Der Übergang von der Schule in den Beruf – ein Schritt, der alle schulpflichtigen Jugendlichen betrifft und ihnen vor dem Schulaustritt Entscheidungen abverlangt. Obwohl diese auf den ersten Blick selbstbestimmt und nur von den Jugendlichen abhängend erscheinen, offenbart sich bei genauerem Hinsehen ein Spannungsfeld voller Erwartungen, Einflüssen und Bedingungen, unter welchem Entscheidungen getroffen werden. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Konzentration auf diesen Übergang und beschreibt und analysiert Jugendliche und ihren Umgang mit ihren Strategien, Plänen und Wünschen. Es soll darum gehen, Zukunftserwartungen im Spannungsfeld eigener Entscheidungen und äußerer Einflüsse zu beschreiben und zu analysieren. Zukunftserwartungen umfassen nicht nur die Berufsentscheidung. Berufliche Verwirklichung, Lebensvorstellungen und äußere Einflüsse hängen so eng zusammen, dass sie kaum getrennt voneinander erfassbar sind und somit ein weites Feld eröffnen. Diese Masterarbeit gibt unter einer theoretischen Rahmung einen Einblick in die Lebenswelt von fünf weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die momentan im Bundesland Bremen eine Oberschule besuchen. Das Forschungsinteresse erwuchs aus konkreten Beobachtungen, die während verschiedener Potenzialanalysen im Hinblick auf die Berufsfindung gemacht wurden. Im Gespräch mit Siebt- und AchtklässlerInnen während der Durchführung einer Potenzialanalyse wurden in freien Gesprächen viele Wünsche und Ziele zu Berufs- und Lebensvorstellungen offenbar. Die Klasse war in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen, so dass Gespräche mit männlichen und weiblichen und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund zustande1 kamen. Interessant waren vor allem ihre Argumentationslinien. Vieles davon war auffallend konkret und ausführlich durchdacht, so dass mein Interesse geweckt wurde: Wie nehmen Jugendliche Berufsentscheidungen und den Übergang zwischen Schule und Beruf wahr und was beeinflusst ihre Entscheidungen? Von diesem sehr allumfassenden Grundgedanken ausgehend konkretisierte ich mein Forschungsinteresse und die vorliegende Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
1.1. Forschungsinteresse
1.2. Forschungsdesign
1.3. Forschungslücke und Relevanz der Arbeit
1.4. Hinführung zur Fragestellung
2. THEORIE: DER FORSCHUNGSSTAND
2.1. Grundannahmen
2.1.1. Der Prozess des Übergangs: Von der Schule in den Beruf
2.1.2. Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem
2.1.3. Die Verschränkung von Migrationshintergrund, Geschlecht und sozialer Herkunft
2.2. Beeinflussende Faktoren
2.2.1. Individuelle Faktoren
2.2.2. Gesellschaftliche Faktoren
2.3. Individuelle Persönlichkeitseigenschaften
2.3.1. Das Konzept der Selbstwirksamkeit
2.3.2. Selbstwirksamkeit als Persönlichkeitsmerkmal
2.3.3. Selbstwirksamkeit im Kontext von Schule und Beruf
2.4. Zwischenfazit: der Forschungsstand
3. EMPIRIE: DIE METHODE
3.1. Grundsätze des methodischen Vorgehens
3.2. Das problemzentrierte Interview
3.2.1. Der Leitfaden
3.2.2. Der Kurzfragebogen
3.3. Die Auswertung
4. DIE FORSCHUNG
4.1. Der Feldzugang und das Forschungssample
4.2. Durchführung der Interviews
4.3. Kurzporträts der Gesprächspartnerinnen
5. DIE ERGEBNISSE: ZUKUNFTSERWARTUNGEN
5.1. Werte und Lebenseinstellung
5.1.1. Innere Überzeugungen und Persönlichkeitsmerkmale
5.1.2. Ziele
5.1.3. Zukunftsvorstellungen
5.1.4. Eigene Familienplanung
5.2. Schule
5.2.1. Bewertung der Lebenswelt Schule
5.2.2. Berufsorientierungsangebote in der Schule
5.2.3. Die Bedeutung des Schulabschlusses
5.3. Berufsvorstellungen
5.3.1. Berufswünsche
5.3.2. Auseinandersetzung mit Zugangsbedingungen zum Beruf
5.3.3. Informationsbeschaffung
5.3.4. Erwartungen an den Beruf
5.4. Das soziale Umfeld
5.4.1. Die Geschwister
5.4.2. Die Mütter
5.4.3. Die Väter
5.4.4. Vorbilder
5.4.5. Bildungseinstellung der Eltern
5.4.6. Unterstützung
5.5. Die (Migrations-)Biographie
