahnen: „Kindliche Lebens- und Bewegungswelt im Umbruch“ (HILDEBRANDT et al 1993); „Veränderte Kindheit - veränderte Bewegungswelt“ (SCHMIDT 1997) oder „Kindheit heute: Veränderte Lebensbedingungen = reduzierte motorische Leistungsfähigkeit?“ (DORDEL 2000).
Viele dieser Veröffentlichungen (z.B. BRÜNDEL/HURRELMANN 1996, SCHMIDT 2002) haben gemeinsam, dass sie den Begriff der Lebenswelt gebrauchen, um die Lebensumstände eines Menschen zu umschreiben. Oft scheint der Begriff an Schärfe zu verlieren, da er in vielen Kontexten verwendet wird, uneinheitlich auftritt und in den seltensten Fällen klar definiert wird (z.B. HILDEBRANDT et al 1993). So kommt es zu einer großen Deutungsvielfalt des Lebensweltbegriffes, welche verschiedene Beutungsvarianten innehaben (vgl. BERGMANN 1981, S.70). Um mit dem Begriff Lebenswelt jedoch effektiv arbeiten zu können, bedarf es einer grundlegenden Begriffsklärung, an welcher sich andere Lebensweltbegriffsverwendungen messen lassen können.
Dieser Teil der Arbeit befasst sich mit den Ursprüngen und der Weiterentwicklung des Begriffes der Lebenswelt und will die Vielschichtigkeit zweier Theorien der Lebenswelt, die HUSSERLs (1962) und SCHÜTZ/LUCKMANNs (1991) darlegen. Die oben erwähnte Vielschichtigkeit ist selbst bei den Begründern der Theorien festzustellen, welche ihn selbst auch nicht eindeutig definiert haben. Dieses Kapitel beschränkt sich auf die kurze Darstellung zweier Theorien der Lebenswelt, nämlich der HUSSERLs (1962) und SCHÜTZ/LUCKMANNs (1991). Sie erscheinen uns am geeignetsten, die Ursprünge des Begriffes der Lebenswelt zu beschreiben. Die Theorien werden in soweit skizziert, als dass sie den subjektiven Charakter einer jeden Lebenswelt, hervorgerufen durch die unterschiedlichen Lebensbedingungen, aber auch durch die Einzigartigkeit jedes Menschen, herausstellen sollen.
2.2.1 Die Wurzeln des Lebensweltbegriffes
Die Wurzeln des Begriffes der Lebenswelt liegen in der Phänomenologie, dessen Gründer Edmund HUSSERL (1962), welcher von 1859 - 1938 gelebt hat, ist. Die Phänomenologie ist Bestandteil der modernen Philosophie. Aus den in dieser Disziplin gewonnenen Erkenntnissen stammt die im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts formulierte Hauptkritik an den damaligen Erkenntnisgewinnungsmethoden der Wissenschaft. In Form von klar definierten Kriterien und deren Auswertung untersucht die Wissenschaft Erscheinungen, also Phänomene. Diese werden jedoch aufgrund von vorher festgelegten Kriterien oftmals reduziert (vgl. SCHEFFEL 2000, S.14). Hier setzt die Phänomenologie an und versucht in der Erkenntnisgewinnung nicht nur vorher bestimmte Kriterien auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, sondern ein Phänomen auch so anzunehmen, wie es sich darbietet (vgl. HUSSERL 1962).
Der Begriff der Lebenswelt wurde von HUSSERL (1962) geprägt, als ein fortwährend vorhandenes Universalfeld, auf welches sich jegliche Praxis gründet (vgl. HUSSERL 1976 In: SCHEFFEL 2000, S.17). Er beklagt, dass die in der damaligen Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse als objektiv dargestellt wurden, ohne aber der Rolle des Beobachters eines Untersuchungsobjektes gerecht zu werden. Den Beobachter von dem wissenschaftlich Erkannten loszulösen, war nicht mit seiner Überzeugung vereinbar, da jegliche Wahrnehmung eines Menschen durch einen persönlichen Erfahrungshorizont beeinflusst wird und somit immer subjektiv ist. Demnach unterscheidet sich der Beobachter, welcher in einer individuellen Umwelt sozialisiert wurde, von anderen Beobachtern, welche, wenn eventuell auch nur kleine, Abweichungen von der Umwelt des ersten Beobachters haben.
