Goethes Ballade Vor Gericht ist in mehr als einer Hinsicht außergewöhnlich. Weder lässt sie sich formal in das Schema der Kunstballade pressen, die zur Zeit des Sturm und Drang eine beliebte literarische Ausdrucksweise darstellte, noch orientiert sie sich inhaltlich an den Konventionen einer Zeit, die die uneheliche Mutterschaft als Straftat betrachtete. Die formale und inhaltliche Rebellion gegen aufklärerisches Gedankengut entspricht zwar der Idee des Sturm und Drang, der Umgang mit dem Thema der ledigen Mutterschaft geht aber weit über die in diesem Zusammenhang übliche moralische oder sentimental-bedauernde Betrachtungsweise hinaus.
Die knappe, prägnante Ausdrucksweise und die lediglich vier Strophen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ballade kunstvoll aufgebaut, in ihrer Konzeption nichts dem Zufall überlassen ist.
Der junge Goethe verfasste diese literarische Verteidigungsrede einer ledigen Mutter, die sämtliche Konventionen der Gesellschaft in der sie lebt für nichtig erklärt, im Jahr 1776, lange bevor er als Politiker und Mitglied des Geheimen Conseils in die Lage versetzt wurde, staatspolitischen Zielen Genüge zu tun und in deren Sinne zu handeln und entscheiden. Veröffentlicht wurde die Ballade jedoch erstmals 1815, nachdem sie zuvor nur in der handschriftlichen Gedichtsammlung für Frau von Stein enthalten war. Im Folgenden soll versucht werden, die Einzigartigkeit dieser Ballade herauszuarbeiten. Eine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit, die auch auf die Stellung der ledigen Mutter im ausgehenden 18. Jahrhunderts eingehen und sich mit der rechtlichen Situation sowie politischen Zielen der Regierungen auf deutschem Gebiet beschäftigen wird, soll einer ausführlichen formalen und inhaltlichen Analyse der Ballade vorausgehen und bei deren Verständnis helfen.
Zuletzt werde ich einen Vergleich zwischen Dichtung und Realität ziehen. Hierbei will ich zeigen, dass Vor Gericht eher der sozialkritischen Balladendichtung der Moderne als der Kunstballade nahe steht, was sie zur Zeit des Sturm und Drang absolut einzigartig macht. Des weiteren sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, sich noch eingehender oder unter anderen Gesichtspunkten mit dieser Ballade zu befassen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Frau in der Gesellschaft von 1770
2.1 Spätfeudalistische Gesellschaft und Bevölkerungszuwachs in den Städten
2.2 Frauenbild der Gesellschaft: Die Mutterrolle
2.3 Uneheliche Schwangerschaften und strafbare Unzucht: Die Rolle von Kirche und Staat
3. Johann Wolfgang von Goethe: Vor Gericht
3.1 Die Ballade
3.2 Form und Inhalt
3.3 Interpretation
4. Ballade contra Gesellschaft: Schlussworte
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Goethes Ballade Vor Gericht ist in mehr als einer Hinsicht außergewöhnlich. Weder lässt sie sich formal in das Schema der Kunstballade pressen, die zur Zeit des Sturm und Drang eine beliebte literarische Ausdrucksweise darstellte, noch orientiert sie sich inhaltlich an den Konventionen einer Zeit, die die uneheliche Mutterschaft als Straftat betrachtete. Die formale und inhaltliche Rebellion gegen aufklärerisches Gedankengut entspricht zwar der Idee des Sturm und Drang, der Umgang mit dem Thema der ledigen Mutterschaft geht aber weit über die in diesem Zusammenhang übliche moralische oder sentimental-bedauernde Betrachtungsweise hinaus[1].
Die knappe, prägnante Ausdrucksweise und die lediglich vier Strophen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ballade kunstvoll aufgebaut, in ihrer Konzeption nichts dem Zufall überlassen ist.
Der junge Goethe verfasste diese literarische Verteidigungsrede einer ledigen Mutter, die sämtliche Konventionen der Gesellschaft in der sie lebt für nichtig erklärt, im Jahr 1776, lange bevor er als Politiker und Mitglied des Geheimen Conseils in die Lage versetzt wurde, staatspolitischen Zielen Genüge zu tun und in deren Sinne zu handeln und entscheiden.
Veröffentlicht wurde die Ballade jedoch erstmals 1815, nachdem sie zuvor nur in der handschriftlichen Gedichtsammlung für Frau von Stein enthalten war.
Im Folgenden soll versucht werden, die Einzigartigkeit dieser Ballade herauszuarbeiten. Eine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit, die auch auf die Stellung der ledigen Mutter im ausgehenden 18. Jahrhunderts eingehen und sich mit der rechtlichen Situation sowie politischen Zielen der Regierungen auf deutschem Gebiet beschäftigen wird, soll einer ausführlichen formalen und inhaltlichen Analyse der Ballade vorausgehen und bei deren Verständnis helfen.
