Die vorliegende Arbeit stellt zwei internationale Theorien, den Neorealismus und den Liberalismus, einander gegenüber und erklärt die Ursachen für Ausbruch des Ersten Golfkriegs zwischen dem Irak und dem Iran, der von 1980 bis 1988 andauerte, aus dem jeweiligen Blickwinkel dieser Theorien.
Der Erste Golfkrieg zählt zu den bedeutendsten Kriegen im Nahen Osten im 20. Jahrhundert und stellte zudem der Auftakt für weitere schwere blutige Kriege in der Region mit regionalen und internationalen Dimensionen dar. Die Auswirkungen und Folgen des Ersten Goldkrieges sind bis heute zu spüren und bilden die Grundlage für weitere Krisen und Konflikte. Darüber hinaus liegt die Bedeutung dieses Kriegs darin, dass er zwischen zwei benachbarten Ethnien stattfand, Arabern und Persern, die jeweils den beiden größten und miteinander konkurrierenden religiösen Strömungen des Islams angehören, nämlich Schiitentum und Sunnitentum.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt darauf, aus Sicht der theoretischen Ansätze und Annahmen der Theorien von Internationalen Beziehungen die Ursachen dafür zu rekonstruieren, warum sich die alten zwischenstaatlichen Konflikte beider Länder zu einem brutalen zwischenstaatlichen Krieg zu dem Zeitpunkt entwickelt haben. Dabei werden auch die vorherrschenden internationalen Strukturen sowie die innen- und außenpolitischen Umstände in den jeweiligen Ländern miteinbezogen.
Zu diesem Zweck wurden zwei Theorien der Internationalen Beziehungen ausgewählt: erstens der Neorealismus nach Kenneth Waltz und zweitens der Liberalismus nach Andrew Moravcsik. Diese Auswahl wurde aus zwei Gründen vorgenommen: Erstens prägte Waltz mit seiner Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich und nachhaltig die politikwissenschaftliche Teildisziplin Internationale Beziehungen, und war insbesondere während der Phase des Kalten Krieges bedeutend einflussreich, in der auch der Erste Golfkrieg stattfand. Zweitens betrachten beide Theorien Staaten als Akteure im internationalen System aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und gehen infolgedessen bei der Suche nach Antworten und Erklärungen für staatliches Handeln in ihren Analysen auseinander, was zusammengenommen eine umfassende Analyse der internen und externen relevanten Faktoren des Konfliktes ermöglicht.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die internationale Politik und die Theorien der Internationalen Beziehungen
1.1 Der strukturelle Neorealismus nach Kenneth Waltz
1.2 Der Liberalismus und der analytische Liberalismus nach Andrew Moravcsik
2. Der historische Verlauf der Konfliktlinie und die Ausgangslage vor dem Ersten Golfkrieg
2.1 Die ethnisch-religiöse und territoriale Konfliktlinie zwischen Irak und Iran
2.2 Die Islamische Revolution in Iran 1979 und Errichtung eines theokratischen Gottesstaats
2.3 Der Aufstieg Saddam Husseins 1979 und der panarabische Kurs in der Vorkriegszeit
3. Der Erste Golfkrieg aus der Sicht des Neorealismus und des Liberalismus
3.1 Der Erste Golfkrieg 1980 -
3.2 Der Ausbruch des Ersten Golfkriegs aus Sicht des Neorealismus nach Waltz
3.3 Der Ausbruch des Ersten Golfkriegs aus Sicht des neuen Liberalismus nach Moravcsik
4. Fazit und Schlusswort
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz schrieb im 19. Jahrhundert: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“.1 Heute wird diesen Satz in Deutschland politisch wahrscheinlich kaum jemand offen vertreten wollen, allerdings belegt die Weltgeschichte mit all ihren früheren und aktuellen Kriegen, die auf politische, ökonomische und/oder territoriale Konflikte zurückzuführen sind, dass dieser Satz von Clausewitz keine bloße militärische Parole ist. Vielmehr trägt die Äußerung im Kern einen wahren politischen Inhalt in sich, der historisch und zeitgenössisch nachvollzogen werden kann.
Die vorliegende Arbeit stellt zwei internationale Theorien, den Neorealismus und den Liberalismus, einander gegenüber und erklärt die Ursachen für Ausbruch des Ersten Golfkriegs zwischen dem Irak und dem Iran, der von 1980 bis 1988 andauerte, aus dem jeweiligen Blickwinkel dieser Theorien.
