Der derzeit populäre Vergleich mit dänischer Arbeitsmarktpolitik und deren hoher Flexibilität infolge vermeintlich hoher Deregulierung und als Ursache eines ökonomischen Wachstum, beruht auf einigen Fehlinterpretationen und Missverständnissen. Denn “Flexibilität” in Arbeitsmarkt, Beschäftigung und Sozialpolitik ist primär eine politische Steuerungsformel, ein recht vager Allgemeinplatz und keine Eigenschaft von spezifischen Merkmalsträgern. Die vermeintliche Deregulierung ist nur eines von vielen wirtschaftspolitischen Schlagworten, die sich ihre eigene Legitimität erst durch sich selbst erschaffen. Diese Politik wird “verschlagwortet”; Debatten werden infolge dessen eher in Reduktion ökonomistischer Begriffe um diese Schlagworte herum geführt, als dass wirklich klug um Inhalt und Kausalität dieser gesprochen würde. Insgesamt stellt Flexibilität eine undurchsichtige und komplexe Beschwörungsformel der Gegenwart dar. Flexicurity stellt infolge dessen ein abstraktes, nicht konkret greifbares Konstrukt um ein ideologisches Gesamtkonzept der politischen Schlagworte der Europäischen Arbeitsmarktpolitik dar. In dem deutsch-dänischen Vergleich werden dabei völlig heterogene und ebenso heteronome Faktoren miteinander in Verbindung gebracht. Beide Länder weisen darüber hinaus auch ganz unterschiedliche politische und soziale Systeme, eine andere Historie und sozioökonomische Phänomene auf, die entschieden über das hinausgehen, was man bloß als “Mentalitätsunterschied“ verbuchen könnte, geschweige, dass man sie überhaupt “vergleichen“ könnte.
Inhalt
Abstract
Portraits der interviewten Experten
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
1 Allgemeine und politische Problemstellungen interner und externer Flexibilität
1.1 Lissabonstrategie im Spiegel der Kritik
1.2 Ambivalenz des „Aktiven Wohlfahrtsstaates“
1.3 Institutionalisierung externer Flexibilität als negative Individualisierung?
1.4 Tautologie der Arbeitsmarktsegmentierung
2 Deutschland und Dänemark: Äpfel und Birnen?
2.1 Dänischer Arbeitsmarkt
2.2 Dänisches Arbeitsrecht
2.3 “Was verstehen Sie unter Flexibilität?“: Entkoppelung sozialen Bewusstseins der Akteure
2.4 Ressourcen- u. Kostenorientierung
2.5 Geringqualifizierte?
2.6 Weiterbildung
3 Gespräche mit Arbeitsmarkt-Experten
3.1 Methodisches Vorgehen und Theoriebezug
3.2 Auswahl der Interviewpartner und Probleme der Erhebung
4 kritische Analyse und Zusammenfassung
Fazit
Literatur
Abstract
Der derzeit populäre Vergleich mit dänischer Arbeitsmarktpolitik und derenhoher Flexibilität infolge vermeintlich hoher Deregulierung und als Ursacheeines ökonomischen Wachstum, beruht auf einigen Fehlinterpretationen undMissverständnissen. Denn “Flexibilität” in Arbeitsmarkt, Beschäftigung undSozialpolitik ist primär eine politische Steuerungsformel, ein recht vagerAllgemeinplatz und keine Eigenschaft von spezifischen Merkmalsträgern. Dievermeintliche Deregulierung ist nur eines von vielen wirtschaftspolitischenSchlagworten, die sich ihre eigene Legitimität erst durch sich selbsterschaffen. Diese Politik wird “verschlagwortet”; Debatten werden infolgedessen eher in Reduktion ökonomistischer Begriffe um diese Schlagworteherum geführt, als dass wirklich klug um Inhalt und Kausalität diesergesprochen würde.
Insgesamt stellt Flexibilität eine undurchsichtige und komplexeBeschwörungsformel der Gegenwart dar. Flexicurity stellt infolge dessen einabstraktes, nicht konkret greifbares Konstrukt um ein ideologischesGesamtkonzept der politischen Schlagworte der EuropäischenArbeitsmarktpolitik dar. In dem deutsch-dänischen Vergleich werden dabeivöllig heterogene und ebenso heteronome Faktoren miteinander inVerbindung gebracht. Beide Länder weisen darüber hinaus auch ganzunterschiedliche politische und soziale Systeme, eine andere Historie undsozioökonomische Phänomene auf, die entschieden über das hinausgehen,was man bloß als “Mentalitätsunterschied“ verbuchen könnte, geschweige,dass man sie überhaupt “vergleichen“ könnte.
Schlagwörter: Aktivierender Sozialstaat; Arbeitsmarkt; Employability; Flexibilität; Flexicurity; Ländervergleich DE/DK; Lissabon-Strategie; Weiterbildung
Portraits der interviewten Experten
Kally Darm; geb. 1956; Hamburg: seit etwa 20 Jahren Mitarbeiter in der Innenverwaltung derHamburger Wochenzeitung Die Zeit, auch als Betriebsratsmitglied (zeitweilig dort im Vorsitz);IG-Metall-Mitglied; anfänglich Ausbildung zum Kfz-Mechaniker; 10 Jahre in diversen Jobs (u.
a. Maschinenbauer, Montageschlosser etc.) Weltenbummler; Musiker (www.kally-darm.de);seit vielen Jahren ehrenamtlich in diversen sozialen Projekten, Bürgerinitiativen im Bereichder Oberelbe (Lauenburg, Lüneburg, Boizenburg) aktiv; Initiator (2008) und Mitherausgeberder Website www.hartz5.org; Publikation: Leben an der Abbruchkante. Selbsthilfe in Zeiten von Hartz IV; Januar 2007.
Interview am 29.1.2009; Hamburg
Erling Frederiksen; geb. 1957; Gislinge, Sjælland/DK: Mitbegründer (1998), Vorsitzender(seit 2000) der LA, Landesorganisation der Erwerbslosen (Landesorganisationen afArbejdsledige; Kopenhavn), und Redakteur des LA-Bladet; www.ladk.dk; Erwerbsloser mitAusbildung in öffentlicher Verwaltung als Historiker und Wirtschaftswissenschaftler;Publikation auf Deutsch: Null-Euro-Jobs: Die aktive Sozialpolitik und die Landesorganisation der Erwerbslosen in Dänemark; In: Büro für angenehme Lebensweisen (Hg.); PrekäreBewegungen, Soziale Konflikte in Frankreich, Italien, Österreich und Dänemark. Texte zu einer Veranstaltungsreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin des
Rosa-Luxemburg-Bildungswerkes Hamburg e.V. und des Büros für angenehmeLebensweisen, Hamburg. Sonderheft der Hamburger Skripte. Herausgegeben von PeterBirke, Meinhard Meuche-Mäker, Iris Nowak und Lars Stubbe. Hamburg 2004. S. 91 - 110.