Zuletzt werde ich einen Vergleich zwischen Dichtung und Realität ziehen. Hierbei will ich zeigen, dass Vor Gericht eher der sozialkritischen Balladendichtung der Moderne als der Kunstballade nahe steht, was sie zur Zeit des Sturm und Drang absolut einzigartig macht.
Des weiteren sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, sich noch eingehender oder unter anderen Gesichtspunkten mit dieser Ballade zu befassen.
2. Die Frau in der Gesellschaft von 1770
2.1 Spätfeudalistische Gesellschaft und Bevölkerungszuwachs in den Städten
Um sich vorstellen zu können, mit welchen Problemen eine unverheiratete Mutter um 1770 zu kämpfen hatte, muss man zuerst einmal die Gesellschaft dieser Zeit betrachten.
„Als Goethe zu schreiben anfing, herrschte noch der Spätfeudalismus in Deutschland.“[2] Im Vergleich zu England und Frankreich setzte die Industrialisierung erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein, und um die Jahrhundertwende war Deutschland noch weitgehend agrarisch geprägt. Trotz eines erstarkenden Bürgertums in den Städten, welches in der Regel Dichter und Lesepublikum stellte, also weitgehend das kulturelle Leben in Deutschland prägte, bestand nach wie vor eine fest gefügte Ständeordnung, an deren Spitze der Adel stand.[3]
Die Landbevölkerung gehörte zum Großteil einer ungebildeten Unterschicht an, und die Kirche und ihr Moral- und Sittenkodex nahmen eine zentrale Rolle in der Vorstellungswelt der Menschen ein.
Da das Leben auf dem Land und der Arbeitsalltag in der Agrarwirtschaft, beispielsweise als Dienstmagd, hart waren, folgten viele unverheiratete junge Frauen dem gesteigerten Bedürfnis des wachsenden Bürgertums nach Dienstboten und zogen in die Städte. Dies bedingte natürlich eine Veränderung ihrer Lebenssituation. Vor allem bedeutete es die Desintegration aus einem vertrauten sozialen Milieu. Mädchen vom Land ohne die bekannten weitreichenden verwandtschaftlichen Beziehungen erwartete weniger Sozialkontrolle in der Stadt, aber auch weniger Sicherheit durch die geringe persönliche Integration in die bürgerliche Kleinfamilie, bei der sie angestellt waren.[4]
Gleichzeitig begannen sich bürgerliche Wertvorstellungen auch in anderen Gesellschaftsschichten durchzusetzen: „Als ein spezifisch bürgerlicher Wert diffundierte das Leitbild vorehelicher Enthaltsamkeit mit dem Gesamtkomplex bürgerlicher Normvorstellungen und Verhaltensweisen auch in andere soziale Gruppen. Die vom absolutistischen Staat durchgesetzten kirchlichen Moralvorschriften verstärkten diesen Prozess.“[5]
Trotz dieser durch eine neue moralische Instanz, nämlich den Arbeitgeber, aufgestellten Vorstellungen und das nach wie vor gültige Recht der Kirche kam es Mitte des
19. Jahrhunderts nach einem stetigen Anstieg ab ungefähr 1750 zu einem Höhepunkt unehelicher Geburten in deutschen Städten. Dieser Zeitpunkt deckt sich mit dem, an dem die städtische Dienstbotenhaltung ihren Höhepunkt erreichte.[6]
Einer der Hauptgründe dafür war das zahlenmäßige (Miss-)verhältnis zwischen unverheirateten Männern und Frauen in der Stadt. In einer ländlichen Gesellschaft war dieses in etwa ausgeglichen, so dass Sexualpartner bevorzugt unter anderen Unverheirateten gewählt wurden. Gab der betreffende Mann ein Heiratsversprechen ab, welches häufig die Voraussetzung für die Zustimmung der Frau zum Geschlechtsverkehr darstellte, dann machte sich das Paar zwar der Unzucht strafbar, doch „abgegebene Eheversprechen waren einklagbar“[7]. Die nachträgliche moralische Rehabilitation war also möglich, und ein eventuell gezeugtes Kind wurde auch durch eine nach der Zeugung geschlossene Ehe als ehelich anerkannt.
In der städtischen Gesellschaft war das Männer-Frauen-Verhältnis weniger ausgeglichen, da hauptsächlich junge Frauen vom Land in die Städte zogen, um als Dienstboten zu arbeiten. Unverheiratete junge Männer aus dem Bürgertum heirateten jedoch zumeist nur innerhalb ihres eigenen Standes, was den sexuellen Verkehr mit Frauen aus der Dienstbotenschicht indessen nicht ausschloss. Ein einklagbares Eheversprechen gaben sie in diesem Fall natürlich nicht ab, was aufgrund des Standesunterschiedes aber auch nicht erwartet wurde. Auch verheiratete Männer nutzten vermutlich die Abwechslung, und auch sie waren, da sie schon gebunden waren, im Falle einer Schwangerschaft de facto nicht belangbar. Die ledige Mutter war also auf sich allein gestellt.
