Zur Ätiologie von Lernbehinderung und ihren Auswirkungen auf sonderpädagogische Förderung


Examination Thesis, 2018

89 Pages, Grade: 1,33


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zur Begriffsbestimmung von Lernbehinderung
2.1 Kernsymptome und Kriterien zur Feststellung
2.2 Die Klassifikationssysteme
2.2.1 Lernbehinderung nach ICD-10
2.2.2 Lernbehinderung nach DSM-V
2.3 Abgrenzung zu verwandten Begriffen
2.4 Komorbiditäten und Differentialdiagnostik
2.4.1 Lernbehinderung und Verhaltensprobleme
2.4.2 Lernbehinderung und Aggression
2.4.3 Lernbehinderung und Angst
2.4.4 Lernbehinderung und AD(H)S
2.4.5 Teilleistungs- und kombinierte Störungen als Differentialdiagnose
2.5 Prävalenz
2.6 Mögliche Auswirkungen und Folgestörungen

3 Die Ätiologie von Lernbehinderung
3.1 Ein entwicklungspsychologischer Ansatz
3.2 Das Resilienzkonzept
3.2.1 Zum Begriff Resilienz
3.2.2 Die Risiko- und Schutzfaktoren
3.2.2.1 Die Vulnerabilität
3.2.2.2 Personale Faktoren
3.2.2.3 Der familiäre Faktor: Das häusliche Umfeld
3.2.2.4 Der institutionelle Faktor: Die Schule
3.2.3 Weitere Determinanten aus der Umwelt
3.2.3.1 Der sozio-ökonomische Status
3.2.3.2 Der Migrationshintergrund
3.3 Psychologische Erklärungsmodelle

4 Frühförderung von Risikokindern
4.1 Was bedeutet Frühförderung?
4.2 Die allgemeinen Prinzipien der Frühförderung
4.3 Möglichkeiten der Frühförderung

5 Förderung von Schülern mit dem FS Lernen
5.1 Differenzierungsformen
5.1.1 Äußere Differenzierung
5.1.1.1 Das deutsche Schulsystem
5.1.1.2 Die Differenzierung nach Unterrichtsformen
5.1.1.3 Differenzierung durch Förderunterricht
5.1.2 Innere Differenzierung
5.1.2.1 Die natürliche Differenzierung
5.1.2.2 Binnendifferenzierung nach Wember
5.2 Möglichkeiten der Förderung im Unterricht
5.2.1 Prinzipien der Förderplanung und -arbeit
5.2.2 Die Förderung von Schutzfaktoren
5.2.3 Die Förderung von Kognition
5.2.4 Der Nachteilsausgleich

6 Diskussion

Anhang

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Wie fühlt sich ein Kind, dass (sic!) jeden Tag lernt und lernt und trotzdem die allgemeinen Anforderungen nicht erfüllt? Was soll ein Schüler tun, wenn er die Unterrichtssprache nicht versteht, sich von der Lehrperson herab gesetzt (sic!) fühlt, wenn alles zu schnell geht? […] Wie fühlt es sich an, von Gleichaltrigen als Dummschüler oder Idioten bezeichnet zu werden? Wie hält man es aus, wenn im Zusammenhang mit der Zuweisung eines Sonderstatus soziale Kontakte weg brechen (sic!)? […] Wie fühlt sich Lernbehinderung an? Fragen, die nicht direkt Betroffene kaum beantworten können. (Orthmann, 2004, S. 9)

Die einleitenden Fragen, die Orthmann verfasst hat, geben eindrücklich wieder, wie komplex das Phänomen Lernbehinderung ist. Sie geben ebenso einen ersten Eindruck, mit welcher Thematik sich diese Arbeit hauptsächlich befasst: Dem Terminus Lernbehinderung, Auswirkungen, Einflussfaktoren, Resilienz und Förderung.

Denn Schwierigkeiten im Lernen kann jeder bekommen und hat die Mehrheit bereits erfahren. Allerdings gelingt es meistens, Lernschwierigkeiten zu bewältigen, sodass diese nur vorübergehend und bereichsspezifisch auftreten. Die Lernprobleme, die sich aber manifestieren, können persistieren und sich bis zu einer Lernbehinderung weiterentwickeln (Werning & Lütje-Klose, 2012, S. 14). Auch im Erwachsenenalter können Lernprobleme weiter bestehen bleiben und in verschiedenen Lebensbereichen Unterstützung bedürfen (Heimlich, 2009, S. 13-14).

Der Begriff der Lernbehinderung kam in den 1960er Jahren auf (Wüllenweber, 2004, S. 77) und ist der Versuch den Termini der geistig Schwachen und Schwachsinnigen zu entfliehen (Schröder, 2005, S. 41). Doch in der Literatur besteht kein Konsens über die Begriffsbestimmung, sodass gegenwärtig noch keine Benennung gefunden wurde, die nicht in einer Weise stigmatisierend ist und sich durchsetzen konnte (Kretschmann, 2007, S. 5-6). Mit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich seit 1999 der Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs etabliert, der den Wechsel von einem defizitorientierten Begriff zu einem ressourcenorientierten Begriff bewältigen soll (Wember, Stein & Heimlich, 2014, S. 52).

Einen Wandel bringen gegenwärtig auch die Inklusionsdebatten mit sich, die ebenfalls seit Jahren geführt werden und die Problematik der Lernbehindertenpädagogik aktuell hält. Denn mit der Problemstellung, wie didaktisch und methodisch dem inklusiven Unterricht begegnet werden soll (Wember, 2013, S. 380), entsteht gleichzeitig die nächste Problemlage: Lernschwierigkeiten scheinen ständig zu wachsen und demzufolge kommt die Frage nach den Ursachen für diese Entwicklung leicht auf (Matthes, 2009, S. 11).

Hieraus ergibt sich, dass die vorliegende Arbeit der Frage nachgeht, welche Determinanten die Genese einer Lernbehinderung beeinflussen können und welche Möglichkeiten der Prävention und Intervention die Sonderpädagogik bietet.