Interview am 19.9.2008; Dortmund; nicht aufgezeichnet
Jørgen Hansen; geb. 1942; Lynge/DK: 2003 - 2006 Botschaftsrat für Arbeitsmarktfragen an der Königlich Dänischen Botschaft in Berlin; Direktor a. D. (bis 2003) des dänischen Arbeitgeber- u. Wirtschaftsverbands Dansk Industri (DI), 1993 - 2003 dort zuständig für die Verhandlung von Kollektivverträgen; Volkswirt, Jurist.
Interview am 27.8.2008; Lynge/DK
Peter Hansen; geb. 1969; Padborg/DK: seit 2004 tätig im ehem. EURES -Projekt „ Infocenter Grenze-Gr æ nse “ (2004 - 2007; übergegangen in das 1997 gegründete Regionskontor) in der Region Sønderjylland-Schleswig; seit Januar 2008 Leiter und Berater des Regionskontors (eine Beratungsinitiative für Grenzpendler, Unternehmen und andere, die Kontakte, Infos, Arbeitsmöglichkeiten etc. in beiden Ländern suchen).
Interview am 27.8.08; Padborg/DK
Niels Reimers; geb. 1978; Hamburg: seit 2006 Bildungsbegleiter eines privatwirtschaftlichen, gemeinnützigen Bildungsträgers für benachteiligte Jugendliche („U 25“) in Zusammenarbeit mit ARGE, BA und Behörden; vormals Arbeitsvermittler im Rechtskreis des SGB II.
Interview am 4.11.2008; Hamburg
ZAV (Zentrale Auslands- und Fachvermittlung der BA); Hamburg: eine Vermittlerin; geb. 1974; seit 2005 Arbeitvermittlerin und EURES-Beraterin in der Auslandsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit (BA); seit 1997 Arbeitsvermittlerin der BA.
Interview am 19.11.2008; Hamburg
EURES: European Employment Service der EU;
http://ec.europa.eu/eures/home.jsp?lang=de (Zitat): „ EURES wurde im Jahr 1993 gegründetund ist ein Kooperationsnetz zwischen der Europäischen Kommission und den öffentlichen Arbeitsverwaltungen der EWR-Mitgliedstaaten (EU-Mitgliedstaaten plus Norwegen, Island und Liechtenstein) und anderen Partnerorganisationen.“(Zugriff am 5.4.2009)
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Faktoren der drei Diskursebenen und ihre interdependenten Bestandteil 13
Abb. 2: Typen von Flexibilität nach Vobruba (2006) 13
Abb. 3: Interne und externe Faktoren der Flexibilität; eigene Darstellung 18
Abb. 4: Dänischer Arbeitsmarkt 41
Abb. 5: Unternehmensstrategien nach Brödner (2009: 10f.); eigene Darstellung 51
Diese Arbeit ist Kally Darm gewidmet, der durch sein Projekt Hartz 5, durch seine Musik und seine offene Art diese Abschlussarbeit tatkräftig unterstützt hat. Kally ist ein halbes Jahr nach dem Interview schwer erkrankt und hat sich von allen Aktivitäten zurückgezogen.
Danke Kally und gute Besserung!
“ Flexibilität, Mobilität sind nun Schlagworte, die sehr gerne benutzt werden, um eigentlich Arbeitsbedingungen durchzudrücken, die vor zehn, zwanzig Jahren noch undenkbar waren. Auf diese Trommel wird gerne gehauen, wenn es darum geht, Leute aus Jobs rauszudrücken. ( … ) Ich möchte mal sagen, dass ist soähnlich wie das Wort “ Reform ” , was eigentlich positiv besetzt war, mittlerweile negativ besetzt ist. Wenn ich heute zu jemandem gehe und sag: “ Wir machen `ne Reform! ” , runzeln die alle gleich die Stirn, weil das nämlich in der Regel eine negative Veränderung für Leute bedeutet. ”
Kally Darm (53), Hamburg, im Interview
Einleitung1
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Begriffen, Ausprägungen undFaktoren von Flexibilität läuft von vornherein Gefahr, sich a) in einerGlobalkritik zu verirren, oder aber sich b) in einer kleinteiligen, zuweilenpopulärwissenschaftlichen Mikroebene zu verlaufen, an Einzelphänomenenstehen und im tautologischen Empirismus stecken zu bleiben. Dieunterschiedlichen Begriffe und Ausprägungen von Flexibilität2 sowie die damiteinhergehende “normative Kraft des Faktischen” (Georg Jellinek3 )unterwandern eine analytisch-präzise Darlegung - gerade im Politischen.Neben den nahezu allgemeingültigen, naturwissenschaftlichen, semantischenund sprachlichen Ausprägungen und lexikalischen Einträgen des Begriffesder Flexibilität („ Biegsamkeit “; „ Anpassungsfähigkeit “, …; ergo: „ Heute musst Du halt flexibel sein! “) treten aktuell vor allem die arbeitsmarkt- u.sozialpolitischen, insbesondere aber auch soziologische, Definitionen resp.Dimensionen und Interpretationen, in den Vordergrund der öffentlichenDebatte. Dabei tritt unvermeidlich eine weitere Problemstellung in dersoziologischen Analyse im Sinne kritischer Sozialwissenschaften auf, indemweitere Trabanten und Satelliten, die mehr oder minder direkten Folgen,Kausalitäten und Zusammenhänge, Ursachen und Auswirkungen vonArbeitsmarkt u. Sozialpolitik in Erscheinung treten und andere wiederumüberblendet werden. Allerlei Begriffe, Reizwörter und ideologisch aufgeladeneSchlagworte werden mit Flexibilität und Flexibilisierung in Verbindunggebracht oder gar gleichgesetzt (APuZ 33-34/2008). Es entsteht dadurch einsemantischer Sumpf mit allerlei weißen Flecken. Zudem werden die Begriffeund Vorgänge nahezu personalisiert, als ob es sich dabei um individuelle
Akteure („ Brüssel hat gesagt …“ ; „ Dänemark macht …“) handele, die einer bestimmten Absicht und Logik folgen würden. Dass dynamisierte Strukturen in Arbeitsmarkt und Beschäftigung gleichsam Ursache und Wirkung sind (Vobruba 2006: 32), geht in der Betrachtung unter; bzw. diese Hyperkomplexität überfordert den intellektuellen common-sense. Dabei gerät insbesondere in der öffentlichen Debatte und medialen Inszenierung auch schnell viel durcheinander, was nicht primär Kausalität besitzt.