Dies soll natürlich nicht bedeuten, dass uneheliche Kinder zu dieser Zeit nur von Dienstmädchen zur Welt gebracht wurden, und auch in Goethes Ballade ist der gesellschaftliche Stand des lyrischen Ichs unbekannt. Doch stellte sich die Situation in solch einem Fall aus den vorhin genannten Gründen, wie mangelnden sozialen Bindungen, besonders schwierig dar. Welcher gesellschaftlichen Schicht aber eine ledige Mutter letztlich auch angehörte, sie teilte ihr schwieriges Schicksal mit vielen Frauen ihrer Zeit. Mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hatte, werde ich unter 2.3 noch genauer erläutern. Zunächst aber soll näher auf das allgemeine Frauenbild der Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts eingegangen werden.
2.2 Frauenbild der Gesellschaft: Die Mutterrolle
Die Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland war weitgehend patriarchalisch geprägt. Männer und Frauen unterschieden sich sowohl in ihren Rechten und Pflichten als auch in den Vorstellungen zeitgenössischer Moralisten und Autoritätspersonen, die die Frau nach wie vor dem Mann unterordneten.
Es bestand ein sentimentales und häusliches Ideal von Mütterlichkeit, demgegenüber die väterliche Autorität stand, in etwa vergleichbar mit einem aufklärerischen Herrscher, dessen Herrschaft über seine Söhne und Töchter absolut war.[8] Außerdem wurde Frauen im Gegensatz zu Männern ein Mangel an Durchsetzungsvermögen und Charakterstärke attestiert. Diese Vorstellung von der schwächlichen Frau, die nicht im Stande ist, ihre Rechte zu verteidigen, wurde auch als Begründung gesehen, warum Frauen den Verführungskünsten eines Mannes häufig nichts entgegenzusetzen hatten und sich schließlich der Unzucht hingaben: „Der Mann, dem allgemein die größere sexuelle Triebhaftigkeit zugesprochen wurde, wirbt aktiv um die Frau, die sich, mangels Durchsetzungskraft, nach einer gewissen Zeit nicht mehr verweigern kann und sich dem Mann hingeben muss. Die Frau steht dem Verhalten des Mannes hilflos gegenüber und hat dem aufgrund ihrer natürlichen Charaktereigenschaften nichts entgegen zu setzen.“[9] Hier spiegelt sich auch die zeitgenössische Vorstellung wieder, dass ausschließlich Männer Interesse an sexueller Aktivität hätten. Bei Frauen hingegen überwiege der mütterliche Trieb, ihr erotisches Interesse sei im Gegensatz dazu weniger stark ausgeprägt.
In der Öffentlichkeit traten Frauen fast ausschließlich in ihrer Rolle als Mutter in Erscheinung. Im Gegensatz zu früher waren sie in dieser Hinsicht jedoch zunehmend von politischem Interesse, da die Vermehrung der Bevölkerung nunmehr den Rang eines primären staatspolitischen Ziels eingenommen hatte (dies wird noch näher ausgeführt unter 2.3).
Die Mutterschaft wurde als die Aufgabe der Frau in ihrer Rolle als Staatsbürgerin definiert und zunehmend säkularisiert, die „Auffassung von Mutterschaft als unausweichlichem Trieb“[10] zudem neuerdings biologisch definiert. Letzteres verstärkte natürlich auch die Tendenz, eine Mutter die sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht in ihre Rolle einfinden konnte, als abnorm zu betrachten.
[...]
[1] Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. I: Gedichte und Epen I, hg. von Erich Trunz, 15. Auflage, München 1993, S. 516.
[2] Hans Siegbert Reiss: Sozialer Wandel in Goethes Werk. In: Goethe- Jahrbuch 1996, Band 113, hg. von Werner Keller, Weimar 1997, S. 67, Z.1.
[3] Vgl. Reiss: Sozialer Wandel in Goethes Werk, S.68.
[4] Vgl. Michael Mitterauer: Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer Geburten in Europa, München 1983, S. 101ff.
[5] Ebd., S. 62, Z. 1-5.
[6] Vgl. Mitterauer: Ledige Mütter, S.101ff.
[7] Ebd., S. 61, Z.29f.
[8] Vgl. Ann Taylor Allen: Feminismus und Mütterlichkeit in Deutschland 1800-1914, Weinheim2000 (Frauen- und Geschlechterforschung in der Historischen Pädagogik Band 4), S. 40f.
[9] Karin Stukenbrock: Das Zeitalter der Aufklärung. Kindsmord, Fruchtabtreibung und medizinische Policey. In: Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Robert Jütte, München1993, S.105, Z. 33ff.
[10] Taylor Allen: Feminismus und Mütterlichkeit in Deutschland 1800-1914, S. 41, Z. 31f.
- Quote paper
- Anja Bachmann (Author), 2005, 'Von wem ich`s habe das sag ich euch nicht'. Goethes 'Vor Gericht' gegen die Konventionen seiner Zeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44134
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