Dieses Problem der nach Objektivität strebenden Wissenschaft, versucht HUSSERL (1962) durch die Einführung der phänomenologischen Reduktion zu lösen. Obwohl er die Subjektivität jeder Beobachtung in den Vordergrund seiner Wissenschaftskritik stellt, nimmt er an, dieses Problem durch die Einführung der phänomenologischen Reduktion lösen zu können. Diese besagt, dass die subjektiven Anteile einer Wahrnehmung soweit dezimiert werden können, bis eine transzendentale Intersubjektivität entsteht, welche einen möglichst großen Anteil des intersubjektiv gültigen Wesensgehalts eines Phänomens enthält (vlg. HUSSERL 1962, S.159). Er ist sich demzufolge nach wie vor der Subjektivität jeder Beobachtung bewusst, nimmt jedoch an, sie durch Ausschließung sämtlicher sozialisierter, subjektiver Anteile so lenken zu können, dass ein intersubjektiv gültiger Wesensgehalt der Phänomene überbleibt (vgl. KRAUS 2004, S.2).
Die oben erwähnte Vielschichtigkeit bei HUSSERL (1962) zeigt sich in der Doppeldeutigkeit seines Lebensweltbegriffes. Zum einen sieht er in der Lebenswelt eine anschauliche und konkrete Umwelt, zum anderen, „das Universum des Selbstverständlichen, als anthropologisches Fundament jeder Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt“ (HUSSERL 1976, S.83).
HUSSERLs (1962) Idee der möglichst objektiven zwischenmenschlichen Verständigung greifen SCHÜTZ/LUCKMANN (1991) auf. Hier war es vor allem SCHÜTZ (1957), der sich von dem Gedanken HUSSERLs (1962) löste, einen intersubjektiv gültigen Wesengehalt der Phänomene durch Ausklammern sozialisierter Anteile der Wahrnehmung zu erhalten. Seiner Meinung nach erfahren die Menschen ihre Welt im Handeln und gelangen so über eine „Wirwelt“ zu ihrer „Lebenswelt“ (vgl. HUSSERL 1976 In: KRAUS 2004, S.2). Da diese durch Handeln erfahrene Lebenswelt auf den bis dahin durch Sozialisation überlieferten individuellen Erfahrungen aufbaut, sind SCHÜTZs (1991) Meinung nach alle Lebenswelten verschieden. Von der Annahme ausgehend, dass eine jede Lebenswelt sich von jeder anderen unterscheidet, macht die Suche nach dem intersubjektiv gültigen Wesensgehalt der Phänomene schwierig. Erst durch hinzunehmen einer weiteren Ebene, die der Typik, welche von den von WEBER erstellten Idealtypen abstammt, konnte dieses Problem, wie im Folgenden dargestellt, gelöst werden (vgl. WEBER In: GRATHOFF 1989, S.51). SCHÜTZ/LUCKMANN (1991) bedienen sich dieser sprachlich vermittelten und für alle geltende Logik, da die „Grundstrukturen…[der] Wirklichkeit [den Menschen] gemeinsam [ist]“ (SCHÜTZ/LUCKMANN 1991, S.25). Auf dieser, allen Menschen gemeinsamen Ebene kann eine intersubjektive Verständigung stattfinden.
Des Weiteren möchte SCHÜTZ (1991) eine systematische Beschreibung der Alltagswelt als soziale Wirklichkeit vorantreiben. Hierfür legt er die Grundstrukturen menschlicher Wirklichkeit dar, um das menschliche Denken und Handeln zu erklären (vgl. SCHÜTZ In: SCHEFFEL 2000, S.27). Diese Wirklichkeit wird von SCHÜTZ/LUCKMANN (1991) als ‚alltägliche Lebenswelt’ bezeichnet. Also das, was „der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet“ (SCHÜTZ/ LUCKMANN 1991, S.25). Sie gehen jedoch davon aus, dass jeder Mensch immer nur einen bestimmten Ausschnitt seiner ihn umgebenden Welt wahrnimmt. Andere Ausschnitte lägen demnach neben diesen wahrgenommenen Ausschnitten und sind potentiell wahrnehmbar (vgl. SCHEFFEL 2000, S.27). Der Mensch handelt nach der in dem wahrgenommenen Bereich vorgefundenen Umwelt, steht aber gleichzeitig in einem oszillierenden Verhältnis zu dieser. So hat zum einen die Umwelt Einfluss auf das Handeln des Menschen, der Mensch mit seinem Handeln beeinflusst jedoch auch die ihn umgebende Umwelt. Nach SCHÜTZ/LUCKMANN (1991) ist die ‚alltägliche Lebenswelt’ allen Menschen gemein. Um der Wissenschaft konkreteres Wissen über Lebensumstände zu bieten, löste sich SCHÜTZ (1991) von der spekulativen Sichtweise der Lebenswelt HUSSERLs (1962) und ersetzte sie durch gesellschaftsanalytische Verfahren, welche „in der verstehenden Aufarbeitung menschlicher Erfahrungen die Konkretheit gesellschaftlicher Konstitutionen erfassen sollte“ (SCHÜTZ In: BAACKE 1995, S.82). Diese ließe sich am besten durch Feldforschung anhand von Beobachtungen, durch Zuhören, beim Erzählen und durch Aufarbeitung von lebensweltlichen Dokumenten erfassen. Wird demnach im Laufe dieser Arbeit von einer Lebenswelt gesprochen, so muss nach letzterem phänomenologischem Lebensweltbegriff immer auch die Subjektivität dieser Lebenswelt beachtet werden. Scheinbar gleiche Weltausschnitte können unterschiedlich ausgesucht oder auch unterschiedlich bewertet worden sein.