Als äußerst erfolgreiches Musterland und Vorbild - gleichsam einer Vorlageoder eines Schnittmusterbogens - für die Übertragbarkeit einer Flexibilität inArbeitsmarkt, Beschäftigung und Sozialpolitik und dem damit verbundenemökonomischen Wachstum durch Deregulierung, bei gleichzeitig (vermeintlich)breiter Akzeptanz der Bevölkerung, wird seit einiger Zeit Dänemark genannt.Superlative eher boulevardesker Couleur reihen sich seit Ende der 1990erJahre in der deutschen, auch seriösen, Berichterstattung des Mainstream aneinander: „ Sozialstaat mit Muskeln “ (Perger 2003); „ Die gemütliche Festung “ (Sussebach/Willeke 2007); „ Wie ich die Arbeitslosigkeit besiegte “ (Rasmussen 2005); „ Beschäftigungswunder “ (Döhrn/Heilemann/Schäfer 1998); „ Keiner ist faul im Staate Dänemark “ (Rudzio 2004); „ Renaissance der Normalarbeit “ (Hoffmann/Walwei 2000) etc. pp. Diese populäre Aufzählungzum „Nordischen Modell“4 findet ebenso regelmäßig Fortsetzung in derumfangreichen wissenschaftlichen Fachliteratur wie bei Veranstaltungen inDeutschland, die Arbeitsmarkt- u. Sozialstaatsthemen im Fokus haben. Esscheint, neben den deutschen Alltagsmythen und der allgemeinenSimplifizierung des Arbeits- u. Sozialrechts (Schramm/Zachert [Hg.] 2008),geradezu einen „Dänischen Mythos“, eine Mystifizierung undMythologisierung Dänemarks und dänischer Politik zu geben, die es hieraufzulösen gilt. Denn gleichwohl sich Deutschland und Dänemark als direktenordeuropäische EU-Nachbarländer zwar durchaus ähnlich sind unddurchaus auch gemeinsame Nähe beweisen, können sie für einengemeinsamen Vergleich oder eine gegenseitige Übertragbarkeit sozialerStandards unterschiedlicher nicht sein. Begrifflich-semantisch, verkürzender Reduktionismus in der medialen Inszenierung, sowie eine - wirtschaftspolitisch intendierte und gesteuerte -, nach unten, auf Ebene dersouveränen Nationalstaaten durchgereichte Konsolidierung EuropäischerSozialpolitik, tun ihr übriges zu dieser Wahrnehmung und solchen Diskursen.
Polit-ökonomistische Begriffe und Schlagworte wie „ Sozialstaat “,„ Kündigungsschutz “, „ Eigenverantwortung “, „ Aktivierung “ und die manageriabel aufgeladene „ Employability “5 (oder holperig ins Deutsche übertragen als „ Beschäftigungsfähigkeit “) dienen nur noch als austauschbareEtiketten einer sich quasi immer schneller drehenden Welt im „Neuen Geistdes Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2005), in dessen flexiblemFinanz-Kapitalismus und seiner „Aktivgesellschaft“ die Begriffe Flexibilität,Mobilität und Produktivität zu politischen Steuerungsinstrumentenindividuellen Selbstzwangs mit sozialer Absicht mutieren (Lessenich 2008:17). Der hegemoniale gemeinsame Gegenstandsbereich bezieht sichkeineswegs mehr auch auf einen gemeinsamen Deutungshorizont. Häretikerwie Apologeten des Diskurses der Flexibilität können sich, bildlichgesprochen, die Klinke in die Hand geben.
Einführend folgt ein Diskurs in die grundlegenden politischen undsoziologischen Begriffe und Ebenen der Arbeitsflexibilität (I). Daranunmittelbar anschließend wird die Problematik des gemeinsamenGegenstandsbereiches des europapolitischen Arbeitsmarkt-Rahmens aufGrundlage der Lissabonstrategie und der nationalen Hartz-Gesetze kurzskizziert. Im zweiten Abschnitt (II) zeigt sich anhand ausgewählter Beispiele,dass die einzelnen Arbeitsmarktinstrumente, die Klischees und derenImplikationen, die in Deutschland gleichwohl, als „Wunderwaffe“ undAllheilmittel der Flexibilisierung gelten, in Dänemark zumeist schon langeandere oder geringere Ausprägung oder gar Bedeutung haben als diesseitsangenommen wird. Im dritten Abschnitt (III) werden die interviewten Experten und auch Finnland) umfassen. Zuweilen ist auch vom „Skandinavischen Modell“ die Rede.
und die Wahl der Probanten begründet und Probleme der Untersuchung erläutert, um im vierten und letzten Abschnitt in einem kritischen Fazit dieser Gegenüberstellung zu schließen.
1 Allgemeine und politische Problemstellungen interner und externer Flexibilität
Schon diese erste umfassende und einleitende Bestandsaufnahme erscheintin dem Licht näherer begrifflicher Reflexion zu Gründen, Ursachen undRahmenbedingungen von Flexibilität und apostrophierter Flexicurity nichtunproblematisch. Die hier gemeinte Dialektik von „Flexibilität und Sicherheit“6 in Arbeitsmarkt und Sozialpolitik muss hier also zuvorderst in ihrehochkomplexen Bestandteile zerlegt werden, um sich beginnend inBegriffschärfe zu üben, die Motivation der vielfachen Verlautbarungen undschließlich interne und externe Faktoren bestimmen und diskutieren zukönnen. Die Gefahr, sich dabei wie die Apologeten und Häretiker diesesDiskurses in gegeneinander aufzuwiegenden mikro-sozioökonomischenAllgemeinplätzen, Positionen und Details und tabellarischen Zahlenspielenwie Einwohnerzahl, Flächenmaß, Arbeitslosenzahlen, Frauenerwerbsquote,Dichte der Kindergärten, BIP-Wachstum oder Teilzeitrate und immethodologischem Individualismus über die Dänen und das Glück (Bjørnskov2008) zu verlieren, muss a) durch kluge Komplexitätsreduktion, die dennochden Gesamtzusammenhang im Blick hat, und b) durch eine Betrachtung ausMakro- u. Metaebenen der Soziologie gebannt werden.
Vobruba (2006) zerlegt - dem common-sense folgend - die Flexibilitätschematisch in interne und externe Flexibilität und numerische und funktionale Eigenschaften (s. Abb. 2), die jedoch eher an den managerialen(vgl. oben die Kritik von Schultheis; Fn. 4; UL), also betrieblichen und unternehmerischen Aspekten ausgerichtet sind. Dennoch lässt sich,insbesondere (oder erstaunlicherweise?) in der modernen Arbeitsmarkttheorieals Allokationsmechanismus, diese Perspektive nicht ausblenden.
Exemplarisch dafür ist hier der mittlerweile populäre Slogan der „ Atmenden Fabrik “; eine Terminologie, die auf den (hoch umstrittenen) Namensgeber deraktuellen Arbeitsmarktreformen, der (sog. Hartz-) Gesetze für ModerneDienstleistungen am Arbeitsmarkt von 2002, Peter Hartz7 (1996) zurückgehtund die eine laufende, flexible Anpassung („ mit dem Markt atmen “) an„dramatische Veränderungen der Weltwirtschaft“ (Hartz 1996) vertritt . Bereitsin dieser Terminologie und ihrer Perspektive zeigen sich Ursprung undIntention sowie der inflationäre Gebrauch solcher Schlagworte.