Es soll zuerst die Frage beantwortet werden, wie das Störungsbild einer Lernbehinderung aussieht. Hierzu werden im zweiten Kapitel die Kernsymptome einer Lernbehinderung geschildert sowie die Kriterien, die für eine Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vorliegen müssen. Anschließend wird Bezug genommen auf die Klassifikationssysteme und deren Beschreibungen hinsichtlich Problemen im Lernen. Durch die verschiedenen Termini der Ausprägungsgrade von Lernschwierigkeiten, die von verschiedenen Autoren verwendet werden, wird hierauf in einem separaten Abschnitt eingegangen. Diesbezüglich soll der Hinweis gegeben werden, dass diese Arbeit überwiegend den Begriff Lernbehinderung verwendet, um keine Verharmlosung der Störung (Schröder, 2005, S. 87) zu signalisieren. Betreffen Aspekte auch leichtere Ausprägungsgrade, so wird auf die Bezeichnung des jeweiligen Autors ausgewichen. Im nächsten Abschnitt werden mögliche Komorbiditäten vorgestellt, gefolgt von Angaben über die Prävalenz von Lernbehinderung. Im letzten Abschnitt werden die Auswirkungen thematisiert, die diese Störung auf den Betroffenen haben kann.

Das dritte Kapitel widmet sich den Facetten der Ätiologie von Lernbehinderung und ist in mehrere Unterkapitel und Abschnitte gegliedert, um die jeweiligen Aspekte bestmöglich auseinander zu halten. Zu Beginn wird der entwicklungspsychologische Ansatz thematisiert und diesbezüglich auf den Begriff der Erblichkeit eingegangen sowie auf Einflussfaktoren aus der Umwelt. Das nächste Unterkapitel beschäftigt sich mit dem Resilienzkonzept, welches ebenfalls in der Genese von Lernbehinderung eine Rolle spielt. In diesem Rahmen wird zuerst der Begriff Resilienz erläutert und anschließend auf die Resilienzforschung Bezug genommen. Danach werden mögliche Risiko- und Schutzfaktoren, die die Entstehung einer Lernbehinderung begünstigen bzw. abwehren können, differenziert und in einzelnen Abschnitten erklärt.

Im vierten Kapitel liegt der Fokus auf der Frühförderung, die in ihrer Begrifflichkeit erörtert wird und dann ihre Prinzipien aufgezeigt werden. Hierauf werden auf die Möglichkeiten von Frühförderung und deren Umsetzung eingegangen.

Die Förderung von Schülern[1] wird nachfolgend im fünften Kapitel behandelt. Zuerst werden die Differenzierungsformen in den Blick genommen und hier zwischen der äußeren und inneren Differenzierung unterschieden. In dem Zusammenhang der äußeren Differenzierung wird kurz auf das deutsche Schulsystem eingegangen, bevor die Differenzierung nach Unterrichtsformen sowie durch den Förderunterricht erläutert wird. Im Zuge der inneren Differenzierung wird zunächst die natürliche Differenzierung näher betrachtet und im Anschluss daran die Binnendifferenzierung nach Wember (2013). Ebenfalls im fünften Kapitel sind Fördermöglichkeiten genannt, die im Unterricht Berücksichtigung finden können. Hierunter fällt z.B. die Förderung der Kognition als Schutzfaktor.

Das letzte Kapitel greift die Fragestellung dieser Arbeit nochmal auf und fasst in dem Rahmen die bedeutendsten Aspekte zusammen. Anschließend wird auf die Diskussion übergeleitet, die Kontroversen der beschriebenen Thematiken behandelt. Abschließend wird ein kurzer Ausblick auf ein künftiges Forschungsfeld geboten.

2 Zur Begriffsbestimmung von Lernbehinderung

2.1 Kernsymptome und Kriterien zur Feststellung

Eine Lernbehinderung ist multifaktoriell bedingt und hat dennoch Kernsymptome, die eine solche Störung aufweist sowie weitere Merkmale, die zwar häufig mit einhergehen, jedoch kein hinreichendes Kriterium darstellen. Letzteres betrifft den IQ, der häufig als ein Hauptkriterium zur Feststellung herangezogen wird, aber nur eine mögliche Ursache von vielen darstellt und nicht kausal zu betrachten ist (Löser, 2013, S. 15). Trotzdem wird die Intelligenz als wichtiger Faktor konsultiert, um Schulleistungen begründen zu können (Schröder, 2005, S. 137).

Es bestehen drei Kernsymptome einer Lernbehinderung, die maßgeblich sind und kurz erläutert werden: die Beeinträchtigung ist schwerwiegend, umfänglich und lang- bzw. überdauernd. Schwerwiegendes Lern- und Leistungsversagen bedeutet, dass gravierende Defizite in allen drei Grundfähigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen bestehen, die basale Fertigkeiten betreffen. Umfänglich meint, dass mehrere Fächer betroffen sind und somit eine deutliche Abgrenzung zu Teilleistungsstörungen geschaffen wird. Das Lern- und Leistungsversagen tritt zudem überdauernd auf, sodass ein längerer persistierender Zeitraum im Fokus steht und die Lernschwierigkeiten nicht durch vorübergehende Ereignisse begründet sind, die kurzfristig negativen Einfluss nehmen. Das heißt, die Lernrückstände weisen mehrere Schuljahre auf und vergrößern sich kontinuierlich (Löser, 2013, S. 16-17). Der Autor verdeutlicht das Ausmaß der drei Hauptkriterien mit der Ergänzung von Kennzeichen, „dass ein Erreichen der allgemeinen Lernziele unmöglich erscheint und darüber hinaus keine Perspektive besteht, dass diese Rückstände irgendwann wieder aufgeholt werden können“ (Löser, 2013, S. 17).

Ein weiteres Merkmal besteht in der Problematik, Lernschwierigkeiten zu bewältigen, denn diese können in dem Fall nicht selbstständig gelöst werden, sodass zusätzliche sonderpädagogische Förderung von Nöten ist (Heimlich, 2009, S. 29). Mit einher gehen „häufig Probleme in der Steuerung des Lernprozesses, in der Handhabung von Lernmethoden und in der Strukturierung einer Lernsituation (Probleme beim Lernen des Lernens)“ (Heimlich, 2009, S. 33). Diesbezüglich nennt Löser (2013) einige Aspekte, wie die fehlende oder eingeschränkte Konzentration, mangelhafte rezeptive Fähigkeiten, Probleme mit dem Langzeitgedächtnis, mit Transferleistungen, mit der Lernorganisation und/ oder ein mangelndes Fähigkeitsselbstkonzept (S. 16).

