Ein ganzes Jahrhundert wird unter dem Etikett der literarischen Aufklärung zusammengefasst; oft werden die großen Namen der Zeit in einem Atemzug genannt: Aber wieviel haben Gottsched, Gellert, Lessing, Schiller, Goethe, Lenz u.v.a.m. tatsächlich gemein?
Aufklärung. Spaziergang durch eine literarische Epoche von Mathis L. Koch
Ein ganzes Jahrhundert wird unter dem Etikett „Aufklärung“ zusammengefasst. Was in der Kürze von Lexikonartikeln und Schulbuchkapiteln aber verloren geht, ist, was für ein langer Zeitraum 100 Jahre eigentlich sind! Sollte man nicht annehmen, dass ein Fabeldichter, der am Anfang eines solchen Jahrhunderts lebt, von ganz anderen Erfahrungen geprägt und bewegt wird als einer, der schon zurückblicken kann auf so umwälzende historische Ereignisse wie z.B. die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 oder die Französische Revolution von 1789?
Da brauche ich mir nur vorzustellen, mit was für anderen Augen ich als ein Jugendlicher im Jahr 1917 das Leben um mich herum betrachtet haben würde
Kunst und Literatur einer Zeit lassen sich bestimmt immer nachträglich irgendwie als Trends beschreiben, aber das eigentlich Faszinierende bleibt doch der Augenblick, in dem ein Mensch etwas erschafft. Was hat ihn bewegt? Mit wem hat er sich ausgetauscht? Wer und was hat ihn inspiriert und wen oder was konnte er noch gar nicht kennen?
Der wichtigste Text, den wir heute mit Aufklärung verbinden, Kants „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen…“ usw. kam erst 1784 an die Öffentlichkeit.[1] Da war die Epoche schon fast vorbei. Weder Gottsched, Gellert, Lessing, Schiller oder Goethe, die großen Namen der Zeit, hatten diesen Satz von Kant im Hinterkopf, während sie dichteten.
Überhaupt dichteten sie ganz unterschiedlich, und das ist kein Wunder. Als der 1749 geborene Goethe erstmals zur Feder griff, hatte der knapp 50 Jahre ältere Gottsched schon fast damit aufgehört, etwas öffentlich aufzuschreiben. Gemeinsam haben sie aber, dass sie sich mit den für die Aufklärung typischen literarischen Gattungen befassen: den Fabeln und der Theaterkunst.
Ich möchte einen Spaziergang durch die Zeit der Aufklärung unternehmen und die Literaten mit den großen Namen besuchen, um ihnen beim Schreiben über die Schulter zu schauen. Da liegt es nahe, in das Jahr 1700 zu springen, das immer als ungefährer Epochenbeginn genannt wird. Johann Christoph Gottsched wird in diesem Jahr geboren. Er gilt als Vordenker der literarischen Aufklärung. Es ist aber kaum anzunehmen, dass er schon als Baby Abhandlungen oder Gedichte verfasst hat. Deshalb marschieren wir am besten gleich weiter auf dem Zeitstrahl und treffen ihn erneut im Jahr 1730, in dem er seinen „Versuch einer kritischen Dichtkunst“[2] veröffentlicht. Gottsched ist jetzt Professor in Leipzig für Poesie und Weltweisheit, er setzt sich für die Verbreitung politisch-philosophischer Ideen der Aufklärung ein und sucht nach Möglichkeiten, das auch durch Dichtung zu tun. Allerdings entspricht er gar nicht der Vorstellung, die wir heute von einem Kreativen haben. Seine „Dichtkunst“ liest sich wie ein technisches Handbuch. Denn er zählt einfach die einzelnen Schritte auf, die seiner Ansicht nach nötig sind, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen: „einen moralischen Lehrsatz“ (Z. 1f.) will er in die Köpfe der Zuschauer transportieren. Erstens soll man sich eine Geschichte ausdenken, die die Lehre in Kurzform enthält und dann dieses klassische Muster zu einem „fünf Stücke“ (Z. 13) umfassenden Theaterstück ausbauen. Den Personen soll man dann einfach Namen historischer Berühmtheiten geben und, zack, ist das Theaterstück fertig. Ich bin nicht sehr fasziniert und schaue, ob ich jemanden treffe, der mich mehr fesselt.