Es gibt dennoch drei soziologische Ebenen des Diskursesüber Flexibilität:
- Die Mikroebene der Unternehmen und Betriebe
- Die Makroebene einer politischen und ökonomischen Volkswirtschaft
- Die Mesoebene der gesellschaftlichen Individuen und Akteure(Arbeitnehmer, Beschäftigte, Selbstständige, Arbeitssuchende,Erwerbslose, Nichtarbeitende, Familienangehörige u. dgl.)8
Diese Ebenen gliedern sich weiter in ihre Bestandteile, die ihrerseits weiterhinproblemlos kaskadenförmig unterteilt werden können und wechselseitigwirken. Dies begründet die hyperkomplexe Realität einer „flexiblenArbeitswelt“ (Abb. 1, 2 und 3). Denn eine Dynamik, also die Veränderung undderen Richtung sowie Entwicklung und deren Tendenz, der einzelnenFaktoren ist dabei gleichsam mit zu berücksichtigen.9 Denn Arbeitsmarkt undGesellschaft sind niemals statisch. Gleichwohl muss auch immerunterschieden werden zwischen „gefühlter“ Veränderung (resp. Flexibilität)und „realer“ Umwelt; gleichsam der Debatte um „gefühltes und gelebtesRecht“ im Bezug des „undurchschaubaren Arbeitsrechts“ (Zachert 2008: 40).
Abb. 1: Faktoren der drei Diskursebenen und ihre interdependenten Bestandteile
Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Typen von Flexibilität (nach Vobruba 2006)
Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten
Quelle : Vobruba; Georg (2006): Grundlagen der Soziologie der Arbeitsflexibilität; Berliner Journal für Soziologie, Heft 1/ 2006: S. 29.
Dabei verweist Vobruba auf die „weitgehende Einigkeit“ in der Definition(Vobruba 2006: 29), die auch Jørgen Hansen im Interview weitgehendwiedergibt (III/DK: 88 - 92), die jedoch die anderen Probanten nicht kennenbzw. zitieren.
- Interne Flexibilität bezieht sich auf die numerische Flexibilität innerhalb eines Unternehmens (III und IV). Dies impliziert weitgehend kodifiziertesoziale Sicherheit und nicht-kommunizierte Übereinkommen in Form vonPlanbarkeit, sowohl betriebswirtschaftlich im Unternehmen als auch sozial für die Beschäftigten in Form von Arbeitsplatzsicherheit, Einkommenskontinuität u. -stabilität („ Arbeitnehmergesellschaft “; Walter 20.9. 172), institutionalisierte Laufbahnen, ergo: Senioritätsprinzipien im sog. Normalarbeitsverhältnis (Mückenberger 1985)10 bzw. ihre Abweichungen durch die atypischen Beschäftigungsformen resp. einen inhärenten Anpassungsdruck.
- Externe Flexibilität bezieht sich demzufolge auf die Marktanpassung inder Semantik der Atmenden Fabrik und ihrer interpretierten, projizierten„Risiken“zwischen den Unternehmen am Markt (I und II). Dies impliziertschnellere oder kürzere Wechsel, erhöhten Beschäftigungsumschlag11 und individual die entsprechende Anpassung und implizite Unsicherheit anbzw. zwischen Phasen der Arbeit und Nichtarbeit, freiwilliger oderunfreiwilliger Arbeitslosigkeit, Brüche resp. existenzsichernde Absicherungim Einkommen und ggf. Lücken im institutionalisierten Lebenslauf - sowieeinen massiven, inhärenten Interessenkonflikt zwischen Gewerkschaften,Arbeitgebern, Gesetzgeber und Beschäftigten.
Diese Unsicherheiten gilt es, sowohl in der Sozialstaatslogik als auch in derWirtschaftspolitik, zu erkennen und zu kompensieren, um auch fürArbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen eine bestimmte Größe anRechtssicherheit, sozialer Ordnung und Planbarkeit zu gewährleisten (vgl.auch Max Webers Begriffe der „ Ordnung “ und „ Rechtssicherheit “; Weber 20.5. 22fff; 627). Allerdings ist - zumindest in deutscher Perspektive - diese Konstellation sozialer Sicherheit und ermöglichter Flexibilität und Anpassungnicht frei von einer gewissen doppelten Ambivalenz, wie auch Vobrubabetont, „ indem sie die Unternehmen von unternehmensfremden (sozialen) Problemen, insbesondere von der Aufgabe, langfristige Einkommenskontinuität für die Arbeitskräfte herzustellen, entlastet “ (Vobruba2006: 30). Auf der anderen Seite besteht das Risiko, durch ein Mindestmaßan flexibler Struktur erst apostrophierte externe Flexibilität (Feld I)herzustellen, zu fördern und voranzutreiben (Vobruba 2006: 32); oder aber,nach konservativer Sicht, bei hoher sozialer Sicherheit eine „sozialeHängematte“ einzurichten: Die intendierten Absichten drehen sich dann in ihrGegenteil um. Für die politische Realität eines Sozialstaates bedeutet diesgrundlegend eine laufende Reallokation und Modifizierung an dieGegebenheiten des Arbeitsmarktes (die „ Normative Kraft des Faktischen “ ; s. o., UL), eine quasi nachlaufende Sozialpolitik; bzw. Arbeitsmarkt undSozialpolitik müssen bereits vorher zur Vermeidung sozialer Härten, oder -vorsichtig formuliert - Lücken im Regelungsbedarf, klug zusammengedachtwerden. Aus konservativer Perspektive der Arbeitgeber besteht das Problemzumeist in der „Kommodifizierung“ der Individuen. Soll heißen: Ist das„Soziale Netz“ zu eng, ist der monetäre Arbeitsanreiz zu gering(„ Reservationslohn “), sind ergo in der Ökonomie der Arbeitsmarktpolitik dieKosten für soziale Sicherheit zu hoch. Der Diskurs über das Dreieck derBeschäftigungseffekte des Sozialstaates vs. Flexibilität vs. der Anforderungendes Marktes wird in Deutschland und Dänemark hoch ideologisch geführt undzudem durch mediale Inszenierung, Verschlagwortung und politischeInstrumentalisierung zutiefst beeinflusst. Intensivere akademische, politischeund ideologische Diskussionen und Auseinandersetzungen (Lessenich 2008:21fff.) verschiedenster Lager um gegenwärtige Reformen und Verteidigungs- o. Abwehrhaltungen des Sozial- resp. Wohlfahrtsstaates (engl.: „ WelfareState “ - wobei auch schon eine entsprechende Konnotation eine nichtunproblematische Wertung darstellt12 ) können auch hier nicht hinreichend geleistet werden, stellen aber dennoch im Ansatz und insbesondere in der modernen Arbeitsmarkttheorie die gedankliche Hintergrundfolie und dasGerüst dar. Zudem sind Debatten um fiskalische Tragfähigkeit sowieausreichende Anreiz- und Sanktionsmechanismen des Sozialstaates so altwie der Sozialstaat selbst und hier im Grunde wenig fruchtbar.