Es lässt sich festhalten, dass eine Lernbehinderung ein Lern- und Leistungsversagen in der Schule nach sich zieht und als Passungsproblem zwischen individueller Ausgangslage und den Anforderungen, die bewältigt werden müssen, betrachtet werden kann. Die individuellen Voraussetzungen sind es, die das Konstrukt der Lernbehinderung so heterogen machen (Orthmann, 2004, S. 9-10). Das Passungsproblem bezeichnet die Autorin als „Asymmetrie von innerer und äußerer Realität“, welches eine Diskrepanz zur Folge hat, die ein Nährboden für Lernschwierigkeiten jedes Ausprägungsgrades darstellt (Orthmann Bless, 2006, S. 26).

Konkret benennen Mähler, Hasselhorn & Grube (2008) solche Lebenssituationen, die ein Passungsproblem darstellen und folglich Lernschwierigkeiten begünstigen. Hierunter fallen belastende Ereignisse wie ein Wohnortwechsel, der Wegfall wichtiger Bezugspersonen oder die Auflösung der elterlichen Partnerschaft (S. 416).

Nach einer Definition von Werning und Lütje-Klose (2012) ist eine Lernbehinderung kein individueller Defekt, sondern das Resultat von Interaktionsprozessen zwischen der Person und ihrer sozialen Umwelt und ihrem Umfeld. Durch ungünstige Sozialisationsprozesse, die durch erschwerte Lebensbedingungen in Wechselwirkung mit soziokulturellen Gegebenheiten stehen, wird eine Lernbehinderung begünstigt oder gar hervorgebracht (S. 70).

Die Benennung einer Beeinträchtigung führt dazu, dass daraus Bedürfnisse abgeleitet werden, die schließlich im schulischen Kontext zu einem Förderbedarf führen, ohne diesen keine Maßnahmen eingeleitet werden (Schröder, 2005, S. 85). Die Problematik dieser Richtlinie wird in der Diskussion am Ende dieser Arbeit zur Sprache kommen. Ein Anspruch auf sonderpädagogische Förderung wird laut Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen (VOSB) mithin nur stattgegeben, wenn ohne die Erfüllung des Anspruchs die Schulleistungen erheblich gefährdet und sonder- bzw. förderpädagogische Maßnahmen der Schule ausgeschöpft sind. Zu Grunde liegen muss außerdem eine umfassende und lang andauernde Beeinträchtigung des Schülers, welche sich auf die Schulleistungen negativ auswirkt (§ 8 Abs. 1 S. 1 VOSB). Im Entscheidungsprozess müssen also die Risiko- und Schutzfaktoren, der individuelle Lernfortschritt und die bisherigen Fördermaßnahmen gegenübergestellt werden, um herauszufinden, ob es eine positive Entwicklung gibt und in welchem Rahmen sich diese bewegt (Matthes, 2009, S. 194-195). Die Diagnose kann bis zu sechs Monate auf Probe gestellt werden (Eggert, 2007, S. 107). Die Feststellung kann von der Schule, den Eltern direkt oder anderen Fachdiensten beantragt werden. Benötigt werden eine Verlaufsdiagnostik, eine Kind-Umfeld-Analyse, die individuelle Lernausgangslage und der Entwicklungsstand. Außerdem ist ein Förderplan mit entsprechenden Fördervorschlägen inklusive Umfang vorzulegen, Dauer und Lernort. Involviert werden hier die Schulaufsicht, Lehrkräfte, Förderschullehrkräfte und die Eltern des Kindes. In besonderen Fällen kann eine medizinische sowie psychologische Diagnostik erforderlich sein (KMK, 1999, S. 6-7).

Bezogen auf den Förderschwerpunkt Lernen (FSL) heißt das, dass erhebliche und lang andauernde Lernbeeinträchtigungen nicht durch vorbeugende Maßnahmen der Schule ausreichend gefördert werden können, um die Lernziele der allgemeinen Schule zu erreichen. Schüler, die einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen diagnostiziert bekommen, erhalten einen eigenen Bildungsgang, der mit einem berufsorientierten Abschluss endet und als Vorbereitung für die Arbeitswelt dient (§ 7 Abs. 7 S. 1-2 VOSB). Damit verbunden ist ebenfalls, dass im Förderschwerpunkt Lernen, ebenso wie im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, lernzieldifferent unterrichtet wird (§50 Abs. 2 S. 1 HSchG). Somit soll sichergestellt werden, dass sich die Förderung an den gegebenen individuellen Möglichkeiten orientiert und ein Abschluss gewählt wird, der erreicht werden kann. Hierfür wird ein Lernort gewählt, der den individuellen Bedarf an Förderung leisten kann sowie die Identitätsentwicklung bestmöglich unterstützt. Durch handlungsorientierten Unterricht mit Lebensweltbezug soll der Schüler auf zukünftige Berufsanforderungen und die gesellschaftliche Eingliederung vorbereitet werden (KMK, 1999, S. 9-12).

Es muss abschließend festgehalten werden, dass es keine allgemeingültige Definition einer Lernbehinderung gibt, da verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, die unterschiedliche Merkmale und Ausprägungsgrade hervorbringen (Löser, 2013, S. 14).

Um eine weitere Sichtweise auf das Phänomen Lernbehinderung zu erhalten, wird der Blick nun auf die medizinische Perspektive gerichtet, auf die im nächsten Abschnitt Bezug genommen wird.

2.2 Die Klassifikationssysteme

Für die Diagnostik von Krankheiten und Störungsbildern ist es erforderlich, dass diese mit ihren Symptomen und Ausprägungen einheitlich beschrieben werden, damit die Klassifikation international Anwendung finden kann. Viele Klassifikationssysteme sind den psychischen Störungen zugeschrieben, beinhalten aber teilweise ebenso anderweitige Krankheiten und Entwicklungsstörungen. Obwohl die Lernbehinderung als solche keine Kategorie eines Klassifikationsschemas erfüllt, sollen dennoch ihre Darstellung bzw. verwandte Begrifflichkeiten vorgestellt werden. Hierfür wurden zwei Klassifikationssysteme herausgegriffen, die eine Lernbehinderung teilweise berücksichtigen.