2.2.2 Lebenswelt von Kindern
Diese Arbeit befasst sich mit dem Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen in den Lebenswelten von Kindern und möchte die seit 1970 geführten Diskussionen über diese Thematik darstellen. Nach der Zuordnung des Lebensweltbegriffes, mit seinen Wurzeln in der Phänomenologie, soll dieser Abschnitt den in der vorliegenden Arbeit gebrauchten Lebensweltbegriff erörtern.
Innerhalb einer Gesellschaft verändert sich die Sichtweise auf Kinder und Kultur stetig. Auch können Kinder oder ihre Lebenswelten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen und betrachtet werden. Da die Literatur fast ausschließlich von Erwachsenen verfasst wird, kann die Perspektive auf die Lebenswelten von Kindern, welche laut oben angesprochener phänomenologischer Herkunft das Ergebnis subjektiver Wahrnehmung und Verarbeitung ist, nur eine Beschreibung der Lebenslage, also materieller und immaterieller Lebensbedingungen, oder aber Hypothesen über diese Lebenswelten sein und diese, wenn sie von ‚den Kindern’ spricht, nur generalisiert darstellen. Die Problematik ist gut zu erkennen, wenn man in Betracht zieht, dass von einzelnen kindlichen Lebenswelten oftmals eine generalisierende Diskussion ausgeht, der die ‚Kindheit’ thematisiert (vgl. SEIBERT 1999, S.13).
Unter Punkt 2.1 wurde auf die Entwicklung der Lebensbedingungen von Kindern eingegangen und darauf hingewiesen, dass sich diese in den letzten Jahrhunderten grundlegend verändert haben. Die Lebenswelt der Kinder in der BRD der letzten 35 Jahre weist auch einige signifikante Veränderungen auf (vgl. Punkte 4-8). Um diese Veränderungen oder, allgemeiner gesprochen, die Lebenswelten von Kindern in der BRD aufzuzeigen oder nachkonstruieren zu können, bedarf es bestimmter Aufteilungen des kindlichen Handelns.
Unter Punkt 2.2.1 wurde HUSSERLs (1962) Kritik an der Erkenntnisgewinnung der damaligen Wissenschaft angesprochen, welche die Losgelöstheit der Wissenschaftler von ihren subjektiven Wahrnehmungen anprangert. In dieser Arbeit werden Kinder und ihre Lebenswelten zum Subjekt der Forschung und so ist bei den beschriebenen Lebenswelten zu beachten, dass die Konstruktion einer Lebenswelt immer ein individueller und subjektiver Prozess ist, welcher von außen nur erahnt werden kann. Objektiv können demnach nur die äußerlichen Rahmen- oder Lebensbedingungen benannt werden. Um den Blick wieder Richtung Lebenswelt von Kindern zu lenken, stellen WILK/WINTERSBERGER klar, dass
„die aktuellen Probleme des Kindes, seine Bedürfnisse, Wünsche und Interessen, sein aktuelles Wohlbefinden und seine Möglichkeiten als realitätsverarbeitendes Subjekt entsprechend seinen Bedürfnissen zu handeln und diese Realität zu verändern“ (WILK/WINTERSBERGER 1996, S.31),
im Mittelpunkt der Kindheitsforschung stehen. Diese Arbeit folgt dieser Sichtweise und bedient sich außerdem der sozialökologischen Betrachtungsweise.
2.2.3 Sozialökologische Betrachtungsweise
Diese setzt sich nach BAACKE (1992) als Ziel, eine vom Subjekt ausgehende Betrachtungsweise zu erstellen, welche menschliche Bewegung als für jeden Menschen real in dem jeweiligen Zuschnitt seiner Lebenswelt konstituierend ansieht. Dieser Konstitutionsprozess müsse deshalb im unmittelbaren Lebenszusammenhang untersucht werden. Kinder in ihrer Lebenswelt zu erforschen beinhaltet nach diesem Ansatz die Gesamtheit von Erfahrungen und Handlungen, welche Kindern vermittelt oder unvermittelt zur Verfügung stehen, in den kindlichen Mustern sozialen Lebens zu betrachten (vgl. BAACKE 1992, S.69). DIETRICH/LANDAU (1990) haben diese sozialökologische Betrachtungsweise in die Sportpädagogik übertragen (vgl. BREUER 2002, S.18). Sie heben den Stellenwert des durch Bewegung vollzogenen Auseinandersetzungsprozesses mit der das Subjekt umgebenden Umwelt und den damit einhergehenden Aneignungsprozessen hervor. BAACKE (1995, S.87ff) unterteilt diese zu erarbeitenden Handlungsräume in vier Zonen. Die genannten Zonen werden im Laufe des Lebens nacheinander durchlaufen.