Der Erste Golfkrieg zählt zu den bedeutendsten Kriegen im Nahen Osten im 20. Jahrhundert und stellte zudem der Auftakt für weitere schwere blutige Kriege in der Region mit regionalen und internationalen Dimensionen dar. Die Auswirkungen und Folgen des Ersten Goldkrieges sind bis heute zu spüren und bilden die Grundlage für weitere Krisen und Konflikte. Darüber hinaus liegt die Bedeutung dieses Kriegs darin, dass er zwischen zwei benachbarten Ethnien stattfand, Arabern und Persern, die jeweils den beiden größten und miteinander konkurrierenden religiösen Strömungen des Islams angehören, nämlich Schiitentum und Sunnitentum.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt darauf, aus Sicht der theoretischen Ansätze und Annahmen der Theorien von Internationalen Beziehungen die Ursachen dafür zu rekonstruieren, warum sich die alten zwischenstaatlichen Konflikte beider Länder zu einem brutalen zwischenstaatlichen Krieg zu dem Zeitpunkt entwickelt haben. Dabei werden auch die vorherrschenden internationalen Strukturen sowie die innen- und außenpolitischen Umstände in den jeweiligen Ländern miteinbezogen.
Zu diesem Zweck wurden zwei Theorien der Internationalen Beziehungen ausgewählt: erstens der Neorealismus nach Kenneth Waltz und zweitens der Liberalismus nach Andrew Moravcsik. Diese Auswahl wurde aus zwei Gründen vorgenommen: Erstens prägte Waltz mit seiner Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich und nachhaltig die politikwissenschaftliche Teildisziplin Internationale Beziehungen, und war insbesondere während der Phase des Kalten Krieges bedeutend einflussreich, in der auch der Erste Golfkrieg stattfand.2 Zweitens betrachten beide Theorien Staaten als Akteure im internationalen System aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und gehen infolgedessen bei der Suche nach Antworten und Erklärungen für staatliches Handeln in ihren Analysen auseinander, was zusammengenommen eine umfassende Analyse der internen und externen relevanten Faktoren des Konfliktes ermöglicht.
Konkret soll die folgende Frage beantwortet werden:
Wie ist die Eskalation des territorialen zwischenstaatlichen Konflikts zwischen dem Irak und Iran zu einem schwerwiegenden zwischenstaatlichen Krieg aus Sicht des Neorealismus und Liberalismus zu erklären?
Das Ziel dieser Arbeit ist nicht, die Schuldfrage an dem Krieg zu klären, sondern aus Sicht der genannten Theorien der Internationalen Beziehungen analytische Erkenntnisse über die treibenden Kräfte und Motiven für das Handeln beider betroffener Staaten zu gewinnen. Es soll untersucht werden, wie der bereits vorhandene zwischenstaatliche Konflikt zu einem brutalen und langjährigen Krieg führen konnte. Daher wird, auch aufgrund des veranschlagten Umfangs dieser Arbeit, die Rolle der externen Akteure wie der Golfstaaten sowie der Großmächte USA und UdSSR nur am Rande erwähnt.
Im ersten Kapitel werden die beiden Theorien, der strukturelle Neorealismus nach Kenneth Waltz und der analytische Liberalismus nach Andrew Moravcsik, vor- und einander gegenübergestellt. Die jeweiligen Kernthesen der Theorien werden herausgearbeitet, um sie später, im dritten Kapitel, auf den Ersten Golfkrieg anzuwenden.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Ausgangslage im Irak und Iran unmittelbar vor dem Ausbruch des Kriegs, vor allem mit dem vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Klima beider Länder, die sich, wie gezeigt wird, noch in den Umbruchsprozessen befanden. Anschließend wird eine kurze Zusammenfassung des Verlaufs des Ersten Golfkriegs vorgelegt.
Im dritten Kapitel werden dann die ausgearbeiteten theoretischen Kernthesen und Ansätze beider Theorien an den Ersten Golfkrieg angewendet, um das Handeln und die Bestrebungen der beteiligten Akteure auf dieser theoretischen Grundlage analysieren zu können. Die Arbeit wird mit einem umfassenden Fazit und Schlusswort abgeschlossen.