5.5.1. Rückkehrabsichten
5.5.2. Unterschiede zwischen den Schulsystemen
5.5.3. Leben in Deutschland
5.6. Gerechtigkeit und Gesellschaft
5.6.1. Migrationsbedingte Schwierigkeiten
5.6.2. Chancengleichheit
5.6.3. Geschlechterrollen
6. DISKUSSION: DIE ERGEBNISSE UNTER EINBEZUG VON LITERATUR
6.1. Schule, Gesellschaft und sozialer Hintergrund
6.2. Der Migrationshintergrund
6.3. Geschlechterrollen
6.4. Unterstützung und Bildungsaspirationen im familiären Umfeld
6.5. Chancengleichheit
6.6. Selbstwirksamkeit und individuelle Persönlichkeitsmerkmale
7. FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Der Übergang von der Schule in den Beruf - ein Schritt, der alle schulpflichtigen JugendliChen betrifft und ihnen vor dem Schulaustritt Entscheidungen abverlangt. Obwohl diese auf den ersten Blick selbstbestimmt und nur von den Jugendlichen abhängend erscheinen, offenbart sich bei genauerem Hinsehen ein Spannungsfeld voller Erwartungen, Einflüssen und Bedingungen, unter welchem Entscheidungen getroffen werden.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Konzentration auf diesen Übergang und beschreibt und analysiert Jugendliche und ihren Umgang mit ihren Strategien, Plänen und Wünschen. Es soll darum gehen, Zukunftserwartungen im Spannungsfeld eigener EntScheidungen und äußerer Einflüsse zu beschreiben und zu analysieren. Zukunftserwartungen umfassen nicht nur die Berufsentscheidung. Berufliche Verwirklichung, Lebensvorsteilungen und äußere Einflüsse hängen so eng zusammen, dass sie kaum getrennt voneinander erfassbar sind und somit ein weites Feld eröffnen. Diese Masterarbeit gibt unter einer theoretischen Rahmung einen Einblick in die Lebenswelt von fünf weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die momentan im Bundesland Bremen eine Oberschule besuChen.
1.1. Forschungsinteresse
Das Forschungsinteresse erwuchs aus konkreten Beobachtungen, die während verschiedener Potenzialanalysen im Hinblick auf die Berufsfindung gemacht wurden. Im Gespräch mit Siebt- und Achtklässlerlnnen während der Durchführung einer Potenzialanalyse wurden in freien Gesprächen viele Wünsche und Ziele zu Berufs- und Lebensvorstellungen offenbar. Die Klasse war in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen, so dass Gespräche mit männlichen und weiblichen und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund zu- Stande1 kamen. Interessant waren vor allem ihre Argumentationslinien. Vieles davon war auffallend konkret und ausführlich durchdacht, so dass mein Interesse geweckt wurde: Wie nehmen Jugendliche Berufsentscheidungen und den Übergang zwischen Schule und Beruf wahr und was beeinflusst ihre Entscheidungen? Von diesem sehr allumfassenden Grundgedanken ausgehend konkretisierte ich mein Forschungsinteresse und die vorliegende Arbeit.
1.2. Forschungsdesign
Im folgenden, zweiten Kapitel wird zunächst der Forschungsstand ausführlich dargestellt. Als theoretische Basis werden zunächst Forschungen herangezogen, die Einflüsse auf Jugendliche auf gesellschaftlicher und individueller Ebene untersuchen. Die Arbeit soll die Jugendlichen jedoch auch als Akteure ihrer eigenen (Bildungs-)Biographien darstellen, deshalb wird im theoretischen Teil das Konzept der Selbstwirksamkeit als individuelles Person- lichkeitsmerkmal hinzugezogen. Die theoretische Rahmung ist als allgemeiner Überblick zu verstehen. Im dritten Kapitel wird die Methodik der Forschung dargestellt und begründet. Das vierte Kapitel erläutert das Vorgehen innerhalb der Forschung und stellt die GesprächsPartnerinnen vor. Das fünfte Kapitel bildet den Kern und somit den Großteil der Arbeit. Hier wird das Material in Bezug auf die Kernkategorie in den einzelnen Unterkategorien analysiert. Im sechsten Kapitel folgt die Interpretation der Daten anhand der aktuellen Forschungslage, zu welcher spezifischere Literatur hinzugezogen wird. Die Arbeit schließt mit einem Fazit, welches die Ergebnisse bündelt und einen Ausblick gibt.