Gotthold Ephraim Lessing wird oft in einem Atemzug genannt mit Gottsched, weil auch er sich Gedanken über Theaterkunst gemacht hat. Aber – hoppla – als Gottsched seine „Dichtkunst“ aufschrieb, war Lessing gerade geboren. Kann man die beiden dann wirklich unter einen Hut bringen? Lessing stellt sich das Theater ganz anders vor als Gottsched. Fast klingt es, als schreibe er einen Gegenentwurf zu dessen starren Regeln. Mit Mitte 20 startet Lessing einen öffentlichen Briefwechsel[3] mit seinem Freund, dem Verleger Friedrich Nicolai, dem er 1756 schreibt, dass es beim Dichten nicht einfach darum geht, ein Transportmittel für eine Lehre zu schaffen, sondern dass das Theater unbedingt Leidenschaft wecken müsse. Ohne Gefühl geht gar nichts! Seine Überzeugung ist: Es reicht nicht eine Lehre zu verstehen, sondern das Theater soll „unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern“ (S.55), nur dann lasse sich die Lehre in das echte Leben übertragen.
Aber es gibt auch nicht eine immer gleiche Lehre in diesem Jahrhundert der Aufklärung. Das sieht man, wenn man sich verschiedene Fassungen der Fabel „Der Tanzbär“ anschaut, die nicht nur Lessing, sondern auch andere Aufklärer bearbeitet haben.
Die Fassung von Christian Fürchtegott Gellert, der sehr bekannt war in seiner Zeit, entstand in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Lessings Fabel stammt aus der Mitte und von Gottlieb Konrad Pfeffel schrieb seine im letzten Viertel auf. Gleiche Verpackung, unterschiedliche Lehre:
Gellerts Tanzbär prahlt unter den einfachen Bären des Waldes mit seiner Tanzkunst, die er in der Gefangenschaft gelernt hat, und wird aus der Gemeinschaft vertrieben. Bei Gellert geht es also um einen persönlichen moralischen Fehler. Die Lehre ist: Hochmut kommt vor dem Fall![4]
Lessing packt Gesellschaftskritik hinein. Seine Lehre ist: Die Anbiederung an den Geschmack der Adligen passt nicht zur bürgerlichen Emanzipation. Denn sein Bär kopiert das erwartete Verhalten bei Hof und wird deshalb aus dem Wald vertrieben.[5]
Dagegen ist Gottlieb Konrad Pfeffels Lehre, dessen Fabel erst im Jahr der Französischen Revolution erscheint, richtig revolutionär: Sein Tanzbär tanzt am Schluss mit seinem früheren Herrn den Tanz des Todes, was als Warnung an alle Ausbeuter und Unterdrücker gedacht ist.[6]
Zurück zur Theaterkunst. Was ist eigentlich mit Goethe? Der kommt erst in der Mitte des Aufklärungs-Jahrhunderts zur Welt. Mit Anfang 20, im Jahr 1771, hält er eine leidenschaftliche Rede zum Shakespeare-Tag.[7] Heute würde man sagen: Shakespeare war sein Rockstar! Das ist Sturm und Drang pur. Nach den reinen Gefühlen des Individuums drängt es Goethe hier. Er ruft nach der „Natur!“ (Z. 45) des Menschen, die nur Shakespeare bisher richtig auf die Bühne gebracht habe. Diese Natur soll das Ideal der Theaterkunst sein, verlangt Goethe.
Sturm und Drang – das liest sich überhaupt wie der Rock ‚n‘ Roll des 18. Jahrhunderts. Jung gegen Alt. Gefühle zeigen gegen Kochbuch-Kunst nach Rezept. Im Zeitalter der Aufklärung wollen Aufklärer zwar den aufgeklärten Menschen, der das Richtige tut, aber offensichtlich ziehen alte und junge Aufklärer nicht am gleichen Strang. Die Jungen provozieren. Und vorne weg ist immer dieser Goethe. Immer noch in seinen Zwanzigern schreibt er einen Selbstmord-Roman, „Die Leiden des jungen Werthers“ (1. Fassung, 1774). Ganz viel Gefühl. Es geht um Liebeskummer und Weltschmerz, der tödlich endet. Die alten Herren der Dichtkunst sind damit gar nicht einverstanden und haben die Befürchtung, dass junge Menschen auf die schiefe Gefühls-Bahn kommen könnten.