Betrachtet man die dänische Perspektive, erscheinen ähnliche, aber dennoch andere Phänomene (Frederiksen 2004): „ Das Sicherheitsnetz wird zum Trampolin “ (Bogedan 2005: 15). Die Streitfrage ist dann nur - bildlich gesprochen -, ob man bei der Beschleunigung des Trampolins davonweggeschleudert wird, also herunterfällt, oder ob man im Netz bleibt undquasi turnerisch eine gute Figur macht. Thönnes (2007) äußert sich im Duktusseines maritimen Politmarketing darüber besorgt, dass „niemand über Bordgeht.“ Peter Hansen spricht im Interview pragmatischer und galanter voneinem „Gummiband“: Man kann zwar schnell entlassen werden, bekommtaber auch in der Regel (in Dänemark) schnell wieder einen gleichwertigenJob. Beachtet man die feinen Nuancen zwischen diesen beiden Aussagen,stößt man auf eine ganz unterschiedliche Betrachtungsweise bzw.Interpretation der extrinsisch motivierten „Arbeit um jeden Preis“ vs. derintrinsisch selbstbestimmten Arbeit. In der Tat zeigen internationale Studien,dass der dänische Arbeitsmarkt von hoher Umschlagsfrequenzgekennzeichnet ist (Fink/Tálos 2005), und sich auch kaum ein Däne Sorgenum seinen aktuellen - oder im Falle der Kündigung, seinen nächsten,gleichwertigen - Arbeitsplatz macht (Konle-Seidl 2007; Gangl 2005; Hansen2006a; Fink/Talós 2005; bfai 2007). Wobei die deutsche Perspektive aufArbeitsplatz und Zukunftssorgen bekanntermaßen seit langem deutlichnegativer ausfällt, wie auch die Interviews, zuweilen unterschwellig, zeigen.
Ohnehin scheinen öffentliche und politische Verlautbarungen in Deutschlandzum Thema der Flexicurity eher „entwissenschaftlicht“ bis zuweilen emotionalpopularisiert zu sein, wie auch die Beiträge von Franz Thönnes und OlafScholz zeigen (Thönnes 2007; Scholz 2008). In Dänemark scheint derUmgang seit jeher ein anderer zu sein, indem das Stigma der Erwerbslosigkeit in der Form wie in Deutschland nicht existiert, und entsprechend der leidenschaftliche Diskurs über eine „flexible Anpassung“ o.
ä. gar nicht geführt wird Der Arbeitsmarkt selbst hat in Dänemark nicht die Bedeutung wie in Deutschland.
Man kann entsprechend auch interne und externe Flexibilität, wie auch PeterHansen im Interview, als personengeleitete („ motivative “; Hansen, P.) und alsvon außen herangetragene, strukturelle Veränderung begreifen (Abb. 3).Auch andere Probanten und Literatur unterscheiden zwischen quasipersonellen und strukturellen, erzwungenen Eigenschaften undVoraussetzungen - was immerhin die Perspektive in der gesamtenArbeitsmarkttheorie erheblich determiniert, indem das inhärente, jeweiligeMenschenbild differiert. Auch die Europäische Kommission unterscheidetzwischen quasi personenbezogener und marktbezogener Flexicurity resp.Flexibilität (Europäische Kommission 2007: 7). Diese beiden Pole könnensowohl gesellschaftlich als auch individual durchaus konkurrieren, bestenfallsinteragieren (Abb. 3). Tatsächlich unterscheiden sich in beiden Ländern dieseAusprägungen. Ein interessanter Aspekt ist der Kohorteneffekt dieserUntersuchung, indem die über 50jährigen andere Eindrücke vertreten, sie ausihrer Erinnerung auf vergangene Zeiten und ihrer Genese rekurrieren, als dieum die 30jährigen. Eine statistische Repräsentativität wird hierbei nichtbeansprucht.
Daher stellen hier in dieser Arbeit - im Unterschied zu Vobruba (2006) - die internen Faktoren auch die als die in der Person begründeten („freiwilligen“) und mit ihr quasi korrespondierenden Ursachen und Arrangements dar. Als die externen Faktoren gelten hier die quasi erzwungenen und von außerhalb durch Struktur und fortlaufenden gesellschaftlichen, politischen und technischen Wandel herangetragenen und habitualisierten, internalisierten (Bourdieu) Ursachen und Gründe.
Die Hypothese lautet dabei, dass sich die o. g. Arten und Ausprägungen der Flexibilität zwar in beiden Ländern grundlegend unterscheiden, aber dennochein Ungleichgewicht in der Form existiert, als die von außen herangetrageneexterne Flexibilität aufgrund politsicher Veränderungen maßgeblich dasLeben der Individuen bestimmt. Eine ursprünglich anders gearteteEntwicklung hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Auch hier unterscheiden sichallerdings beide Länder im Fortgang der Entwicklung. Diese Faktoren werdengleichsam hier nicht einzeln diskutiert, sondern stellen als Ganzes dieschematische Grundlage dar.
Abb. 3: Interne und externe Faktoren der Flexibilität; eigene Darstellung
Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten
Als wesentliche Ursache und Auswirkung, quasi als Bauplan einer neuenSozialordnung und der externen Flexibilität - im Spannungsfeld zur internenFlexibilität - in beiden Länder zugleich, muss im Sinne der bereits obenzitierten normativen Kraft des Faktischen die sog. Lissabon-Strategie derEuropäischen Kommission (2000) gelten. Denn alle sechs Interviewpartneräußerten sich deutlich und ebenso eindeutig zum klaren Einfluss der EU undexplizit der Lissabon-Strategie auf ihre Arbeit. Dabei waren die Implikationendurchaus verschieden und lagen, auch bei den Probanten selbst, zwischenvereinzelten Ressentiments, blanker Ablehnung und klarer Zustimmung, auchzuweilen unterschieden nach „dem Bürger auf der Straße“ und der eigenenHaltung, der beruflichen Tätigkeit und persönlichen Meinung. Zuweilen findensich zudem wortgenaue Wiederholungen der supranationalen Vorgaben(resp. „ Entwürfe “, die freilich mehr als das sind!) in der nationalen Politik - inbeiden Ländern! Das macht eine nähere Betrachtung äußerst interessant.