Die erste Zone beschreibt das ökologische Zentrum, das alltägliche und unmittelbare Umfeld, welches meist der Ort der Familie ist und von ihr geprägt wird. Vorherrschend sind hier emotionale Bindungen und starke Abhängigkeit der Heranwachsenden von den Älteren. Es ist dementsprechend der Ort, an dem sich die wichtigsten Bezugspersonen vorwiegend aufhalten.
Die zweite Zone beschreibt die Umgebung der ersten Zone und wird als ökologischer Nahraum bezeichnet. Hier nimmt das Kind - durch die entwicklungsbedingte Bewegungserweiterung - erste Außenbeziehungen auf. Diese finden in der Nachbarschaft, dem Stadtteil, dem Viertel oder der Wohngegend statt. Darauf, wie sehr dieser Schritt der Eroberung neuer Räume von räumlichen Strukturen abhängig ist (z.B. Hochhausbebauung), verweisen DIETRICH/LANDAU (1990).
Die dritte Zone bezeichnet ökologische Ausschnitte, welche durch funktionsbestimmte Aufgaben gekennzeichnet sind. Diesen zweckbestimmten Räumen, wie Kindergarten, Schule oder Sporthalle sind bestimmte Arten und Weisen der Nutzung vorgegeben.
Die vierte Zone beschreibt die ökologische Peripherie, eine Zone unroutinierter Kontakte, wie sie z.B. in den Ferien in ungewohnter Umgebung stattfinden können.
Den engen Zusammenhang zwischen Raum und Bewegung verdeutlicht DIETRICH (1996). Dieser sieht Bewegung ohne Raum als nicht möglich an; umgekehrt umgreift und gliedert Bewegung den Raum. Der Raum wiederum „setzt […] das Phänomen der Bewegung bereits voraus. Raum kann nur wahrgenommen und erfahren werden, wenn man sich selbst bewegt oder etwas in Bewegung gesetzt wird“ (DIETRICH 1996, S.17). Beide Räume konstituieren sich somit gegenseitig. Bewegung umgreift den Raum. Der Raum ermöglicht jedoch erst die Bewegung (vgl. DIETRICH 1996, S.17). Der in 2.2.1 bereits beschriebene oszillierende Charakter der Mensch-Umwelt-Beziehung greift BUYTENDIJK (1956) mit auf, wenn er sagt: „[D]ie Eigenschaften des vitalen Raumes regulieren unsere Bewegungen und Empfindungen, welche wiederum die Struktur des Raumes definieren“ (BUYTENDIJK 1956, S.50 In: DIETRICH 1996, S.17). Einmal angeeignete Räume gewinnen demnach eine besondere Struktur, welche sich auf die Bewegung auswirkt. Gleichzeit wird die mit Bewegung erfahrene Umwelt in ihrem Sinn erfasst. (vgl. BAUR 1987, S.8) Die verändernde Wirkung auf den Raum seitens der Kinder wird jedoch gleichzeitig von BRÜNDEL/HURRELMANN (1996) relativiert. Ihrer Meinung nach nehmen Kinder zwar kreativen Einfluss auf ihre Umwelt, dies geschieht jedoch, entwicklungsbedingt, nur begrenzt, da die eigenen Bewältigungskompetenzen nicht ausreichten und sie auf familiäre Netzwerkressourcen angewiesen seien, um ihre Ziel zu verwirklichen (BRÜNDEL/ HURRELMANN 1996, S.11).
Diese Erschließung der Lebensräume kann anhand der vier ökologischen Zonen folgendermaßen kurz umrissen werden. Über den geschützten Raum der Mutter, welcher dem ökologischen Zentrum zuzuordnen ist, erfährt das Kind seinen unmittelbaren Nahraum. Mit allmählichem Eindringen in den ökologischen Nahraum lernt das Kind die Bedeutung von Dingen und Räumen zu unterscheiden und zu beachten. Die damit verbundenen erweiterten Bewegungsmöglichkeiten werden wiederum genutzt, um sich ökologische Ausschnitte selbständig anzueignen (vgl. DIETRICH 1996, S.19). Umschrieben werden diese verschiedenen Zonen mit dem Lebensweltbegriff.