1. Die internationale Politik und die Theorien der Internationalen Beziehungen
Frank Schimmelpfennig fasst internationale Politik in seiner Definition wie folgt:
„Internationale Politik umfasst die Gesamtheit aller Interaktionen, die auf die autoritative Verteilung von Werten jenseits staatlicher Grenzen gerichtet sind unter den Bedingungen der Anarchie“3
Die internationalen Beziehungen (Interaktionen) finden der Definition zufolge zwischen den Staaten als Akteure in einem internationalen System statt, in dem nicht eine Hierarchie, sondern Anarchie als Ordnungsprinzip herrscht. Das Dilemma des internationalen Systems ist das fehlende internationale Gewaltenmonopol, das auf die interne und externe Souveränität der Staaten zurückzuführen ist.4
Dem Souveränitätsprinzip zufolge sind ausschließlich die jeweiligen Staaten selbst für ihre internen und externen Angelegenheiten und Handlungen verantwortlich und sie verfügen über das Gewaltmonopol auf ihren Territorien. Die Staaten können sich in Rahmen internationaler Abkommen und Mitgliedschaften in internationalen Organisationen freiwillig verpflichten, allerdings existiert keine legitimierte Oberinstanz, die befähigt ist, Staaten zu bestimmten Handlungen oder Abkommen zu zwingen.5 Dies führt in der Folge dazu, dass es zu unterschiedlichen bilateralen oder multilateralen Beziehungen bzw. Interaktionen zwischen den Staaten kommt, die entweder von Kooperationen, Allianzen, Konflikten, Krisen oder auch Kriegen geprägt sind.
Um die Komplexität der internationalen Beziehungen zwischen Staaten im internationalen System auf einer wissenschaftlichen Grundlage untersuchen und analysieren zu können, wurden die Theorien der Internationalen Beziehungen entwickelt. Diese dienen als Instrumente zur Analyse und Erklärung dieser Beziehungen, nachdem sie in ihrem historischen und internationalen Kontext hinreichend beobachtet werden. Diese Theorien begründen und erklären die Dynamiken und Strukturen der internationalen Beziehungen basierend auf ihren Vorannahmen und unter Einnahme jeweils unterschiedlicher Blickwinkel.
1.1 Der strukturelle Neorealismus nach Kenneth Waltz
Kenneth Waltz präsentierte 1979 in seinem Hauptwerk „Theory of International Politics“ erstmals seine Theorie des strukturellen Neorealismus, auf die die meisten neorealistischen Erklärungsansätze in ihrer Darstellung zurückgreifen.6
Waltz lehnt sich in der Entwicklung seiner Theorie an den klassischen Realismus nach Hans Morgenthau an,7 wobei er einige seiner Kernannahmen teilt und sie durch weitere Annahmen ergänzt. Deshalb führt der Weg für ein fundiertes Verständnis von Waltz‘ Theorie zwangsläufig über die Unterschiede zwischen dem (klassischen) Realismus und dem (strukturellen) Neorealismus.
Die erste Kernannahme des (Neo-)Realismus hat sich zugleich, wie bereits zitiert, in der Teildisziplin der Internationalen Beziehungen als zentrales Merkmal des internationalen Systems etabliert. Sie lautet, dass das Ordnungssystem im internationalen System der Staatenwelt die Anarchi e ist, was einerseits die Abwesenheit einer übergeordneten Autorität und andererseits die Gleichstellung der Akteure in diesem System ausdrückt.8
Ein weiterer Kernsatz des Neorealismus ist die Annahme, dass die relevanten Akteure des internationalen Systems ausschließlich die Staaten sind, die innerhalb dieses Systems einheitlich, zweckrational und egoistisch in Form einer Black Box agieren.9 Des Weiteren, so die Theorie des Neorealismus, führt die fehlende einer „Weltpolizei und Weltjustiz“ dazu, dass Staaten auf sich selbst gestellt sind, was zu der Annahme führt, dass Staaten selbst für ihre Sicherheit bzw. ihr Überleben innerhalb dieser anarchischen Strukturen sorgen müssen. Waltz bezeichnet das internationale System daher als Selbsthilfesystem,10 wobei „Überleben“ hier sowohl die politische Autonomie als auch die Souveränität des Staates umfasst.11