Der Fokus dieser Arbeit richtet sich auf Jugendliche mit Migrationshintergrund. Der Terminus ״Migrationshintergrund“ wird so definiert, dass ״zu den Personen mit Migrationshintergrund [...] in der Regel jene gezählt [werden], die selbst oder deren Eltern nach Deutschland zugewandert sind - ungeachtet ihrer gegenwärtigen Staatsangehörigkeit.“ (Maaz et al. 2016: 49). Da Jugendliche mit Migrationshintergrund eine Gruppe bilden, die trotz ihrer Heterogenität generell als benachteiligt angesehen wird, soll die qualitative Forschung insbesondere ihre Zukunftserwartungen aufzeigen. Das Sample besteht aus fünf weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Drei der Jugendlichen sind erst vor wenigen Jahren aus europäischen Staaten (Türkei, Mazedonien) nach Deutschland eingewandert. Die beiden anderen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, beide Elternteile sind jeweils als junge Erwachsene nach Deutschland eingewandert. Alle fünf Jugendlichen sind weiblieh. Es wird folglich thematisiert, dass das Thema aus einer rein weiblich sozialisierten Perspektive untersucht wird. Deshalb sind auch in der Literatur Verweise zu übergangssituationen speziell zu weiblichen Jugendlichen zu finden. Zusätzlich beschäftigt sich in der Auswertung ein Teilkapitel mit Geschlechterrollen.
Ziel der Arbeit ist es, einen Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit zu zeigen. Es soll aufgezeigt werden, wie die befragten weiblichen Jugendliche mit Migrationshintergrund ihre Übergangssituation im Kontext ihrer Lebensumstände erleben.
1.3. Forschungslücke und Relevanz der Arbeit
Es gibt zahlreiche Studien und Erklärungsansätze, warum Jugendliche mit Migrationshintergrund noch immer eine Gruppe sind, die trotz ihrer Heterogenität in Biografien, Herkunftsländern und sozialem Status durchschnittlich konsequent schlechtere Leistungen im Bildungssystem erbringen und denen auch der Übergang von der Schule in den Beruf schlechter gelingt als ihren Altersgenossinnen ohne Migrationshintergrund.
Die Besonderheit dieser Arbeit ist, dass im theoretischen Teil Einflussfaktoren auf die Jugendlichen mit dem psychologisch-pädagogischen Konzept der Selbstwirksamkeit zusammengebracht werden. Selbstwirksamkeit wird spezifisch in der Schulforschung verwendet, zur Förderung der Lernmotivation zum Beispiel. Hierzu gibt es Forschungen, inwieweit die Schule einen Beitrag zur Förderung von Selbstwirksamkeit leisten kann (vgl. Schwarzer/ Jerusalem 2002: 502 ). Es gibt bis jetzt wenige Studien im deutschsprachigen Raum, die Selbstwirksamkeit im Kontext der Übergangsforschung untersuchen. Ausnahmen sind Forschungen von Solga (2012) und Buchholz (2012), die sich jedoch mit Ausbildungsreife von leistungsschwachen Jugendlichen beschäftigen, was wiederum sehr spezifisch ist. AI- hussein erforscht 2009, wie Jugendliche den Übergang direkt vollziehen und setzt seine Forschung am Schulaustritt an. Am detailliertesten arbeiten Zimmermann und Skrobanek (2013) den Forschungsstand auf, denn sie beschäftigen sich mit der Rolle der allgemeinen Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Ausbildungsübergang. Diese Studie ist inhaltlich am nächsten an den Überlegungen dieser Arbeit verortet, sie setzt jedoch quantitativ an. Außerdem werden die Jugendlichen am Übergang begleitet, so dass untersucht wird, welchen Einfluss die Selbstwirksamkeit letztendlich auf den realen Erfolg hatte. Es wurde kein Fokus auf benachteiligte Gruppen oder Bildungsaufsteigerinnen gelegt. Kinder mit Migrationshintergrund werden in Ergebnissen zum Teil als Gruppe explizit gesondert erwähnt, stehen jedoch nicht im Fokus der Untersuchung (vgl. Skrobanek 2013: 361).