Die vorliegende Arbeit teilt die Lebenswelten oder Lebenslagen von Kindern in thematische Strukturen ein, um den immer schneller werdenden Modernisierungsprozess und die Ausdifferenzierung von Lebensmustern möglichst anschaulich darstellen zu können. Der Weg der Beschreibung eines bestimmten Ortes kindlichen Erlebens erscheint uns hierfür am geeignetsten. Diese bestimmten Orte setzen sich aus dem Determinantensystem
- Verhältnisbeziehungen, wie der Familie, zusammen, aber auch aus
- Wohnumwelt,
- institutionellen Orten, wie Schule, Kindergarten und Verein,
- Handlungsweisen in bestimmen Situationen, wie etwa der Umgang mit Medien oder der ihnen zu Verfügung stehenden
- Zeit und dessen Nutzung.
Die kindliche Lebenswelt ist ebenfalls untrennbar von der Bewegungswelt, welche in Anlehnung an BRETTSCHNEIDER/BAUR/BRÄUTIGAM diese als Bewegungs- Spiel- und Sportaktivitäten von Kinder und Jugendlichen im Kontext ihrer Lebensverhältnisse sehen (vgl. BRETTSCHNEIDER/ BAUR/BRÄUTIGAM 1989, S.13).
3 Zur Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung (Thilo Heidelmayer)
Betrachtet man die Diskussionen über heutige Kindheit auf politischer oder auf gesellschaftlicher Eben, lässt sich oftmals ein Tenor über Defizite der Motorik oder allgemeiner über Bewegungsarmut der heutigen Kinder feststellen. Dieser Aufschrei lässt auf die Meinung schließen, dass Kinder Bewegung brauchen. Diese Stimmen implizieren zum Teil ebenfalls, dass es zu negativen Folgeerscheinungen komme, fehlen diese Bewegungsreize. Diesen aus der Presse („Nicht ein Big Mac macht dick, sondern zu viel Stillsitzen“ Renate Künast am 23.April 2005, Die Welt) herausgehörten Stimmungsbildern soll hier anhand wissenschaftlicher Veröffentlichungen nachgegangen werden, wobei gezielt auf den Bezug der Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung eingegangen wird. Dieses Kapitel möchte die in der einschlägigen Literatur zu findende, aktuelle wissenschaftliche Meinung der Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen darlegen, um die später aufgezeigte Diskussion über den Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen in Lebenswelten von Kindern besser beurteilen zu können. Das Kapitel dient auch dem Zweck des Versuchs einer Erklärung des Aufkommens der schon seit längerem innerhalb Deutschlands geführten Diskussion bezüglich einer veränderten Lebenswelt und den sich daraus ergebenden Folgen auf die Körper- und Bewegungserfahrungen für Kinder. So würde die in den letzten Jahrzehnten entstandene Flut der diese Thematik betreffenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen in diesem Ausmaße wohl nicht stattgefunden haben, gäbe es keine herausragende Notwendigkeit von Körper- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung. Die in diesem Kapitel dargelegte Notwendigkeit unterstreicht somit gleichermaßen die Wichtigkeit der in Deutschland geführten wissenschaftlichen Diskussion.
Das Aufgreifen dieser Thematik durch Medien in der ihr inne liegenden Art und Weise kann unter anderem wiederum mit der medialen Logik erklärt werden, welche sich aus einer Mischung aus Simplifizierung und Drang zur Dramatisierung zusammensetzt (vgl. THIELE 1999, S.144). Viel versprechender erscheint uns deshalb die ausschließliche Betrachtung der wissenschaftlichen Diskussion, welche sich jedoch nicht gänzlich von Vereinfachungen freisprechen kann.
Dieses Kapitel möchte in den jeweils einen Aspekt der kindlichen Entwicklung beschreibenden Unterpunkten auch bisher zu diesen Thematiken durchgeführte Studien betrachteten und überprüfen, ob die beschriebenen Aussagen belegt oder widerlegt werden können. Ein weiteres Ergebnis kann die Erkenntnis sein, dass bestimmte Zusammenhänge nur schwerlich anhand vorhandener wissenschaftlicher Studien belegt werden können.
Die Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen eines Menschen verändert sich im Laufe seines Lebens. Bewegt sich ein gefestigter Mann mittleren Alters vielleicht nur noch der Fitness wegen, so hat ein Kind meistens eine ganz andere, nämlich intrinsische, Motivation. Mit Sicherheit aber ist die Bedeutung für den aktuellen Entwicklungsstand eine grundlegendere. Es wird eine Lebensspanne von Kleinkindalter bis etwa zum 11. Lebensjahr, also die Kindheit, beschrieben, so wie diese Lebensphase in Punkt 2.1.1 definiert und durch biologische als auch sozio-kulturelle Faktoren eingegrenzt wurde.