2.2.1 Lernbehinderung nach ICD-10

Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM) ist eine amtliche Diagnoseklassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die verschiedene Krankheiten und Störungsbilder aufführt und ihre Symptome bzw. Erscheinungsformen beschreibt. Relevant ist hier das Kapitel V ‚Psychische und Verhaltensstörungen‘, worunter u.a. die Entwicklungsstörungen fallen, die wiederum differenziert sind von F80-F89. Die hierunter aufgeführten Störungen sollen spezifische Gemeinsamkeiten aufweisen: Die Störung beginnt im Kindesalter, die Entwicklung zentraler Funktionen ist eingeschränkt oder verzögert und der Verlauf ist stetig, d.h. ohne vollständige Genesung oder Rückfälle. Mit Betrachtung der Kategorie F81 ‚Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten‘ lässt sich feststellen, dass die Lernbehinderung keine eigene Kategorie einnimmt, sondern unter der Unterkategorie F81.9 ‚Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, nicht näher bezeichnet‘ genannt wird. Außerdem werden die Begriffe Lernstörung und Störung des Wissenserwerbs erwähnt mit jeweils dem Zusatz o.n.A. (ohne nähere Angabe). Die Lernbehinderung taucht demnach als Begriff in der ICD-10 zwar auf, wird aber weder definiert, noch beschrieben (BMG, 2018).

2.2.2 Lernbehinderung nach DSM-V

Das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM-V) ist ein Klassifikationssystem, welches verschiedene Störungsbilder aufzeigt, diese ihren Symptomen nach beschreibt, Diagnosekriterien vorgibt und Hinweise für eine Differentialdiagnostik liefert. Auch hier erfährt der Terminus Lernbehinderung keine Berücksichtigung. Dennoch ist die spezifische Lernstörung aufgeführt, die Beeinträchtigungen beim Lesen, Schreiben und Rechnen differenziert. Es sind sechs Symptome beschrieben, von denen mindestens eines seit sechs Monaten bestehen muss. Weitere Kriterien bestehen in der Diskrepanz zwischen schulischer Leistung und zu erwartenden Leistungen, im Beginn der Schwierigkeiten im Schulalter und in der Bedingung, dass diese Lernschwierigkeiten beispielsweise nicht durch Sinnesstörungen erklärt werden können. Der Ausprägungsgrad wird außerdem unterschieden in leicht, mittel und schwer. Letzteres kommt den Kernsymptomen einer Lernbehinderung am nächsten. Hierin werden erhebliche Lernschwierigkeiten beschrieben, die mehrere Lernbereiche betreffen und die Fertigkeiten womöglich ohne langjährige Förderung nicht erworben werden können. Zudem heißt es, dass die betroffene Person trotz Förderung und Modifikation der Aufgaben nicht in der Lage ist, tägliche Aufgaben angemessen zu bewältigen.

Anzumerken ist hier, dass trotz der Aufführung des Begriffs ‚Spezifische Lernstörung‘, die Beschreibung mit der Bezeichnung Lernschwierigkeiten fortgesetzt wird. Es kann angenommen werden, dass die Termini synonym verwendet werden (American Psychiatric Association, 2015, S. 45-48).

2.3 Abgrenzung zu verwandten Begriffen

Der Begriff der Lernbehinderung ist negativ konnotiert, da er die Assoziationen zum Misserfolg im Lernen und Schulversagen mit sich trägt. Eine Verwendung dessen kann stigmatisierend sein (Schröder, 2005, S. 73). Aus diesem Grund wird fortwährend über die Benennung debattiert, um eine Beeinträchtigung im Bereich des Lernens zu beschreiben, ohne defizitorientiert zu sein. Diesbezüglich protestiert eine ‚Non-Categorization‘-Bewegung für eine Abschaffung der Kategorisierung der verschiedenen Behinderungsformen. Allerding, so betont Schröder (2005), kann ein Verzicht auf Fachtermini weder eine Diskriminierung noch eine Stigmatisierung verhindern (S. 75). Die Debatte um eine angemessene und nicht-retardierende Bezeichnung hält somit an, sodass weitere Begriffe ins Leben gerufen werden, die es nun voneinander abzugrenzen gilt.

Der Terminus der Lernbehinderung wird folglich in der Literatur parallel zu weiteren Begriffen verwendet. Heimlich (2009) setzt sich für den Begriff Lernschwierigkeiten ein, da dieser, anders als der Begriff Lernbehinderung, sich international durchsetzt und im angelsächsischen Raum unter der Bezeichnung learning difficulties bekannt ist (S. 12). Zudem handelt es sich hier um einen schulpädagogischen Begriff, der jegliche Schüler meint, die Schwierigkeiten im Lernprozess aufweisen (Schröder, 2005, S. 91). Wember et al. (2014) ergänzen als Vorzüge des Begriffs mitunter, dass dieser mit der Bandbreite der Betroffenen besser zu vereinbaren ist und dass er durch die Unterscheidung in allgemeine oder gravierende Lernschwierigkeiten mit dem Konzept des sonderpädagogischen Förderbedarfs kompatibel ist (S. 53-54). Ebenfalls aus einer Übersetzung des angloamerikanischen Begriffs learning disabilities entspringt die Bezeichnung Lernschwäche, die sich bislang nicht durchsetzen konnte (Schröder, 2005, S. 92).

Bestand haben ebenfalls die Termini Lernbeeinträchtigungen und Lernstörungen. Hierzu versucht Kanter (1977) einen Überblick zu entwerfen, der die Lernbeeinträchtigungen als Oberbegriff sieht und die Lernstörungen und Lernbehinderungen als unterschiedliche Ausprägungsgrade derselben. Die beiden Formen werden nach den Kriterien Umfang, Schweregrad und Dauer differenziert. Nach Kanter (1977) können Schüler mit einer weniger schwerwiegenden Lernstörung in einer allgemeinen Schule unterrichtet werden, wohingegen Schüler mit einer Lernbehinderung auf eine gesonderte Schule überwiesen werden müssen. Des Weiteren betrifft die Lernstörung nur ein Schulfach innerhalb eines Schuljahres in Verbindung mit einem durchschnittlichen IQ. Eine Lernbehinderung hingegen bezieht sich auf mehrere Schulfächer über mehrere Schuljahre in Verbindung mit einem unterdurchschnittlichen IQ (<85) (Kanter, 1977, zitiert nach Heimlich, 2009, S. 20). Heimlich (2009) greift die Begriffsproblematik der traditionellen Lernbehindertenpädagogik auf und setzt entgegen, dass nicht bei jedem Kind eine Trennlinie zwischen den beiden Ausprägungsgraden gezogen werden kann, sondern diese sich vielmehr überschneiden und den Regelfall darstellen (S. 21).