Folglich rückt das Ziel der Sicherheit an die oberste Stelle der Prioritätenliste der Staaten. Dies führt zu der weitergehenden Annahme, dass Staaten nach Macht streben, um ihre Existenz innerhalb dieses Selbsthilfesystems zu gewährleisten. An dieser Stelle trennt sich die Theorie des Neorealismus vom Realismus, denn der Realismus begründet das Machtstreben der Staaten anthropologisch und führt es auf die menschliche Natur zurück, die immer nach mehr Macht strebt. Dabei wird das stetige Machtstreben als rationales Handeln angesehen, um den etwaigen Verlust ihrer Machtposition – im extremen Fall gar ihrer Existenz als souveräner Staat – in diesem anarchischen System nicht zu riskieren.12 Der Neorealismus hingegen führt das Machtstreben von Staaten in erster Linie auf die anarchischen Strukturen des internationalen Systems zurück, die Staaten zu Machtstreben zwingen und betrachten es damit als Strukturwirkung der Anarchie, das Machtstreben dient hier also das Überleben.13
Die Sicherheit eines Staates kann durch militärische Aufrüstung gewährleistet und sogar erhöht werden, was allerdings dazu führt, dass die Sicherheit anderer Staaten auf Grund der Informationsunsicherheit über Zweck dieser Aufrüstung sich reduziert. Da andere Staaten nicht wissen, ob diese Aufrüstung dem Schutz oder einem möglichen Angriff dienen soll, rüsten sie daher ebenfalls auf, um ihr eigene Sicherheit wiederherzustellen. Dies reduziert wiederum die Sicherheit der anderen Staaten, und somit ein Macht- und Sicherheitsdilemma entsteht, das letztendlich zu Rüstungswettläufen führt.14 Demzufolge befinden sich die Staaten in einem prekären, immer wieder zu reproduzierenden Machtgleichgewicht, das sie ausbalancieren müssen, um zu überleben. Dabei müssen sie versuchen, über genug Macht zu verfügen, um alle anderen Staaten von einem Angriff abzuschrecken, aber nicht so viel Macht zu akkumulieren, sodass alle andere Angst vor ihm haben und versuchen, sie aus dem Spiel zu nehmen. In der Terminologie von Waltz wird dies als „Balance of Power“ bezeichnet.15 Staaten versuchen unter diesen Bedingungen ihr Überleben zu sichern, indem sie militärische Bündnisse eingeht (externes Balancing) oder aufrüsten (internes Balancing),16 um den Folgen des Sicherheitsdilemmas entgegenzuwirken. Waltz fasst dieses Dilemma in einem Aufsatz wie folgt:
“Excessive weakness may invite an attack that greater strength would have dissuaded an adversary from launching. Excessive strength may prompt other states to increase their arms and pool their efforts against the dominant state. Because power is a possibly useful means, sensible statesmen try to have an appropriate amount of it. In crucial situations, however, the ultimate concern of states is not for power but for security.“17
Zwischenstaatliche Konflikte und Kriege sind gemäß der Theorie des Neorealismus aufgrund der herrschenden Strukturen des internationalen Staatensystems und dessen schwer zu erhaltendes Machtgleichgewicht nahezu unausweichlich.18
Weiterhin hält der Neorealismus Kooperationen zwischen Staaten für unwahrscheinlich. Wenn Staaten in diesem Nullsummenspiel nach relativen Gewinnen durch eine Kooperation streben, ist diese in dem bestehenden anarchischen System schwer zu erreichen und zu kontrollieren. Daher bevorzugen Staaten eher ihre Unabhängigkeit als die Kooperation miteinander.19
Waltz als ein Vertreter des Defensiven Neorealismus positioniert die Sicherheit als oberstes Ziel der Staaten und sieht Macht dementsprechend in diesem Zusammenhang als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck.20
Darüber hinaus haben die internationalen Institutionen wie die UN, die EU etc. für die (Neo-)Realisten keine Relevanz, da sie keinen unabhängigen Einfluss jenseits der Interessen mächtiger Staaten haben.
1.2 Der Liberalismus und der analytische Liberalismus nach Andrew Moravcsik
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts gerieten die Systemtheorien wie etwa der Neorealismus und der Institutionalismus in Erklärungsnot, da ein solches Ende des Kalten Krieges aus ihren theoretischen Annahmen und Erklärungsansätzen, die ausschließlich auf die Strukturen des internationalen Systems fokussiert waren, schlechterdings nicht erklärt werden konnte.