Betrachtet man Kinder, so lässt sich sehr schnell ein Bewegungsdrang erkennen, welcher ein natürliches Bedürfnis des Kindes zu sein scheint. (vgl. ZIMMER 2004, S.20) Die Bedürfnisbefriedigung durch Bewegung stellt für das Kind jedoch nicht nur eine „Gegenwartserfüllung [dar], sondern erfüllt zugleich wichtige zukunftsweisende Funktionen“ (HUNGER In: PFEIFFER 1995, S.87). Sinn und Zweck des Erfahrens und Erlernens möglichst differenzierter Bewegungsabläufe im Kleinkindalter ist demnach bei weitem nicht nur der „Transport“ des Körpers von Punkt A nach Punkt B. Eine körperliche Bewegung ist vor allem „…ein grundlegendes Mittel zum gefühlsmäßigen Erleben, zur Verständigung, Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft und Erkenntnisgewinnung“ (Sportjugend NRW 1996, S.4).
Darüber hinaus lernen Kinder über Bewegung eine Bandbreite von Fähigkeiten. Angefangen bei den körperlich-motorischen Fähigkeiten setzen sich Kinder über Bewegung mit ihrer Umwelt auseinander, zum einen mit der materiellen, aber auch mit der sozialen. Weiterhin eignen sie sich deren Regeln und Gesetzmäßigkeiten an und lernen, die eigene Person einzuschätzen und kennen zu lernen.
Um diese Vielschichtigkeit der Bedeutsamkeit von Körper- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung darzustellen, werden die oben genannten Einteilungspunkte einzelnen Abschnitten zugeordnet. Jeder der in den folgenden Unterpunkten beschriebenen Aspekte von Bewegungserfahrungen ist im Zusammenhang mit den ebenfalls angesprochenen Unterpunkten zu sehen, da sie untrennbar miteinander verbunden sind. Die Trennung der einzelnen Bereiche hat demnach pragmatische und analytische Gründe.
Die Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung durch Bewegung wurde insbesondere durch Forschungsarbeiten von SCHILLING (1975), KIPHARD (1997), SCHERLER (1975), DIEM et al (1980) und Zimmer (1981) deutlich.
3.1 Identität und Selbstkonzept
Der erste Unterpunkt behandelt die über Körper- und Bewegungserfahrungen vermittelten Anteile, welche die Entwicklung des Selbst eines Kindes beeinflussen. Durch körperliches Handeln erhält ein Kind stetig Rückmeldung über seinen derzeitigen Könnensstand bzw. seine derzeitigen Grenzen. Auf diese Weise erhalten sie von ihrer Umwelt ein Bild von ihrem Können bzw. Nicht-Können (vgl. Zimmer 2004, S.27). Im Zuge dieser Erfahrungen setzen bei einem Kleinkind die ersten Selbständigkeitsbestrebungen ein. Diese werden besonders über körperliche Aktivitäten, wie z.B. selbständiges Erklimmen eines Gerüsts, deutlich und bilden zusammen mit Körper- und Bewegungserfahrungen einen ‚Fundus’, aus dem es im Laufe der Zeit ein Bild von sich selbst kreiert. Der Aufbau eines eigenen Bildes seiner selbst wird demnach hauptsächlich durch Körper- und Bewegungserfahrungen und deren Interpretation geformt. Im Folgenden wird die Rolle der Informationsgewinnung über den Körper für die Entwicklung des Selbstkonzeptes genauer betrachtet.
3.1.1 Die Rolle der Körper- und Bewegungserfahrungen für die Selbsterfahrung
Die erste Wahrnehmung - die Selbstwahrnehmung, also die Erkenntnis über die eigene Existenz - erhält ein Kind über seine sensorischen Systeme. Diese Wahrnehmungen, welche ein Kind in seinen ersten Lebenswochen sammelt, lässt es ein grundlegendes ‚Körper-Selbst’ von sich erkennen, wobei ihm klar wird, dass es abgegrenzt von seiner Umwelt zusammen mit Eigenschaften seines Körpers, der Stimme, der Lage im Raum und seinem Körper eine eigenständige Person ist. NEUBAUER hält fest, dass
„die ersten entscheidenden Eindrücke zur Differenzierung zwischen dem eigenen Körper als Gegenstand und den übrigen Gegenständen […] schon sehr früh [einsetzen]. Von besonderer Bedeutung ist dabei die beginnende Unterscheidung zwischen dem eigenen Körper und den übrigen Gegenständen, die Körperempfindungen hervorrufen (z.B. Schmerz, Kälte, Wärme)“ (vgl. NEUBAUER 1976, S.72).
Während dieses Prozesses der Wahrnehmung des Selbst und der das Kind umgebenden Umwelt bildet der Körper das Bindeglied zwischen diesem Selbst und der Umwelt und wird genauso wie die Umwelt Gegenstand der ‚Erforschung’.