Aber auch Goethe wird älter, nachdenklicher und findet sich im echten Leben ganz gut zurecht, ohne ständig Konflikte zu haben. Jedenfalls kann er sogar vom Dichten irgendwann leben, weil er sich auch gut mit dem Adel arrangiert.
Ganz anders ergeht es Reinhold Jakob Michael Lenz (geboren 1751). Auch Lenz ist Stürmer und Dränger. Er mag aber keine Kompromisse, darin ist er konsequenter als andere Dichter der Zeit. Denn er will nicht wie eine „vorzüglichkünstliche kleine Maschine“ (Z. 10) funktionieren, „die in die große Maschine, die wir Welt […] nennen, besser oder schlimmer hineinpasst“. Seine Theaterkritik, die er im Jahr 1777 unter der Überschrift „Handeln ist die Seele der Welt“[8] zum Ausdruck bringt, klingt, als ob er das Theater sofort abschaffen will, um es durch Handlung zu ersetzen. Nur wer selber handelt, egal ob richtig oder falsch, und nicht bloß zuschaut, erreiche „Seligkeit!“
(Z. 31) Mit so einer drastischen Haltung ist es für ihn schwer, im echten Leben Fuß zu fassen. Lenz hat kein eigenes Geld, keinen richtigen Beruf und ist immer darauf angewiesen, dass er irgendwo bei Freunden unterschlüpfen kann. Er taucht mal hier mal dort auf und hat auch Begegnungen mit Goethe, der ihn wohl zu überdreht fand. Irgendwann verschwindet Lenz von der Bildfläche und stirbt arm und elend mit Anfang 40 in Moskau.
Als Lenz so stürmisch fordert, dass man lieber handeln soll, zählt Lessing schon fast zum alten Eisen und produziert Werke, die zum selbständigen Denken anregen wollen: 1779 erscheint sein Theaterstück „Nathan der Weise“. Das ist Aufklärung der alten Schule. Gleichzeitig bekommen die Stürmer und Dränger neuen Zuwachs. Der junge Friedrich Schiller (Jahrgang 1759) tritt auf – mit seinem Theater-Debüt „Die Räuber“. Und er diskutiert auch sofort bei den Großen über Theaterkunst mit. In seinem „Schaubühne“-Text[9] von 1784 behauptet er: Theater wirkt „mächtiger […] als toter Buchstabe und kalte Erzählung“ (Z. 12). Recht hat er!
Goethe findet Schiller anfangs aber viel zu leidenschaftlich und überschätzt. Erst ganz am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt die dicke Dichterfreundschaft der beiden. Aber dafür hat die Literaturgeschichte schon einen neuen Stempel: Weimarer Klassik genannt. Der literarische Spaziergang würde uns ins nächste Jahrhundert führen – und das geht jetzt wirklich zu weit.
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[1] Immanuel Kant (1784): Was ist Aufklärung? Aus: P.A.U.L. D. Oberstufe (Schöningh 2013), S. 161f.
[2] Johann Christoph Gottsched (1730): Versuch einer kritischen Dichtkunst vor die Deutschen. Aus: P.A.U.L. D. Oberstufe (Schöningh 2013), S. 100.
[3] Gotthold Ephraim Lessing (1756): Brief an Friedrich Nicolai (13.11.1756). Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel [1756/57], hg. v. Jochen Schulte-Sasse (Winkler 1972.
[4] Christian Fürchtegott Gellert (v 1756): Der Tanzbär. Aus: Blickfeld Deutsch (Schöningh 1996), S. 163 [Text 3].
[5] Gotthold Ephraim Lessing: Der Tanzbär. Aus: Blickfeld Deutsch (Schöningh 1996), S. 164 [Text 6].
[6] Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Tanzbär: Aus: Blickfeld Deutsch (Schöningh 1996), S. 164 [Text 7]
[7] Johann Wolfgang von Goethe: Rede zum Shakespeare-Tag (1771). Aus: P.A.U.L. D. Oberstufe (Schöningh 2013), S. 104f.
[8] Reinhold Jakob Michael Lenz (1777): Handeln ist die Seele der Welt [Auszug]. Aus: Blickfeld Deutsch (Schöningh 1996), S. 193 [Text 5].
[9] Friedrich Schiller (1784): Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. Aus: P.A.U.L. D. Oberstufe (Schöningh 2013), S. 105f.
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- Mathis Leander Koch (Autor:in), 2017, Aufklärung. Spaziergang durch eine literarische Epoche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444524