Die liberalen Ansätze, die primär im Inneren der Staaten nach Erklärungen für ihr Handeln nach außen hin und ihre zwischenstaatlichen Beziehungen suchten, gewannen in der Folge wieder an Bedeutung. Die Vertreter*innen der liberalen Denkschulen nutzten den frei gewordenen Raum, um den traditionellen liberalen, werteorientierten Ansätzen durch einen Fokus auf internationale Politik Erklärungskraft zu verleihen. Der Liberalismus teilt sich in seiner Betrachtung und Gewichtung der innenpolitischen Faktoren in zwei Hauptströmungen: Während sich die erste Strömung in ihrer Erklärung der internationalen Politik auf die politischen Systeme der Staaten in Anlehnung an die liberalen Ideen zur politischen Philosophie von Immanuel Kant bezieht, die er in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ zusammenfasste,21 steht die zweite Strömung, die Gegenstand dieser Arbeit ist, substanziell unter dem Einfluss der Außenpolitikforschung, deren zentrale Annahme das außenpolitische Verhalten der Staaten auf den Einfluss der jeweiligen innenpolitischen Akteure zurückführt.22
Andrew Moravcsik, ein Anhänger der zweiten Strömung, gilt als Hauptvertreter des analytischen Liberalismus und verfolgt bei der Formulierung seiner Theorie des neuen Liberalismus eine umfassende Vorgehensweise, indem er seine Theorie – in Abgrenzung zum traditionellen Liberalismus – nicht utopisch oder ideologisch formuliert.
Zudem hat Moravcsik bei der Reformulierung der alten liberalen Theorie deren Verortung als eine der Großtheorien der Internationalen Beziehungen zum Ziel, und weitet den Liberalismus zu diesem Zweck durch den Zwei-Ebenen-Ansatz von einer subsystemischen Ebene (innenstaatlich) auf eine systemische Ebene (internationales System) aus, um dem Liberalismus das nötige Gehäuse für eine IB-Großtheorie zu verschaffen.23
Moravcsiks Theorie basiert auf der Annahme, dass Staaten keine festen Präferenzen haben, sondern verschiedene Schwerpunkte, die von den jeweils dominantesten gesellschaftlichen Gruppen durchgesetzt werden und anschließend innerhalb der staatlichen Institutionen immer wieder unterschiedlich miteinander aggregieren und dadurch in Hinblick auf Sicherheit, Souveränität und Wohlfahrt neue Präferenzen produzieren.24 Er öffnet damit den Staat (open Black Box) und liefert intern basierte Erklärungen dafür, warum Staaten nicht stets die gleiche Außenpolitik betreiben.
Die Grundannahmen seiner Theorie beruhen auf einem Menschenbild von rationalen, nach Freiheit und Selbstverantwortung strebenden Nutzenmaximierer*innen, und schließt vom Verhalten einzelner Personen und Gruppen auf Außenpolitik des Staates.25
Die neue liberale Theorie nimmt an, dass die in gesellschaftlichen Gruppen organisierten Individuen die entscheidenden Akteure des internationalen Systems sind, beispielsweise Interessengruppen wie Parteien, die Pharmaindustrie, Gewerkschaften, Kirchen, NGOs etc. Weiterhin unterstellt Moravcsik den Individuen ein rationales und „risikoavers“ Handeln, wobei die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ständig nach Einfluss auf die Regierung bzw. den Staat streben.
Die zweite Annahme der Theorie bezieht sich auf den Staat selbst, der dieser Theorie nach lediglich als eine repräsentative Institution (Gehäuse) agiert und in seiner Rolle als Transmissionsriemen ausschließlich der Präferenzen der durchsetzungsstärksten gesellschaftlichen Gruppe nach außen vertritt. Staaten haben dieser Ansicht nach – anders als im (Neo-)Realismus und Institutionalismus – keine festen staatlichen Interessen, sondern verfolgen jeweils variable spezifische Kombinationen von Souveränität, Wohlfahrt oder Sicherheit, die sich aus der Aggregation gesellschaftlicher Interessen ergeben.26 Demzufolge wird die Außenpolitik eines Staates „bottom-up“ von innerstaatlichen Interessenkoalitionen determiniert.27
Innerhalb eines Staates ändert sich die Außenpolitik dann, wenn sich etwas an der innerstaatlichen Macht ändert. Auch über unterschiedliche Sachgebiete hinweg kann ein Staat unterschiedliche außenpolitische Positionen verfolgen, zum Beispiel in ökonomischer Hinsicht eine andere als in Hinsicht auf internationale Umweltabkommen. Liberalismus liefert also ein differenziertes Bild dessen, wie Außenpolitik entsteht.28 Darüber hinaus kommt es zur Neuordnung der Präferenzen eines Staates, auch dann, wenn die Folgen der betriebenen Außenpolitik für die dominanteste gesellschaftliche Gruppe kostspielig nicht mehr tragbar werden.