Klauer und Lauth (1997) sprechen ihrerseits von Arten von Lernstörungen (s. Abbildung 1), für die sie ein Vier-Felder-Schema entworfen haben. Dieses weist zwei Dimensionen auf, welche die Zeit und den Umfang wiedergeben. In der zeitlichen Dimension wird zwischen einer vorübergehenden und überdauernden Lernstörung unterschieden. In der umfänglichen Dimension werden bereichsspezifische und allgemeine Lernstörungen differenziert. Eine Lernbehinderung in diesem Sinne wird als eine allgemeine (generelle) und überdauernde (persistierende) Lernstörung bezeichnet (S. 702-704). Diese Merkmale einer Lernbehinderung decken sich mit den Angaben, nach denen heute eine Lernbehinderung definiert wird (vgl. hierzu Abschnitt 2.1).

Im Zuge des Paradigmenwechsels entstand der Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der sich aus dem sich international entwickelten Terminus special educational needs herausgebildet hat, um der negativen Konnotation entgegen zu wirken (Heimlich, 2009, S. 23-24). Es ist ein Versuch, einer defizitorientierten Kennzeichnung auszuweichen (Schröder, 2005, S. 75). Aus dem Oberbegriff sonderpädagogische Förderung entwickelten sich die einzelnen Förderschwerpunkte, die die Kultusministerkonferenz (KMK ) aufgliedert, um eine spezifische Schülerschaft zu beschreiben. So nennt die KMK beispielsweise den Förderschwerpunkt Lernen, der eine Vielfalt an Merkmalen aufweist, die mit weiteren Förderschwerpunkten korrespondieren können (KMK, 1999, S. 3-4). Diesbezüglich merkt Heimlich (2009) an: „So hängt der Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen in der Regel mit einem Förderbedarf im sprachlichen, emotional-sozialen, sensomotorischen und kognitiven Förderbereich zusammen“ (S. 24). Hierdurch wird deutlich, wie komplex das Bedingungsgefüge ist, aus der Lernbeeinträchtigungen hervorgehen. Außerdem wird deutlich, dass hohe Anforderungen an die Diagnostik und Differentialdiagnostik gestellt werden, da die Determinanten der Genese einer Lernbehinderung von Komorbiditäten und anderen Störungen differenziert werden müssen. Die Zusammenhänge werden in den folgenden Kapiteln herzustellen versucht, um der Komplexität Ausdruck zu verleihen.

2.4 Komorbiditäten und Differentialdiagnostik

Eine Lernbehinderung kann neben weiteren Störungen bestehen oder durch diese bedingt sein bzw. in Wechselwirkung mit ihnen stehen. Nach Hasselborn und Hartmann (2011) ist dies meist der Fall, sodass eine Lernbehinderung häufig nicht isoliert betrachtet werden kann (S. 2). In diesem Abschnitt sollen mögliche Begleitstörungen, die neben einer Lernbehinderung bestehen können, sogenannte Komorbiditäten, genannt und kurz erläutert werden. Die Komorbiditäten können sowohl externalisierend als auch internalisierend sein. Außerdem ist es wichtig, Störungsbilder zu analysieren, die zwar teilweise Symptome wie eine Lernbehinderung aufweisen, jedoch einer anderen Beeinträchtigung zuzuschreiben sind. Diesbezüglich soll eine Differentialdiagnostik klären, welche Störung tatsächlich vorliegt.

2.4.1 Lernbehinderung und Verhaltensprobleme

Lernschwierigkeiten zu haben oder unter einer Lernbehinderung zu leiden, begünstigen das Auftreten von Verhaltensmustern, die inakzeptabel sind. Dafür bestehen etwaige Gründe, die Horváth zusammenträgt: Die Schüler erfahren Missbilligungen durch ihre Eltern und auch Lehrer, weil diese Schwierigkeiten damit haben, solch ein niedriges Leistungsniveau zu akzeptieren. Es werden Anforderungen gestellt, die die Schüler gar nicht erbringen können und somit grenzen sie sich deutlich von ihren Mitschülern ab. Sie werden durch Schulnoten schlecht bewertet und von Klassenkameraden abgelehnt und diskriminiert. Das hat wiederum zur Folge, dass Selbstwertgefühl und -vertrauen sinken und sich die soziale Position in ihrem Umfeld verschlechtert (Horváth, 2002, S. 433). Die negativen Erfahrungen mit ihrer direkten Umwelt wirken sich demzufolge auf das Verhalten des Schülers aus. Horváth (2002) findet dazu folgende Worte: „Aggressive, clownhafte oder andere Verhaltensformen sind demnach Ausdruck eines Ableitens kulminierender innerer Spannungen zum Zweck der Kompensation dieser Misserfolgserlebnisse“ (S. 435). Das vom Umfeld als negativ bewertetes Verhalten stellt also eine Reaktion auf entgegengebrachte Frustration, Missbilligung, Etikettierung, Leistungsdruck und Enttäuschung seitens der Eltern und Lehrer dar. Aus der Studie von Horváth geht hervor, dass 79 % der befragten Pädagogen einen engen Zusammenhang zwischen gezeigtem Verhalten und Lernschwierigkeiten sehen (2002, S. 435).

2.4.2 Lernbehinderung und Aggression

Aggressives Verhalten ist in Haupt- und Förderschulen allgegenwärtig und präsenter als in anderen Schulformen. Aggressionen stehen in Wechselwirkung mit Lernschwierigkeiten, da sie zum einen eine Reaktion auf die Umwelt darstellen (vgl. hierzu 2.4.1) und zum anderen durch sie Lernunterbrechungen herbeigeführt werden, die wiederum Lernschwierigkeiten entstehen lassen können (Heimlich, 2009, S. 44-45).