Ansätze zur Selbstwirksamkeit werden üblicherweise quantitativ mit Hilfe von Fragebögen (vgl. Weiland 2013: 202) erfragt. Diese enthalten Skalen, mit denen die Jugendlichen mit Hilfe vorgegebener Abstufungen ausfüllen sollen, wie sie sich in verschiedenen Bereichen selbst einschätzen (vgl. Schwarzer/Jerusalem 1999: 1).3
Zudem wurden die Zielsetzungen und Pläne der Jugendlichen in dieser Arbeit qualitativ erfragt. Das Herauslösen des psychologischen Ansatzes aus den quantitativen Erhebungsmethoden ist gewinnbringend, da auftretende Persönlichkeitseigenschaften detailliert in einen Kontext mit den Lebensumständen gesetzt werden konnten. Der/die Jugendliche steht nicht allein mit seinen Zielen, Vorlieben und Überzeugungen im luftleeren Raum. Zudem muss beachtet werden, dass die Selbstwirksamkeitserwartung ein westlich geprägtes Konzept ist. Nicht-Übereinstimmungen müssen nicht zwangsläufig heißen, dass Jugendliche nicht an sich selbst glauben, sondern dass sie westliche Werte nicht übernehmen (vgl. Rohr 2004: 6). Diese Möglichkeit kann ebenfalls im qualitativen Kontext offengelegt werden, während es in einer quantitativen Erhebung verborgen bleiben kann. Außerdem wird die These vorangestellt, dass eine Skala nicht alle Nuancen von Selbstwirksamkeit und SelbsteinSchätzungen erfassen kann, was Weiland bereits in ihrem Überblick zur Forschung von Selbstwirksamkeit feststellt (vgl. Weiland 2013: 202). Eine Studie, die im deutschen Raum qualitativ mit der Selbstwirksamkeit arbeitet, befasst sich mit der Motivation von Schwedinnen, Deutsch zu lernen (Kirchner 2004). Im englischsprachigen Raum gibt es bereits mehrere qualitative Untersuchungen, die das Konzept der Selbstwirksamkeit nutzen und damit zur Selbsteinschätzungen von Lehrkräften forschen (vgl. Wyatt 2015: 117). Das Konzept wurde also bereits in qualitativer Forschung genutzt, jedoch zu anderen Forschungszwecken.
Abschließend wird die Forschungslücke noch eindeutiger durch den Fokus auf Jugendliche mit Migrationshintergrund definiert. Es gibt einige Arbeiten, die speziell zum Übergang von Jugendlichen mit Migrationshintergrund geforscht haben (bspw. Boos-Nünning 2006, Granato 2011,2014a und 2014b). Es existiert jedoch keine Forschung zum Thema Schulübergang unter dem Einfluss der Selbstwirksamkeit, die sich vordergründig oder ausschließlich auf Jugendliche mit Migrationshintergrund bezieht. Alhussein (2009) und Skrobanek/Zimmermann (2013) erforschen Selbstwirksamkeit quantitativ an Schulübergängen, dort steht der Faktor Migrationshintergrund jedoch nur neben anderen und wird nicht im Detail analysiert.
Die Lücke, die mit dieser Masterarbeit geschlossen wird, definiert sich folgendermaßen: Zunächst werden die Theorie zur Selbstwirksamkeit und zu Schulübergängen auf Jugendliehe zusammengebracht und zusätzlich auf Jugendliche mit Migrationshintergrund fokussiert. Der Migrationshintergrund wird durch das Sample zur übergeordneten Komponente und steht nicht als ein Einflussfaktor neben weiteren. Weiterhin wird ein quantitativer Ansatz in eine qualitative Forschung integriert, was, in Bezug auf die Thematik der Arbeit, ebenfalls neu ist. Die Reichweite einer qualitativen Forschung an nur einer Schule ist sicherlich sehr begrenzt und sind nicht allgemein gültig. Sie sind zudem als Momentaufnahme zu betrachten. Trotzdem können neue Aspekte und der gewählte Ansatz Erkenntnisse für diesen Rahmen erbringen.
1.4. Hinführung zur Fragestellung
Bevor sich aus den Daten eine übergeordnete Fragestellung herauskristallisierte, wurde ein Forschungsinteresse formuliert, welches sich in verschiedene Unterfragen aufteilt. Nach der ersten Literaturrecherche zu den Themen Selbstwirksamkeit und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem wurde ein Forschungsinteresse formuliert. Dieses sieht folgendermaßen aus:
1) Wie gehen die Jugendlichen mit dem Prozess der Berufsfindung um?
2) Welche Ziele haben Sie? Welche Pläne machen Sie sich?
3) Vertrauen die Jugendlichen auf ihr Können und ihre eigenen Pläne?
4) Fühlen Sie sich unterstützt und wertgeschätzt in ihrem Berufsfindungsprozess?
Aufbauend auf diesem Interesse ist der Leitfaden aufgebaut. Dessen Fragen an die Jugendlichen sollen helfen, das Forschungsinteresse zu beantworten. Die ersten drei Fragen sind stark auf das Individuum selbst bezogen. Die letzte Frage geht den direkten Einflüssen nach, die auf die Jugendlichen einwirken. Zusätzlich bewegte sich ein breiter Diskurs im Material rund um das Thema ״Chancengleichheit“ und allgemein gesellschaftliche Verhältnisse. Dies wurde kodiert und in die Forschungsergebnisse mit aufgenommen, so dass sich die weiterführende Frage, direkt aus dem Material, ergibt:
5) Wie bewerten die Jugendlichen ihre Chancen und Leistungen im Vergleich und in Bezug auf ihren Migrationshintergrund?