1.1 Die Lissabon-Strategie im Spiegel der Kritik
Am 23./24. März 2000 ist in Lissabon der Europäische Rat zu einer Sondertagung zusammengekommen,
„ um für die Union ein neues strategisches Ziel festzulegen, in dessen Rahmen Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt als Bestandteil einerwissensbasierten Wirtschaft gestärkt werden sollen. “ (Europäischer Rat 2000: 1)
Landläufig wird dieser ca. 20 Seiten umfassende Beschluss als„ Lissabon - Strategie “ bezeichnet, die es zuerst als umfangreichesGesamtkonzept mit den sprichwörtlichen Haken und Ösen zu begreifen gilt.Der Jurist würde hier von allerlei unbestimmten Rechtsbegriffen sprechen, dieerst einer näheren Überprüfung und Definition bedürfen. Bei derLissabon-Erklärung handelt es sich im Schwerpunkt um drei Kernbereiche:
- Die Förderung des Übergangs in eine wissensbasierte Wirtschaft undGesellschaft y Die Modernisierung des europäischen Gesellschaftsmodells y Der Wahrung guter ökonomischer Perspektiven und günstigerWachstumsaussichten durch Anwendung eines geeignetenmakroökonomischen Policy-Mix Ehrgeiziges Ziel dieses Beschlusses war es, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 „ zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraumder Welt zu machen; einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftesWirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem gr öß eren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“ (Europäischer Rat 2000: Ziffer 5).
Bereits 2005 - zur Halbzeit - deutete sich an, dass diese Absicht nicht zu halten sein wird (Caesar/Lammers/Scharrer 2005: 6). Als „längst grandios gescheitert“ bezeichnet André Brie (2008: 21) die von „seriösen Analytikern als illusionär“ eingeschätzten Ziele.
Diese „Lissabon-Strategie“ ist freilich kein statisches Vertragswerk, sondernvielmehr ein durch kontinuierliche Beschlussfassung und Anpassungdynamisches Konzept. Hans-Helmut Kotz spricht von einer„verfahrensmäßigen Innovation“ (Kotz 2005: 13). Was den Rang dieserAgenda betrifft, so wurde zur Durchsetzung ein System gewählt, welches aufSelbstverpflichtung der Mitgliedsstaaten, gekoppelt mit ständigen Vergleichenund gegenseitiger Kontrolle beruht (sog. „ Benchmarks “). Der populäredeutsch-dänische Vergleich bzw. die Orientierung an „guter“, weil in diesem Duktus „erfolgreicher“, dänischer Arbeitsmarkt- u. Sozialpolitik („ Best Practice “; „ von den Besten lernen “) geschieht also keineswegs zufällig. Zudiesem Zwecke des (im Brüsseler Neusprech) „Benchmarking“ treffen sichalljährlich alle Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten undbeschließen auf den so genannten „Frühjahrsgipfeln“ jeden März dieWeiterentwicklung der Lissabon-Strategie. Beschlüsse, die dort gefasstwerden, sind jedoch nicht rechtlich verbindlich; der Europäische Rat besitztallerdings ein Weisungsrecht. Die Ergebnisse werden dann in den„Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ festgehalten, die von den übrigenEuropäischen Institutionen umgesetzt werden. Aus diesen vom Vorsitz desEuropäischen Rates veröffentlichten Schlussfolgerungen lässt sich neben denthematischen Inhalten auch die Reihenfolge der Beschlüsse13 leichtnachvollziehen. Dazu müssen jedoch auch Kontext und Chronologie desEuropäischen Prozesses, „die Finalität der Europäischen Integration“ (Fischer2000) und die viel strapazierte Formel der „Einheit durch Vielfalt“ insgesamtberücksichtigt werden. Wobei schon dort die erste intellektuelle Fußangelliegt. Denn unter welchen Voraussetzungen diese Konstellation der „Einheit“stattfindet, bleibt zumeist eher freie Interpretation. Auch ist die vielbeschworene Formel des „Europäischen Sozialmodells“, das sich lautThönnes (2007) - hier als Protagonist des Diskurses - aus mehrerenMerkmalen speist und als typisch für alle Mitgliedsstaaten und damit alseuropäisch identifiziert werden kann, eher eine Illusion und ein politischerWunsch bzw. eine allgemeine Leerformel, die ein intendiert gemeinsamVerbindendes wie die Beschäftigungsstrategie, Arbeitsmarkt und eine Aktivierende Sozialpolitik und ihre „unternehmensfreundlichen Rahmenbedingungen“ erst legitimieren (Altvater/Mahnkopf 2007; Kaelble 2007). Zu unterschiedlich waren und sind neben der nationalen undpolitischen Historie der einzelnen Länder die nationalen Systeme, ihrefiskalische Leitungsfähigkeit; und allein die kartographische und politischeGeographie Europas stellt die Experten vor Herausforderungen (Kaelble Zu finden sind diese, ca. 60 Papiere, (1993 - 2009) unter: http://europa.eu/european_council/conclusions/index_de.htm. Neben den Beschlüssen im Rahmen der„Frühjahrsgipfel“ wurden allerdings auch Neuregelungen auf anderen Treffen des Europäischen Rates zurAnpassung der Lissabon-Strategie beschlossen. So z.B. im Juni 2001 in Göteborg, 2005 und 2006 in Brüssel (undim Detail weitere; UL). Die zentralen Punkte der Lissabon-Strategie finden sich in der Beschäftigungspolitik. 2007).
Die Beschlüsse und Intentionen, insbesondere hier „ Lissabon “, entstehen undentstanden freilich nicht im politischen Vakuum, sondern sind, will man einenzeitlich, epochal-historischen und politischen Anfangspunkt suchen, bereits imJuni 1993 aufgrund gesellschaftlicher Umbrüche (wie den Fall der BerlinerMauer 1989 und der Implosion des Ostblocks und des Warschauer Paktesund damit der Erosion der Systemalternative etc.) - letztlich auch auf Initiative der OECD von 1994 (Sesselmeier/Somaggio 2009) - in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes in Kopenhagen angestrebt worden, freilichauch wiederum im Rückgriff auf „ Maastricht”, 1992. Ferner ist dieBeschäftigungsstrategie der EU, einer der gedanklichen Schwerpunkte derLissabon-Strategie, bereits im Juni 1997 in Amsterdam beschlossen und imNovember in Luxemburg konkretisiert worden. Dennoch stellt dieAmsterdam-/Luxemburger Erklärung von 1997 im Bereich der Arbeitsmarkt- u.Beschäftigungspolitik „ das zentrale Instrument zur Schaffung `aktiverer ´ nationaler Wohlfahrtsstaaten dar …“ (Eichhorst 2005: 209). Kotz betont, dasses sich bei der Lissabonner Erklärung eindeutig um eine angebotsorientierte Politik handelt, indem Rigiditäten abgebaut, somit externe Flexibilität undProduktivität der europäischen Wirtschaften erhöht werden müssen, um „ den Wohlstand der Europäer zu erhöhen “ (Kotz 2005: 13). Altvater verweistdarauf, dass die Lissabonstrategie auf die Initiative eines großenLobbyverbands der Industrie (ERT; European Roundtable of Industrialists) inBrüssel zurückgeht, der 1995 (!) eingesetzt wurde, der die Implementierungder Lissabonstrategie auf politischer Ebene im Jahre 2000 als großen Siegüber die Vormachtstellung der US-Industrie feierte (Altvater/Mahnkopf 2007:125). Insofern beachtlich, als auch der Bericht der Hartz-Kommission 2002von Vertreten der Industrie verfasst wurde und damit die eindeutige Intentionund Perspektive sichtbar wird. Als fragwürdig - aus Perspektive der kritischenSozialwissenschaften - können daher das Menschenbild sowie dasökonomische Modell gelten, das der daraus hervorgehendenArbeitsmarktpolitik von 1997 zugrunde liegt. Die gewerkschaftliche undpolitische Linke insgesamt hält die soziale Komponente der EuropäischenKommission für ein reines Lippenbekenntnis (Forum Soziales Europa,undatiert: 7). Deutliche Zustimmung übrigens zu der Frage, ob und inwiefern Europa, „Lissabon“ und die EU ein wichtiger Gegenstandsbereich ihrer Arbeit und ihres Umfeldes, ihrer Mitbürger ist, findet sich auch bei nahezu allen interviewten Experten, „… wenn auch nicht bei Opa am Küchentisch ( …)“. Gleichwohl taucht „Europa“ in den Interviews öfter auf: stets sowohl als beliebte Adresse des Volkszorns über Banalitäten („ Die Post kommt samstags nicht mehr “), als auch als Disziplinierungsgrund für allgegenwärtige Budgets der Wissenschaft, der Forschung, der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung. Was auch nicht völlig unbegründet erscheint.