Aggressionen können vielfältig begründet sein und psychische Ursprünge haben, wie die Impulsivität eines Menschen. Sie können aber auch durch Umwelteinflüsse und das direkte Umfeld bedingt sein, sodass z.B. Merkmale der Eltern eine Entstehung von problematischem Verhalten begünstigen können (Berger & Schneider, 2011, S. 94-95). Der Zusammenhang erschließt sich auch durch teilweise sich deckende Bedingungsfaktoren von Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten (vgl. hierzu Kap. 3 & Schröder, 2005, S. 162-163).

2.4.3 Lernbehinderung und Angst

Die Angst bzw. Angststörung ist ein komplexes Bild, welches in der ICD-10-GM (Version 2018) aufgeschlüsselt wird. Sie fällt unter die Kategorie der neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen. Diese sind klassifiziert in unterschiedliche Ausprägungsgrade und Ursachen mit Beschreibung der Symptomatik. Relevant in Bezug auf eine Lernbehinderung können phobische Störungen sein, die durch definierte und ungefährliche Situationen charakterisiert sind, wie in diesem Kontext ein Schulbesuch. Die angstauslösende Situation wird vermieden oder ertragen. Es können Symptome auftreten wie z.B. Herzklopfen, ein Schwächegefühl oder Angst vor einem Kontrollverlust (BMG, 2018). Es kann vermutet werden, dass eine Schulangst zu einem Schulabsentismus führt.

Ebenso könnte eine soziale Phobie Relevanz besitzen, denn diese ist oft mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und einer Angst vor Kritik verbunden. Die Beschwerden können sich in z.B. Übelkeit oder Händezittern äußern (BMG, 2018).

2.4.4 Lernbehinderung und AD(H)S

ADHS ist eine psychische Störung, die sehr häufig komorbide ist und in Zusammenhang gesehen wird mit schulischen Problemen. In diesem Rahmen liegt eine hohe Korrelation mit LRS vor (Mähler et al., 2008, S. 427-428). Heimlich (2009) differenziert den Zusammenhang von Lernschwierigkeiten mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen und dem Hyperkinetischen Syndrom (HKS). Eine Lernbehinderung kann durch ein AD(H)S bedingt sein, welche sich durch motorische Unruhe, ein desorganisiertes Verhalten und drei weitere Kernsymptome (Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und ggf. Hyperaktivität) auszeichnet. Die Symptome können wiederum zu Aggressionen führen, da häufig soziale Probleme mit einhergehen. Im schulischen Kontext ist es unabdingbar, ein Lernsetting zu schaffen, welches auch Schüler mit einer solchen Störung individuell fördern kann (S. 46-49). Werden die besonderen Bedürfnisse nicht berücksichtigt und „bleiben diese Maßnahmen aus, entwickeln Kinder und Jugendliche mit HKS umfangreiche Lernschwierigkeiten, da sie kaum in der Lage sind, schulische Lernsituationen selbstständig zu bewältigen. Ohne Interventionen sind Lernrückstände bis hin zu generalisierten Lernproblemen vorprogrammiert“. Heimlich stellt hier das HKS als eine mögliche Determinante dar, die die Genese einer Lernbehinderung beeinflussen kann (Heimlich, 2009, S. 49).

2.4.5 Teilleistungs- und kombinierte Störungen als Differentialdiagnose

In der ICD-10-GM werden unter den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (vgl. hierzu Abschnitt 2.2.1) Störungen unterschieden, die bereits in den ersten Entwicklungsstadien den Erwerb von Fertigkeiten beeinträchtigen. Die Störungen können nicht durch eine Sinnesschädigung, eine Intelligenzminderung, Umwelteinflüsse oder erworbene Krankheiten begründet werden. Hierzu gehören die Lese- und Rechtschreibstörung (LRS), eine isolierte Rechtschreibstörung, die Rechenstörung und kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten (BMG, 2018).

Eine LRS ist eine Teilleistungsstörung mit gravierenden Beeinträchtigungen im Erwerb der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten. Auch das Leseverständnis kann von der Beeinträchtigung betroffen sein. Die Störung kann sich auf die weitere Entwicklung der Sprache und des Sprechens auswirken und persistiert oft bis in das Erwachsenenalter (BMG, 2018).

Hiervon wird die isolierte Rechtschreibstörung abgegrenzt, die ebenfalls eine Teilleistungsstörung ist, aber im Gegensatz zur LRS, beschränkt sich die Störung auf den Erwerb der Rechtschreibfertigkeiten und ist nicht durch eine vorangehende Lesestörung bedingt (BMG, 2018).

Die Rechenstörung als Teilleistungsstörung ist durch eine gravierende Beeinträchtigung der Rechenfertigkeiten gekennzeichnet. Besonders die mathematischen Basiskompetenzen der Grundrechenarten sind betroffen. Die mathematischen Fertigkeiten der höheren Mathematik sind weniger beeinträchtigt (BMG, 2018).

Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten meint eine Beeinträchtigung in den traditionellen Kulturtechniken Rechnen, Lesen und Rechtschreiben (BMG, 2018). Dieses Störungsbild wird nicht näher erläutert und umfasst die Kernsymptome einer Lernbehinderung (vgl. hierzu Abschnitt 2.1). Allerdings unterscheidet sich diese Störung durch das Diskrepanzkriterium Intelligenz von einer Lernbehinderung, da hier von einer normalen Intelligenz trotz Minderleistung ausgegangen wird. Eine Intelligenzminderung wird in diesem Fall als Ursache ausgeschlossen, wobei dies, bezüglich einer Lernbehinderung, ein Einflussfaktor sein kann (Mähler et al., 2008, S. 417).

2.5 Prävalenz

Der sonderpädagogische Förderbedarf Lernen ist in Deutschland der Förderbedarf, der am häufigsten festgestellt wird (Werning, 2016, S. 229), wobei Jungen überrepräsentiert sind (Schröder, 2005, S. 176). Laut der Statistiken der KMK gibt es eine deutliche Rückentwicklung der Schülerzahlen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Waren es 2007 noch 45 % mit dem FSL, so sank die Zahl bis 2016 auf einen Anteil von 36,5 %. Das Ergebnis berücksichtigt hierbei die Verteilung in Förderschulen und allgemeinen Schulen insgesamt. In Zahlen gesprochen waren es im Jahr 2007 über 218.000 Schüler, die einen festgestellten Förderbedarf im Bereich Lernen hatten. Im Vergleich hierzu sank bis 2016 die Schülerzahl mit dem FSL auf ca. 191.000. Die Statistik zeigt außerdem, dass sich alle anderen Förderschwerpunkte, außer die stagnierende Förderung der Kranken, wiederum entgegengesetzt entwickelt haben, d.h. die Schülerzahlen bzw. der Anteil der jeweiligen Bereiche sind angestiegen. Die größte Steigerung lässt sich im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung verzeichnen: Der Anteil der Schüler mit diesem Förderbedarf stieg von 10,8 % (2007) auf 16,6 % (2016) (KMK, 2016, S. 3). Den Ursachen für diese Entwicklung kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen werden.