Außerdem wurden aus den Daten implizit verschiedene Wege und Handlungsstrategien deutlich, so dass sich als letztes die folgende Frage anschließt:
6) Welche Erfolgsstrategien entwickeln sie für sich, um Zukunftserwartungen für sich zu erfüllen?
Die übergeordnete Forschungsfrage lautet letztendlich:
Wie gestalten sich die Zukunftserwartungen von Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen eigenen Persönlichkeitsmerkmalen und äußeren Einflussfaktoren?
In dieser Frage fügen sich sowohl das anfangs formulierte Forschungsinteresse sowie auch die herausgearbeiteten Einflussfaktoren zusammen. Die Jugendlichen stehen mit ihren Zukunftserwartungen weiterhin aktiv im Zentrum der Forschung. Die Fragestellung ist expío- rativ und untersucht einen konkreten Ausschnitt sozialer Wirklichkeit. Sie berücksichtigt die Jugendlichen als Akteure, ihren Migrationshintergrund, ihre selbstoffenbarten Ziele und zuletzt die implizit herausgearbeiteten Einflussfaktoren. Sie setzt alles miteinander in Verbindung und schöpft somit das Potenzial der Daten größtmöglich aus. Als Ergebnis stehen Thesen, die Denkmuster und Strategien offenbaren und gleichzeitig die Jugendlichen in ihren Handlungsräumen verorten. Es stellt sich die Frage, wo insbesondere auf Grund des relativ homogenen Samples deutliche Erlebensunterschiede auftreten und bei welchen Themen und Haltungen Übereinstimmung oder Differenzen sichtbar werden. Die Thesen werden letztendlich mit explizit auf die Forschungsergebnisse bezogener Literatur ausgewertet und unter der Forschungsfrage zusammengefasst.
2. Theorie: Der Forschungsstand
ln diesem Teil der Arbeit werden die zahlreichen Erklärungsansätze rund um das Thema Übergang zwischen Schule und Beruf miteinander in Verbindung gebracht und der Diskurs somit Umrissen. Zunächst stellt sich die wichtige Frage: Was umfasst der Diskurs? Im Fokus steht ganz konkret das eng eingegrenzte Thema: Die Schwelle zwischen Schule und Beruf. In weiteren Kreisen ordnen sich größere Themenkomplexe herum an. Zunächst wird das Feld geteilt, denn es lässt sich eine Unterscheidung zwischen der Beeinflussung des übergangs auf gesellschaftlicher Ebene und auf individueller Ebene feststellen.
״Übergänge von der Schule in den Beruf stehen im Schnittpunkt oder Spanungsverhältnis zw¡- sehen Individuellen Handlungsstrategien und sozialstrukturellen sowie Institutionellen Rahmen- bedlngungen, Gelegenheiten und Begrenzungen. [...] Es geht um die Individuelle Gestaltbarkelt biographischer Übergänge angesichts gegebener äußerer Bedingungen“ (Gaupp 2013: 2).
Genau dieses Spannungsverhältnis und die Gewichtung potentieller Einflussfaktoren sollen durch das Zusammenführen der aktuellen Forschungsliteratur deutlich gemacht werden. Faktoren, die in starker Gewichtung bis zum Schulaustritt auf die Jugendlichen einwirken sind in größten Teilen Gesellschaft, Familie, soziales Netzwerk und die Schule als institūti- önelle Einrichtung4. Während gesellschaftliche Institutionen und Ordnungen als Einflussgroße auf das Individuum einwirken, entstehen individuelle Ordnungsmuster und Strategien aus ihm heraus. Natürlich stehen diese Seiten miteinander im Wechselverhältnis, so wie Jugendliche die Gesellschaft beeinflussen, beeinflussen gesellschaftliche Ordnungen auch sie.
Individuelle und gesellschaftliche Faktoren lassen sich jedoch oft gar nicht trennen. Bourdieu, der in dieser Arbeit ausführlich herangezogen wird, unterscheidet nicht zwischen gesellschaftlicher und individueller Ebene (vgl. Schroeder 2002: 230). Es wird also einige Verwebungen geben. Die Kapitel werden dennoch unterteilt, da zunächst Einflussfaktoren untersucht werden, die auf die/den Jugendliche/n einwirken, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene. Im zweiten Teil des Forschungsstandes geht es um die individuelle Gestaltung der Lebenswelten der Jugendlichen. Hierzu wird das psychologische Konzept der Selbstwirksamkeit genutzt.