Die Funktionsfähigkeit von Arbeits-, Kapital- u. Gütermärkten soll gestärktwerden. Formulierungen, die übrigens auch in solcher Intonation für die vielzitierte „ Wissensgesellschaft “ gelten (Welfens 2005), und nicht mit dem Begriffeiner emanzipatorischen, humanistischen Bildung verwechselt werdensollten.14 Der Europäische Rat formuliert es eindeutig als „Vollendung desBinnenmarktes“ (Europäischer Rat 2000: Ziffer 5), und sieht seine Strategieals Resultat und Herausforderung der Globalisierung15 zugleich, die sich „ auf jeden Aspekt des Alltagslebens der Menschen “ auswirken und „ eine tief greifende Umgestaltung der europäischen Wirtschaft “ erfordern (EuropäischerRat 2000: Ziffer 1). Allzu viele Bedenken über die „Bewältigung desStrukturwandels“ hat die EU kaum, da es “in der Union ( … ) eine im allgemeinen hoch qualifizierte Erwerbsbevölkerung sowie Systeme des sozialen Schutzes (gibt), dieüber ihren eigentlichen Zweck hinaus ( … ) einen stabilen Rahmen abgeben ” (Europäischer Rat 2000: Ziffer 3), so der (in sich widersprüchliche, tautologische) Wortlaut der Europäischen Kommission. Gleichwohl werden die „Schwächen der Union“ erkannt, indem bemängelt wird, dass:
- mehr als 15 Millionen Europäer arbeitslos sind,
- die Beschäftigungsrate insgesamt zu niedrig ist,
- und sich diese durch eine ungenügende Erwerbsbeteiligung vonÄlteren und Frauen kennzeichnet.
Damit steht diese Eigenkritik im direkten Zusammenhang mit denbeschäftigungspolitischen Leitlinien und ihren Unterzielen von 1998(Amsterdam/Luxemburg 1997), in denen eine Anhebung der Quoten umjeweils drei Prozentpunkte gefordert wurde. Kern ist „ das Motiv der Aktivierung durch eine Erleichterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt “(Eichhorst 2005: 210). Ziel und Hintergrund waren und sind jedoch wenigeranthroposophische, anthropologische Ideale zur “beruflichen Teilhabe alssozialer Bestandteil” (Schulz 2007), als viel mehr die vor dem Hintergrund des demographischen Wandels resultierenden und projizierten makroökonomischen Probleme der Finanzierbarkeit der sozialenSicherungssysteme16 und die als zu gering erachteten Lohnabständezwischen Reallöhnen und Transferleistungen (“Beschäftigungsanreiz “;„ Soziale Hängematte “; „ Reservationslohn “) sowie vielfältige Gründe zurerschwerten Beschäftigungsaufnahme wie die mangelnde Integration Niedrigqualifizierter und von Frauen durch fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder die zu starren Arbeitsmarktsegmentationen (Eichhorst 2005: 211).
[...]
1 Diese Arbeit kann als gedankliche und schematische Fortführung meiner Diplomarbeit betrachtet werden. 2006schrieb ich unter dem Titel „ Intensivierung durch Flexibilisierung - Neuere Tendenzen der Flexibilisierung und ihreKonsequenzen für Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnisse “ eine grundlegende Betrachtung zu denaktuellen wichtigen Problemen des Strukturwandels der Arbeitsbeziehungen und Arbeitbedingungen, in derenFokus veränderte marktliche Rahmenbedingungen und betriebliche Strategien der Ausbreitung einerFlexibilisierung auf verschiedensten Ebenen stehen (Univ. Hamburg; Fakultät WiSo; DWP; veröffentlicht 2006).
2 Die Zahl der Erwähnungen des Wortes, des Kontextes und Begriffes der Flexibilität in der medialen Öffentlichkeit und in Publikationen aller Art, in der Wissenschaft und Wirtschaft, in Werbung, Presse, Funk und Fernsehen, im allgemeinen Sprachgebrauch, dürfte mittlerweile nahezu unüberschaubar sein.
3 *1851 ###1911; Rechtsgelehrter und Staatsrechtler des Heidelberger Kreises der Jahrhundertwende um MaxWeber, der diesen Begriff prägte, indem er formulierte, dass durch das "Faktische", die Faktizität, aufgrund vonStabilitätsüberlegungen eines Gemeinwesens die "Norm", Rechtssprechung und Denkschule der Realitätangepasst werde. Vergleichbar äußert sich Marx in seiner Dialektik vom Sein, dass das Bewusstsein beeinflusse.
4 Darunter wird landläufig im Kern der Ausdruck einer quasi solidarischen, sozialdemokratischen Leitkultur eineshistorischen Gewichts kollektiver, demokratischer Arbeitsbeziehungen von Arbeit und Kapital in Verbindung mithohen sozialen Produktivitätsfortschritten verstanden, die ganz Skandinavien (Dänemark, Schweden, Norwegen
5 Vortrag von Franz Schultheis am 28.1.09 im Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) zum Thema Flexibilität - Prekarität: Zwei Gesichter der Unternehmensmodernisierung; der den Ursprung des Begriffs imRückgriff auf Boltanski/Chiapello (2005) eindeutig der betrieblich orientierten Management-Literatur und ihrerinhärenten Verwertungslogik („ Humankapital “) zuschreibt, und diese nicht, wie h.M. „ eine nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit “ (Kriegesmann; et al. 2005) auf positiv individualer und sozialer Ebene darstellt. Als„Neologismus vieler Glaubenssätze der Marktreligion“ bezeichnet Moldaschl die Empoyability (Moldaschl, 2006: 62f.). Greinert verweist darauf, dass es im deutschen Diskurs noch gar keine Übereinstimmung zu diesem Begriffder Employability gibt (Greinert 2008; 9fff.).