Werning stellt zudem noch einen Bezug von Lernbehinderung zu den gesellschaftlichen Milieus her, indem er angibt, dass Betroffene gehäuft aus anregungsarmen Verhältnissen stammen und das familiäre Umfeld einer benachteiligten sozio-ökonomischen Schicht angehört. Ferner gibt er einen Migrationshintergrund an, der häufiger bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besteht als bei Schülern ohne einer solchen Etikettierung (Werning, 2016, S. 230). Auf die beiden Punkte des sozio-ökonomischen Status und des Migrationshintergrundes wird nochmal in Abschnitt 3.2.3, im Zuge der Determinanten, eingegangen.

Werden nun die verschiedenen Ausprägungsgrade von Lernschwierigkeiten mit einbezogen, die jeweils einen anderen Terminus erhalten, so fasst Schröder (2005) zusammen, dass „die Zahl aller Kinder mit irgendwelchen Lernstörungen die Zahl der Lernbehinderten um ein Vielfaches übersteigt. Entsprechend zugespitzt stellt sich die problematische Situation letzterer in der Schule dar, und der Bedarf an Förderung steigt […] dramatisch an“ (S. 102). Um in dieser beschriebenen Problematik angemessen intervenieren zu können, ist es notwendig, das Phänomen Lernbehinderung und weitere Ausprägungsgrade von Lernschwierigkeiten verstehen zu lernen. Hierzu sollen die nächsten Kapitel einen Beitrag leisten, bevor dann im letzten Kapitel auf die Interventionsmöglichkeiten eingegangen wird.

2.6 Mögliche Auswirkungen und Folgestörungen

In diesem Abschnitt soll verdeutlicht werden, welche Auswirkungen eine Lernbehinderung auf den Betroffenen und auf seine Umwelt hat. Außerdem soll geklärt werden, ob eine Lernbehinderung andere Störungsbilder im Sinne von Komorbiditäten auslösen bzw. triggern kann. Dieser Abschnitt soll den Blickwinkel aus Abschnitt 2.4 noch erweitern und die Verbindung zwischen den Auswirkungen einer Lernbehinderung und deren Folgen verdeutlichen.

Von einer Lernbehinderung betroffen zu sein, heißt für viele, soziokulturell benachteiligt zu werden. Außerdem bedeutet es für den Großteil, in eine Schule für Lernbehinderte überwiesen zu werden und dadurch Isolation und Stigmatisierung zu erfahren (Mand, 2003, S. 84-86). Schüler, die eine Schule für Lernbehinderte besuchen, werden oft mit gesellschaftlichen Randgruppen negativ assoziiert, was sie aus der direkten Umwelt reflektiert bekommen. Dies kann ungünstige Sozialisationsbedingungen hervorbringen und folglich die Identität und Identitätsentwicklung stören (Mand, 2003, S. 19, 84-86). Der reziproke Einfluss von Lernschwierigkeiten und Verhaltensproblemen (vgl. hierzu Abschnitt 2.4.1) kann sich bis zum schwerwiegenden Schulversagen auswirken und hat Ablehnung durch das soziale Umfeld zur Folge (Schröder, Wittrock, Rolus-Borgward & Tänzer, 2002 , S. 19, 149-158). Diese gesellschaftliche Ausgrenzungserfahrung kann zum sozialen Rückzug bzw. zur Isolation führen. Fortwährende negative Erfahrungen aus der Umwelt lassen eine negative Erwartungshaltung entstehen, die sich manifestiert und das eigene Handeln im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung beeinflusst (Heimlich, 2009, S. 77-78). Außerdem kann eine Lernbehinderung psychische Störungen in Form von schweren Aggressionen, Substanzmissbrauch, Schulabsentismus und Vandalismus verursachen (Barth, 2006, S. 38). Kretschmann (2007) erläutert einen Teufelskreis, der mit Lernschwierigkeiten beginnt und einen regelrechten Lawineneffekt auslösen kann: Ein mangelnder Lernerfolg bzw. Leistungseinbrüche in der Schule können die Eltern des Kindes negativ stimmen, die eventuell ihre Missbilligung mitteilen. Auch in der Schule kann sich hierdurch die Erwartungshaltung der Lehrkraft ändern und dies schlägt sich wiederum auf innerpsychische Vorgänge nieder. Somit lassen Motivation, Anstrengungsbereitschaft und Zuversicht nach und es kann bis hin zu einer Schulangst führen, die ein völliges Schulversagen nach sich ziehen kann (S. 10).

Über weitere Zusammenhänge von Lernbehinderung und Störungsbildern lassen sich nur Vermutungen anstellen. Ein Wechsel des Blickwinkels auf die Lernbehinderung führt weg von den Folgen hin zu der Entstehung dieser Störung. Im nächsten Kapitel werden mögliche Ursachen für eine Genese, mit dem Fokus auf Risiko- und Schutzfaktoren als wichtige Determinanten, vorgestellt.

3 Die Ätiologie von Lernbehinderung

3.1 Ein entwicklungspsychologischer Ansatz

Eine Lernbehinderung ist ein komplexes Bedingungsgefüge, welches verschiedene Einflussfaktoren beinhaltet, die einzeln oder im Kollektiv wirken (Mähler et al., 2008, S. 415). Ähnlich drückt es auch Schröder (2005) aus, der eine Lernbehinderung als das Resultat kumulierter Ereignisse der Lernbiographie sieht (S. 189).