3.1.2 Rückschlüsse von Selbsterfahrungen auf die eigene Person
Die vor allem mit dem Körper in dieser frühen Entwicklungsphase gesammelten Erfahrungen lassen dem Kind direkte Rückschlüsse auf die eigene Person zu. So erkennt es früh einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang und führt durch diese ausgeführten Umweltveränderungen, wie z.B. mit Bauklötzen einen Turm zu bauen, auf sein eigenes Können zurück. Diese Erfahrungen bilden die ersten Grundlangen für den Aufbau von Selbstvertrauen, da das wahrgenommene eigene Handeln Veränderungen in der Umwelt bewirkt und so ein Gefühl von Kontrolle entsteht. Das Gefühl, über den eigenen Körper verfügen zu können und mit ihm selbst gesteckte Bewegungsziele umzusetzen, stellt die Grundlage für die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper dar und ist die Basis für ein gesundes Selbstkonzept (vgl. VOLKAMER/ZIMMER 1986, S.49). Ein identisches Verhalten kann jedoch von Individuum zu Individuum unterschiedlich gedeutet und bewertet werden. Ebenso wie identische Lebenslagen zu einer unterschiedlichen Lebenswelt wahrgenommen und interpretiert werden, spielt die Bewertung des eigenen Handelns eine entscheidende Rolle.
Zu der Selbstwahrnehmung- und einschätzung gesellen sich noch zwei weitere Komponenten. Vor allem im Vor- und Grundschulalter stellen der Vergleich und die Rückmeldungen anderer, egal ob von oder durch Gleichaltrige oder Erwachsenen einen weiteren Fundus zur Selbsteinschätzung dar, welcher interpretiert werden muss (vgl. Zimmer 2004, S.29). Diese Arten der Rückmeldung über die eigene Person spielen sich oftmals in Bewegungsspielen ab. Wird das Kind in einem solchen Bewegungsspiel über einen längeren Zeitraum und wiederholt wegen Ungeschicklichkeiten von den Mitspielern negativ bewertet – z.B. in Form eines Ausschlusses vom Spiel – so nimmt es mit der Zeit die negative Einschätzung der anderen an. Eine hohe Bewertung durch andere wird jedoch genauso angenommen und sich zueigen gemacht (vgl. HUNGER In: PFEIFFER 1995, S.93). Die Kindheitsphase ist demnach eine Phase, in der Geschicklichkeit, körperliche Leistungen und motorische Fähigkeiten unter den Kindern eine sehr große Rolle spielen, Rangpositionen durch sie vergeben werden und direkt, durch eigene Bewertung der Leistungsfähigkeit und indirekt über die Bewertung anderer das Selbstwertgefühl über die körperlich-motorischen Fähigkeiten gebildet wird (vgl. Zimmer 2004, S.31). Die beiden Komponenten dieses Prozesses der Entwicklung des Selbstkonzepts, stehen in einem oszillierenden Charakter zueinander und verstärken sich gegenseitig. Stetige negative Bewertungen oder Rückmeldungen, seien sie verbal oder nonverbal, wirken sich negativ auf das zukünftige Bewegungsverhalten aus, da negativen Rückmeldungen durch Meiden einer neuen Bewegungssituation ausgewichen wird und der damit verursachte Bewegungsmangel sich wiederum negativ auf die erlebte Bewegungsunsicherheit auswirkt (vgl. Zimmer 1981, S.43).
3.1.3 Die Rolle des Selbstkonzeptes für das Kind
Unter Punkt 3.1 wurde geklärt, dass Kinder im Laufe ihrer frühen Entwicklung hauptsächlich durch Körper- und Bewegungserfahrungen und, wie in Punkt 3.1.2 erläutert, deren Interpretation durch Mitmenschen oder sich selbst einen Fundus erlangen, aus dem sie im Laufe der Zeit ein Bild von sich selbst kreieren.
Ausdrücklich wird in der Literatur auf den lebenslangen Prozess der Entwicklung oder Ausarbeitung des Selbstkonzeptes hingewiesen. ZIMMER (2004) proklamiert hier die frühe Kindheit als besonders prägend. DREHER/OERTER (2002) sehen dagegen das Jugendalter als besonders formend an. Einig sind sich die Autoren indessen über die große Auswirkung der eigenen Einschätzung des Selbstkonzeptes über körperliche Aktivitäten hinaus. Das Selbstkonzept strukturiert die Wahrnehmung eines Menschen und nimmt somit erheblichen Einfluss auf das Verhalten eines Menschen. Bisher wurde diese Entwicklung ausschließlich im Zusammenhang mit dem jeweiligen Bewegungsverhalten betrachtet.