2.1. Grundannahmen
2.1.1. Der Prozess des Übergangs: Von der Schule in den Beruf
Die Schwelle von der Schule ins Berufsleben wird von Schulen bereits frühzeitig thematisiert. Im Bundesland Bremen beginnt das Fach WAT (Wirtschaft - Arbeit - Technik), welches den Fokus Berufseinstieg hat, ab der fünften Klassenstufe unter anderem mit dem Thema ״Berufsbilder und Tätigkeiten“ (Landesinstitut für Schule 2012: 8). Es gibt den Berufsschnuppertag ״Girls Day“5 der ebenso verpflichtend für alle Schülerinnen ist wie Praktika und individuelle Berufsberatungen. Zusätzlich finden an vielen Schulen von der siebten Klasse an Potenzialanalysen von freien Bildungsträgern statt. Die Jugendlichen werden in verschiedenen Kontexten, mittels Wissensvermittlung, Praktika und dem Herausfinden der eigenen, individuellen stärken, Schwächen und Wünsche mit dem Thema konfrontiert und setzen sich aktiv mit ihm auseinander.
Mit dem Ende der Schulpflicht nach der zehnten Klasse6 stellt sich für Jugendliche die EntScheidung, wie ihr weiterer Weg gestaltet werden soll. Es muss entschieden werden, ob die Schule weiter besucht oder der Einstieg in die Berufswelt angestrebt wird. Als Einstieg in die Berufswelt werden eine Ausbildung, ein Studium, oder auch Angebote wie ein Freiwilliges soziales Jahr7 oder ein Au-Pair-Jahr angesehen. Zusätzlich gibt es Übergangsangebote von der Bundesagentur für Arbeit, falls kein direkter Einstieg gefunden werden kann8. Natürlich unterliegt jedes dieser Angebote unterschiedlichen Zugangsbeschränkungen oder Voraussetzungen, so stehen nicht allen Schülerinnen alle Angebote offen (vgl. Aybek 2014: 33). Spätestens nach dem Abitur soll eine schulunabhängige Entscheidung für oder gegen eine Weiterbildungs- oder Berufsmöglichkeit getroffen werden. Es muss also unterschieden werden zwischen dem Handlungsschritt an sich und den verschiedenen Stadien der Vorbereitung. Es gibt das Thematisieren und die Auseinandersetzung mit dem Berufsfindungsprozess, die Bewerbungsphase oder gegebenenfalls die Stellensuche kurz vor dem Schulabschluss und den möglichen Berufseintritt nach Beendigung der Schule. Für diese Arbeit ist vor allem der Berufsfindungsprozess relevant: Es ist nicht von Bedeutung, welcher Beruf letztendlich ergriffen wird oder wie die Lebensgestaltung in der Realität vollzogen wird. Der Fokus liegt auf dem Prozess der Findung, wenn das Thema bereits zur Lebenswelt gehört, die konkrete Entscheidung jedoch noch in der Zukunft liegt.
Von Schule zu Schule und Bundesland zu Bundesland unterscheiden sich Angebote und Verpflichtungen geringfügig. Es kann jedoch gesagt werden: In der Lebenswelt Jugendli- eher taucht das Thematisieren des Übergangs ab der Mittelstufe kontinuierlich auf (vgl. Landesinstitut für Schule 2012: 8).
2.1.2. Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem
Um zu verstehen, was an schulischen Übergängen, gerade an der Schwelle von der Schule in den Beruf, geschieht, muss zunächst gefragt werden: Was sind die Ursachen dafür, wie dieser Schritt gemeistert wird und wie verläuft er?
Nach dem Bildungsauftrag, dem die Schule normativ als Institution unterliegt, werden Jugendliche unterrichtet, somit gebildet, und gleichzeitig auf das spätere Berufsleben vorbereitet (vgl. Fend 2008: 29). Ziel der schulischen Bildung soll die ״Chancengleichheit beim Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Gütern“ (Granato 2014b: 91) sein. ״Bildungsgerech- tigkeit, verstanden als gleichberechtigte Teilhabe aller Mitglieder der Gesellschaft an diesem Gut, ist hierfür eine wichtige Voraussetzung“ (ebd.). Diese Bildungsgerechtigkeit, eines der ״wichtigsten gesellschaftlichen Ziele“ (ebd.), wird in Deutschland momentan nicht erreicht.
Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund schneiden nach wie vor konsequent in bundesweiten Studien wie PISA und IGLU schlechter ab (vgl. Maaz et. al. 2016: 47) und bleiben dreimal so häufig ohne Schulabschluss wie ihre Schulkameradinnen ohne Migrationshintergrund (vgl. ebd.: 6f.). Dabei liegen weibliche Jugendliche mit Migrationshintergrund vor männlichen Jugendlichen, bleiben jedoch trotzdem hinter ihren Altersgenossinnen ohne Migrationshintergrund zurück (vgl. Hummrich 2009: 20f.). Auch wenn sich einige Jugendliche mit Migrationshintergrund erfolgreich im deutschen Bildungssystem beweisen (vgl. Hummrich 2009: 9), ist und bleibt der Großteil strukturell benachteiligt (vgl. Granato 2014b: 92). Dieses Phänomen setzt sich über die Schullaufbahn hinaus fort und verstärkt sich im Übergang zu Ausbildung und Studium, denn speziell jungen Frauen mit Migrationshintergrund gelingt der Übergang in den Beruf bei gleichem Abschluss schlechter als ihren Altersgenossinnen ohne Migrationshintergrund (vgl. Hummrich 2009: 21). Auch an späterer Stelle zeigt sich: ״Familien mit Migrationshintergrund sind häufiger erwerbslos. Zudem sind seltener beide Partner erwerbstätig und der Mann ist häufiger der alleinige Verdiener“ (Maaz et. AI. 2016: 45).
Zweifellos ist die Annahme utopisch, dass in einem Staat, in dem das Bildungssystem föderal organisiert ist, alle Kinder und Jugendlichen dieselbe Behandlung erfahren können. Doch ungleiche Startchancen und Disparitäten an frühen stellen und Schwellen im Bildungssystem negieren sich nicht, sondern setzen sich in ganz Deutschland von der Schule bis in den Übergang und das Erwerbsleben kontinuierlich fort - sie verstärken sich an einigen Stellen zudem noch (vgl. Granato 2014b: 91).
2.1.3. Die Verschränkung von Migrationshintergrund, Geschlecht und sozia- 1er Herkunft
Der Migrationshintergrund kann nicht als alleinige Ursache für das schlechtere Abschneiden in der Schule und dem Erwerbsleben stehen. Die soziale Herkunft wird mittlerweile in der Forschung als einflussreicher Faktor gesehen, denn es ist bis heute ״nicht gelungen, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubreChen“ (Maaz et. AI. 2016: 8). Der Migrationshintergrund kommt oft insofern dazu, da ״gerade Kinder mit Migrationshintergrund überproportional häufig in sozialen Risikolagen aufwachsen“ (ebd.). Sie bilden also in dieser Gruppe einen überdurchschnittlich hohen Anteil. In der Forschung geht man mittlerweile davon aus, ״dass der Einfluss des Migrationsstatus auf den Bildungserfolg ein Spezialfall des kausalen Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungschancen ist“ (Becker/Schubert 2011: 162). Der Abbau sozialer Ungleichheiten muss also Hand in Hand mit der Verringerung migrationsspezifischen Disparitäten erfolgen (vgl. Maaz et. al. 2016: 50), um die bestehende Problematik zu lösen.
King spitzt diese Disparitäten noch auf eine besonders benachteiligte Gruppe zu: die der Frauen. Sie nennt diesen Fall, der zugleich eine stark marginalisierte Gruppe beschreibt, die Verschränkung von ״gender, class, ethnicity“ (King 2008a: 89). Das Geschlecht wird für Jugendliche an verschiedenen stellen zum diskriminierenden Faktor. Männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund sind eher in der Schule benachteiligt, bleiben mit ihren Leistungen unter dem Durchschnitt und verlassen häufiger die Schule ohne Abschluss als weibliehe Jugendliche mit Migrationshintergrund (vgl. Diefenbach 2007: 76). Weibliche Jugendliehe schneiden bei den Schulleistungen besser ab, können aber ״ihre Bildungserfolge im Übergang zum Arbeitsmarkt und in den Berufskarrieren nicht Umsetzen“ (King 2008a: 89). Zudem bleiben sie häufiger als junge Frauen ohne Migrationshintergrund ohne weiterführenden Bildungsabschluss (vgl. Segeritz et al. 2010: 130). Rohr spricht an dieser stelle von einer doppelten Diskriminierung, der als Frau und als Migrantin (vgl. Rohr 2004: 4).
2.2. Beeinflussende Faktoren
ln den folgenden Teilkapiteln werden Faktoren dargestellt, die von außen auf die JugendliChen einwirken. Individuelle Faktoren betreffen die Jugendlichen als Einzelne und in einer spezifischen Situation, gesellschaftliche Faktoren wirken auf institutioneller Ebene und betreffen meist Gruppen, die ein gemeinsames Merkmal haben.
2.2.1. Individuelle Faktoren
Die Ansätze des Soziologen Pierre Bourdieu bieten sich an, Mechanismen von BildungsUngleichheiten zu erklären. Dazu gehören seine Überlegungen zur Kapitalausstattung des Menschen, dem Milieubegriff und dem Habitus. Bourdieus Überlegungen schreiben Individuen verschiedene Arten von Kapital zu, über welches sie im sozialen Raum verfügen und welches sie dort positioniert (vgl. Bourdieu 1983: 183). Die Kapitalausstattung trägt dabei maßgeblich zum schulischen Erfolg bei (vgl. Schroeder 2002: 266). Kapital ist an dieser Stelle nicht wirtschaftlich zu sehen, es legt vielmehr den Schwerpunkt auf mögliche Ressourcen und Ausgangslagen von Individuen oder Gruppen.