Die Betrachtungsweise kann sich beziehen auf (intra)personale Faktoren, die Lebensbedingungen, das System Schule und weitere soziale Faktoren (Orthmann, 2004, S. 9). Diese werden von jedem Individuum unterschiedlich verarbeitet und können daher teilweise eine Lernbehinderung begünstigen. Dieser Abschnitt beginnt mit einer Determinante, die im Gegensatz zu den anderen, nicht direkt beeinflussbar ist: Die Heritabilität.

Der genetische Faktor ist ein möglicher Einflussfaktor von Behinderungen und Entwicklungsstörungen. Das Ausmaß von funktionalen Beeinträchtigungen zeigt sich oft erst im Entwicklungsverlauf des Kindes und ist nicht bereits bei der Geburt, wie bei körperlichen Fehlbildungen, feststellbar. Einschränkungen der Kognition sowie sozialer Kompetenzen werden erst ab dem dritten Lebensjahr diagnostiziert (Ziegenhain, 2008, S. 172-173).

In Bezug auf den genetischen Faktor unterscheidet Hülshoff (2016) zwischen genetisch bedingt (vererbt) und epigenetisch bedingt (angeboren). Letzteres meint Umweltfaktoren, die auf die Gene Einfluss nehmen und diese in einer frühen Entwicklungsphase aktivieren (Methylierung) oder blockieren (Acetylierung). Die Epigenese determiniert folglich, welche genetischen Veranlagungen tatsächlich verwirklicht werden bzw. sich durchsetzen können. Genetisch bedingt bezieht sich hingegen auf bereits veränderte DNA der befruchteten Eizelle, welche die Erbinformationen erhält. Eine sogenannte Erbkrankheit kann aber nur selten eindeutig differenziert werden. Überwiegend macht es die Konstellation zwischen genetischen Faktoren, die Einflussnahme der Epigenetik und weitere Faktoren wie die Vulnerabilität aus, die in Wechselwirkung stehen und schlussendlich einen Menschen hervorbringen, dessen gesamte Entwicklung im Leben unterschiedlichsten Einflussfaktoren ausgesetzt ist. Zurück zur Epigenetik sollten in Bezug auf die Ätiologie von Lernbehinderung noch die Faktoren Teratogene erwähnt werden: Teratogene können die Entwicklung des Embryos behindern oder gar soweit stören, dass es zu Fehlfunktionen kommt. Abhängig ist dies vom Zeitpunkt, der Art und der Dosis des negativen Einflussfaktors, d.h. es kommt darauf an, welcher epigenetische Faktor in welchem Umfang zu welchem Zeitpunkt der Organentwicklung eintritt. Hierzu gehört der Substanzmissbrauch, Genuss von Alkohol, den Organismus schädigende Keime und Medikamente, welche eine teratogene Wirkung haben. Zudem können Belastungen der Mutter jeglicher Art negative Folgen für das Kind und dessen Entwicklung in prä- und postnataler Zeit hervorbringen. Dennoch lassen sich die häufigsten Ursachen einer Behinderung den peri- und postnatalen Phasen zuschreiben, wenngleich in der pränatalen Zeit, wie beschrieben, großer Einfluss genommen wird (S. 466-468).

Eine Lernbehinderung als individuellen Defekt zu sehen kann aufgrund der schweren Nachweisbarkeit und Mangel an Forschung nicht standhalten. Begründungen können somit ausschließlich über die medizinische Betrachtungsweise nicht hinreichend geliefert werden. Die Ursachen des Schulversagens in der Intelligenz zu suchen liegt nahe, denn das Konzept wird über die intellektuelle Fähigkeit abstrakt denken, planen und Probleme lösen sowie Neues auffassen und mit bereits Gelerntem verknüpfen zu können definiert. Demzufolge handelt es sich um Fähigkeiten, die für erfolgreiches schulisches Lernen Voraussetzung sind. Dennoch ist die Intelligenz nur eine von vielen Bedingungsfaktoren im Wirkungsgefüge, welche in Wechselwirkung mit Interaktionsprozessen in der sozialen Umwelt steht (Werning & Lütje-Klose, 2012, S. 50-54). Folglich ist eine Lernbehinderung nicht durch einzelne Faktoren erklärbar.

Der Annahme, dass eine Lernbehinderung nicht vererbt wird, sondern das Endprodukt eines langwierigen Prozesses darstellt, ist bereits Schröder (2005) gefolgt. Demnach erfährt das Kind langfristig negative Ereignisse, die sich manifestieren und ohne rechtzeitige individuelle Fördermaßnahmen oder erfolglose Förderung zwangsläufig in eine Lernbehinderung münden (S. 127). Dem Ansatz folgen ebenso Kracke und Noack (2008), die anbringen, dass der genetische Faktor sowie die Umweltfaktoren in reziprokem Einfluss wirken, sodass eine komplexe Interaktion derer zu individuellen Reaktionen führen (S. 550). Hieraus schließen Mähler et al. (2008), dass belastende Lebenssituationen die Bewältigung von schulischen Problemen beeinträchtigen, sodass das Kind selbst seine Ressourcen nicht nutzen kann und/ oder die Eltern ihre nicht aktivieren können, um ihr Kind zu unterstützen (S. 430).

Die Ursachenfaktoren sind vielfältig und wie bereits mehrfach erwähnt, besteht ein Zusammenhang zwischen der Anlage eines Menschen und seiner Umwelt. Wie diese Wechselwirkung sich darstellt und erklärbar ist, wird im nächsten Abschnitt behandelt.

[...]


[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit durchgehend die männliche Form verwendet. Es sind in jedem Zusammenhang jeweils beide Geschlechter gemeint.

Excerpt out of 89 pages

Details

Title
Zur Ätiologie von Lernbehinderung und ihren Auswirkungen auf sonderpädagogische Förderung
College
Justus-Liebig-University Giessen
Grade
1,33
Author
Year
2018
Pages
89
Catalog Number
V441365
ISBN (eBook)
9783668798656
ISBN (Book)
9783668798663
Language
German
Notes
Wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen des 1. Staatsexamens - L5
Keywords
Lernbehinderung, Lernhilfe, Sonderpädagogik, sonderpädagogische Förderung, Lernbehindertenpädagogik, Förderschwerpunkt Lernen
Quote paper
Carina Schiavulli (Author), 2018, Zur Ätiologie von Lernbehinderung und ihren Auswirkungen auf sonderpädagogische Förderung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441365

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