Das mittels Körper- und Bewegungserfahrungen konzipierte Selbstkonzept überträgt die über den Körper gesammelten Einschätzungen auch auf alltägliche, nicht zwingend bewegungsbeinhaltende Situationen. So beschreibt Zimmer (2004, S.32 ff.), dass ein Mensch mit einem negativen Selbstkonzept ihm unbekannte Situationen oder neue Anforderungen als bedrohlich oder beängstigend empfindet und eine etwaige positive Lösung einer Problemsituation dem Glück zuweist. Ein Mensch mit einem positiven Selbstkonzept dagegen schätzt eine ähnliche Situation von vorneherein als weniger bedrohlich ein und schreibt eine positive Lösung dieser Problemsituation der eigenen Kompetenz zu.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass positiv erlebte Bewegungserfahrungen dazu beitragen, ein realistisches, aber leistungszuversichtliches Selbstkonzept aufzubauen und unabhängig von der objektiven Leistungsfähigkeit über positive Rückmeldungen und/oder eigenen Interpretationen der eigenen körperlichen Leistungen die Voraussetzungen für ein gesundes Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein geschaffen werden können.
3.1.4 Empirische Befunde
Wie im vorliegenden Kapitel deutlich wurde und in den folgenden noch weiter ausgeführt wird, beeinflussen individuelle Entwicklungsprozesse immer den ganzen Menschen. So haben in einer Bewegungssituation gemachte Erfahrungen u.a. Einfluss auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes.
Diese Arbeit möchte auch auf Studien eingehen, welche die Aussagen der verschiedenen Autoren belegen oder aber Argumente liefern, die gemachten Aussagen kritisch zu hinterfragen. Ob die vorangegangenen Darlegungen der oben zitierten Autoren – körperliche Aktivitäten beeinflussen vor dem Hintergrund von Bewegungs- und Wahrnehmungstätigkeit die Entwicklung des Selbstkonzepts positiv – auch empirisch überprüft wurden, beschreibt dieser Abschnitt des Kapitels.
Zu dieser Thematik wurden insgesamt nur wenige Untersuchungen und Studien durchgeführt. Eine Längsschnittstudie zum Einfluss früher Bewegungsförderung auf die Gesamtentwicklung von Kindern im Alter von 4-6 Jahren wurde von DIEM et al (1980) an etwa 200 Kindern durchgeführt. Diese wurden durch Schwimmen motorisch stimuliert. Festgestellt wurde im Vergleich mit einer Kontrollgruppe eine grundsätzliche Begünstigung der Entwicklung im Bereich des Sozialen und der Persönlichkeit. Im Bereich der Leistungen und Fähigkeiten ließen sich anhand dieser Studie keine nennenswerten Unterschiede feststellen. HEIM et al (2003) stellt in Bezug auf die Studie jedoch fest, dass
„die Geltungsweite dieser Befunde deutlich eingeschränkt [ist], weil zwar eine Vielzahl von Variablen erhoben wurde, die statistische Auswertung jedoch nur mittels deskriptiver und einfacher Prüfungsstatistik erfolgte“(vgl. HEIM et al 2003, S.138).
Vielversprechender erscheinen empirischen Befunde aus der sportwissenschaftlichen internationalen Forschung, welche die Effekte auf die Entwicklung von Selbstsicherheit und Selbstvertrauen bei Kindern untersucht haben und wie sie im Ersten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht beschrieben werden (BRETTSCHNEIDER et al 2003). Eine von GRUBER (1986) durchführte Meta-Analyse stellte eine förderliche Wirkung von Bewegung, Spiel und Sport auf das Selbstvertrauen im Grundschulalter fest, wobei sich die positiven Effekte in Bezug auf Größenordnung als auch in den Inhalten und Zielsetzungen sowie den Vermittlungsmethodiken von geplanten Bewegungsprogrammen unterschieden. Einen zwar kleinen, jedoch ebenfalls positiven Einfluss körperlicher Aktivität auf das Selbstvertrauen und somit auf das Selbstkonzept zeigte die an ca. 7.000 kanadischen Kindern durchgeführte Studie TREMBLAYs et al (2000). Diese Erkenntnisse können durch die von ZIMMER (1981) durchgeführte Längsschnittstudie nicht erhärtet werden. Ihre relativ kurzfristigen Untersuchungen haben nicht eindeutig den Zusammenhang zwischen motorischer Förderung und verbessertem Selbstkonzept bewiesen (vgl. HEIM 2003, S.139). Studien mit einer ähnlichen Zielsetzung, jedoch auf Jugendliche zugeschnitten, ergaben sehr wohl einen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und dem Selbstkonzept. So ist hier die Studie von BRETTSCHNEIDER (2002) zu nennen, welche SchülerInnen von 12-18 Jahren, einem Altersbereich, welcher hier nicht näher betrachtet werden soll, aus Gymnasien und Hauptschulen in NRW untersuchte. Diese Studie zeigte, dass in diesem Altersbereich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Bewegungsaktivität und positivem Selbstkonzept besteht.
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