Die dritte Kernannahme setzt eine interdependente Beziehung zwischen den Staaten voraus, in der die jeweiligen Präferenzen miteinander interagieren und dementsprechend die zwischenstaatlichen Beziehungen bestimmen und beeinflussen.29 Wenn zwei Staaten mit ihren jeweiligen Interessen aufeinander treffen, dann kommt es entweder zu Kooperation bzw. Frieden, wenn die dominanten gesellschaftlichen Gruppen der beiden Staaten kompatible Präferenzen haben, oder aber kommt es zum Konflikt bzw. Krieg, wenn sie inkompatible Präferenzen und Interessen verfolgen.
„Der neue Liberalismus ist also keineswegs eine harmonische Theorie. Auch im Liberalismus können Staaten um ihre Sicherheit besorgt sein. Aber sie sind es nicht aufgrund einer bestimmten Mächtekonstellation [...] oder aus Unsicherheit, sondern erst bei divergierenden staatlich vermittelten gesellschaftlichen Präferenzen.“30
Aus diesen drei Kernannahmen leitet Moravcsik drei Varianten seiner neuen liberalen Theorie ab, den ideellen Liberalismus, den kommerziellen Liberalismus und den republikanischen Liberalismus.31 Da in dieser Arbeit vor allem der ideelle Liberalismus angewandt wird, wird dieser nun noch kurz erläutert. Der ideelle Liberalismus führt die Präferenzen eines Staates auf die soziale Identität, das Selbstbild und die Werteordnung seiner Bürger*innen zurück.32
[...]
1 Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, 2005 (Erstdruck 1832/34), Kapitel 1, Abschnitt 24 , S.38
2 Masala, Kenneth N. Waltz : Einführung in seine Theorie und Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, 2014, S. 7.
3 Schimmelpfennig, Internationale Politik, 2017, S. 22f.
4 Schimmelpfennig, 2017, S. 23f.
5 Waltz, Theory of International Politics, 1979, S. 88: „Keiner von ihnen ist berechtigt zu befehlen; keiner ist verpflichtet zu gehorchen.“
6 Masala, 2014, S. 41.
7 Das Hauptwerk von Hans J. Morgenthau ist „Politics among Nations“ aus dem Jahr 1948.
8 Tuschhoff, Internationale Beziehungen, 2015, S. 27.
9 Schimmelpfennig, 2017, S. 67f.
10 Waltz, Theory of International Politics, 1979, S. 104.
11 Schimmelpfennig, 2017, S. 68ff.
12 Masala, 2014, S. 42.
13 Schimmelpfennig, 2017, S. 68.
14 Tuschhoff, 2015, S. 27.
15 Waltz, 1979, S. 121.
16 Schimmelpfennig, 2017, S. 81f.
17 Waltz, The Origin of Wars in Neorealist Theory, 1988, S. 616.
18 Tuschhoff, 2015, S. 27.
19 Tuschhoff, 2015, S. 28.
20 Waltz, 1979, S. 126; Schimmelfennig, 2017, S. 71.
21 Tuschhoff, 2015, S. 37.
22 Tuschhoff, 2015, S. 38.
23 Moravcsik, Taking Preferences Seriously: A Liberal Theory of International Politics, 1997, S. 544.
24 Moravcsik, 1997, S. 513f.
25 Moravcsik, 1997, S. 518.
26 Moravcsik, 1997, S. 518.
27 Moravcsik, 1997, S. 517.
28 Krell, Weltbilder und Weltordnung - Einführung in die Theorie der internationalen Beziehungen 2009, S. 185f.
29 Moravcsik, 1997, S. 520.
30 Krell, 2009, S. 186.
31 Moravcsik, 1997, S. 524.
32 Krell, 2009, S. 186f.
- Quote paper
- Jian Omar (Author), 2018, Der Erste Golfkrieg aus Sicht des Neorealismus und des Liberalismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444372
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