6 Die Wortschöpfung „ Flexicurity “ geht zurück auf die politische Debatte, die Mitte 1990er Jahre in denNiederlanden (Werner 1997) geführt wurde. Auf der politischen Ebene der Europäischen Union wurde der BegriffEnde der 1990er-Jahre eingeführt. In der sozialwissenschaftlichen und politischen Debatte hat sich der Begriff alsquasi feste Größe etabliert. Dahinter steht die Idee bzw. der Versuch, die vielfach geforderte Flexibilität amArbeitsmarkt und in der Beschäftigung (engl. flexibility) mit sozialer Sicherheit (engl. security) zu verbinden.
7 1993 - 2005 Arbeitsdirektor und Personalvorstand der Volkswagen AG; 2002 im Auftrag der Bundesregierungmaßgeblich an den Vorschlägen der (sog.) Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierungder Bundesanstalt für Arbeit beteiligt. Bereits 2003 wurde von Juristen des Sozialrechts kritisiert, dass dieEinbringung betriebswirtschaftlich orientierter Managementideen in ein ihr fremdes, da öffentlich-rechtliches undsozialrechtliches und makroökonomisches Feld der Arbeitsmarktpolitik mittels „Wortgeklingel“ keine neuenArbeitsplätze schaffe, keine neue Realität und kein neues Denken begründen könne (Rixen 2003; Spellbrink2004).
8 Aus dieser Gesamtmenge errechnen sich hochkomplex die Erwerbsquote, die Erwerbstätigenquote undArbeitslosenquoten der einzelnen Segmente, die auch selbst oft genug Gegenstand der oppositionellen Kritik in Presse und Wissenschaft sind.
9 Sie wird hier aus Gründen der besseren Lesbarkeit nicht abgebildet. Sie kann auch alseigener Gegenstandsbereich der hier nicht weiter erörterten Ökonometrie betrachtet werden.
10 Hierunter verstanden wird landläufig ein bestimmtes Arbeitszeitregime (i. d. R. betrieblich gebundener 8-Stunden-Tag, mit arbeits- u. tarifrechtlichen Schutzrechten und i. d. R. 5-Tage-Woche), das die dauerhafte berufliche, soziale Absicherung durch Kontinuität und Stabilität bis zur Erreichen der gesetzlichen Altersrente ermöglicht und in konservativen Modellen zumeist am männlichen Haushaltsvorstand und Facharbeiter und den Arten des schulischen und akademischen Bildungskapital orientiert ist.
11 Fink/Tálos (2005) sprechen hier von den wesentlichen Indikatoren der Job-Reallokationsraten vermittelsArbeitskräfteumschlag („ labour-turnover “) durch freiwillige oder unfreiwillige Arbeitsplatzwechsel und ggf. demRisiko der Arbeitslosigkeit und dem Arbeitsplatzumschlag („ job-turnover “), dem gesamtwirtschaftlichen Wegfallund der Neuschaffung von Arbeitsplätzen. Beide Faktoren erhöhen in unterschiedlicher Art und Weise das Risikoder Arbeitslosigkeit.
12 Obgleich auch schon die präzise Definition eines „ Welfare State “ und der deutschen Übertragung„Wohlfahrtsstaat“ resp. „Welfare“ selbst, wie alle sozialen Phänomene der Normativität des Faktischen unterliegt,wie, neben Lessenich (2008) auch Barr (1993: 6f.) betont: „ Welfare derives from many sources in addition to state activity: individual welfare derives not only, nor necessiarly primarly, from the state institution, but from at least four sources. (..) “ Ganz abgesehen von der Historizität und den Zielen eines Welfare State (s. dazu auch: Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage; Konstanz; 2008).
13 Zu finden sind diese, ca. 60 Papiere, (1993 – 2009) unter: http://europa.eu/european_council/conclusions/index_de.htm. Neben den Beschlüssen im Rahmen der „Frühjahrsgipfel“ wurden allerdings auch Neuregelungen auf anderen Treffen des Europäischen Rates zur Anpassung der Lissabon-Strategie beschlossen. So z.B. im Juni 2001 in Göteborg, 2005 und 2006 in Brüssel (und im Detail weitere; UL). Die zentralen Punkte der Lissabon-Strategie finden sich in der Beschäftigungspolitik.
14 Lammers, U. (2008): Mythos Wissensgesellschaft? Eine begriffliche Auseinandersetzung mit europapolitischen Idealen: “Wissen wird in der Lissabon-Strategie einzig alsökonomische Konstante, die Kapitalbildung und Direktinvestitionen anzieht, begriffen. Neue Informations- u. Kommunikationsmärkte werden als infrastrukturelle Basis akzeptiert, die für sich genommen jedoch kein neues Wissen generieren. Wissensgesellschaften dieser Form dienen dem Konsum einzelner Artefakte, nicht aber der intellektuellen Emanzipation.” (Univ. Hamburg unveröffentlicht, ; 29.9.2008. Siehe auch Nico Stehr mit seiner grundlegenden Kritik: Wissen und Wirtschaften (2001); Wissenspolitik (2003); Frankfurt/M.
15 Kaum eine Vokabel wird derzeit mehr strapaziert als die der Globalisierung, und doch bleibt sie dabei stets imUnbestimmten. Heribert Saldik (2004: 6) definiert die Globalisierung „ als Intensivierung der weltweiten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen aufgrund der technologischen Entwicklung in den Bereichen Information, Kommunikation und Transport, sowie der diesbezüglichen Kostensenkungen “, die seitMitte der 1980er Jahre erkennbar ist, und dabei keineswegs eine Aufhebung der national-souveränen Staaten,ihrer Grenzen oder der Nationalstaaten insgesamt bedeute. Als „Hebel zur Durchsetzung neoliberaler Politik“bezeichnet Giegold (2006: 106f.) diese Vokabel, die dennoch aufgrund etlicher Marktdefizite in Erklärungsnotkommt.
16 Gleichwohl muss aus Sicht der kritischen Sozialwissenschaften bedacht werden, dass die Probleme quasihausgemacht sind und kein Naturgesetz darstellen. Das WSI widmet der Frage der „Zukunft derSozialversicherung und der Sozialversicherung der Zukunft“ ein ganzes Themenheft, in dem die Anpassung anneue Erwerbsverläufe und Demographie als sehr wohl und recht unproblematisch durchführbar gilt (WSI 2009).
- Arbeit zitieren
- Dr. Uwe Lammers (Autor:in), 2009, Flexicurity. Faktoren interner und externer Flexibilität im deutsch-dänischen Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444141
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