״Bourdieu unterscheidet drei grundlegende Kapitalsorten: ökonomisches Kapital, das unmittelbar In Geld konvertierbar Ist; kulturelles Kapital, das sich beispielsweise In Form von schulischen Bildungstiteln akkumuliert und sich um Erlangen gut entlohnter Jobs ,auszahlen‘ kann; soziales Kapital, das sich aus der Art der sozialen Beziehungen zusammensetzt und ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die soziale Positionierung des Individuums hat.“ (Schroeder 2002: 231)
Das ökonomische Kapital ist durch materielle Ressourcen über Zugangsbedingungen und sozialen Status (vgl. ebd.: 253) determiniert. Kulturelles Kapital kann einerseits durch Titel oder Abschlüsse ausgedrückt werden (vgl. Bourdieu 1983: 185), die selbstverständlich eine große Rolle in der Schullaufbahn oder beim Berufseinstieg haben. Andererseits wird der Aspekt des Wissens über die ״herrschenden Kultur“ (Rehbein 2001: 112) als wichtige Voraussetzung für Bildungserfolg wichtig (vgl. ebd.). Ein bildungsnahes Elternhaus ist hier ebenso von Vorteil wie das Wissen um die Begebenheit des deutschen Schulsystems. Ein hohes soziales Kapital, welches sich durch die Einbindung in lokale soziale Beziehungen äußert (vgl. Bourdieu 1983: 190f.), erleichtert es Menschen, sich unterschiedlichste Sozialräume anzueignen (vgl. Schroeder 2002: 262). Dazu zählt auch der Berufseinstieg. Die Kapitalverteilung kann keine abschließenden Angaben über Erfolg oder Misserfolg in einer Gesellschaft geben: Wichtig bleibt jedoch an dieser stelle, dass verschiedene Beziehungen und Eigenschaften einzelner Personen Auswirkungen auf die Positionierung innerhalb der Gesellschaft haben können.
Das Kapital wird zu einer sozial erforderlichen Handlungsressource (vgl. Rehbein 2011: 111), denn schulischer Erfolg setzt sich nicht nuraus individuellen, kognitiven Leistungen zusammen, ״sondern ist auch ein Ergebnis der Möglichkeiten, die die Einzelnen haben“ (Schroeder 2002: 226). Laut Bourdieu ist es vor allem das kulturelle Kapital, welches hilft, die Ungleichheit schulischer Leistungen von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Klassen oder Milieus zu begreifen (Bourdieu 1983: 185). Kinderwachsen in einem Umfeld auf, welches durch die familiäre Sozialisation geprägt ist, sie erleben also einen selektiven Ausschnitt des sozialen Lebens (vgl. El-Mafaalani 2014: 17), der für sie als soziale Wirklichkeit erscheint und deren Praktiken, Strategien und Symbole sie deuten können und kennen. Das ist das Milieu, in dem sie aufwachsen. Einige, für höhere Bildungswege erforderliche Kompetenzen, können Kinder und Jugendliche innerhalb dieses Rahmens nicht erwerben.
Der Habitus setzt sich aus der Aneignung sozialer Handlungsformen zusammen (vgl. Rehbein 2006: 87). Er ist abhängig vom Kapital, welches den einzelnen Individuen zur Verfügung steht (vgl. ebd.: 111). Das Konzept beschreibt die Tendenz von Menschen mit ähnli- ehern Habitus, ähnlich zu handeln (vgl. ebd. 90), und zwar meist so, wie es beim ersten Mal erlernt wurde (vgl. ebd.). Der Habitus wird oft ungefragt akzeptiert: die aktuelle Stellung und Praktiken werden selten aktiv in Frage gestellt oder verlassen (vgl. Benischke 2016: 219), und wenn, dann ist dies mit Aufwand und Anstrengung verbunden, da das gewohnte Milieu verlassen wird und somit eine Entfremdung vom Gewohnten und Erlernten stattfindet.
Als weiterer Erklärungsansatz gilt die Rational-Choice-Theorie, nach der Bildungsentscheidungen nach einem Kosten-Nutzen-Faktor getroffen werden (Boudon 2003: 2). Bei übergangsentscheidungen spielt also auch eine Rolle, was der weiterführende Schulbesuch an Kosten verursacht: dazu gehören auch entgangenes Einkommen oder notwendige UnterStützungsleistungen (vgl. Ditton/Aulinger 2011: 101). Diese Kosten werden von den Individuen stets subjektiv bewertet. Höheres Ausgangskapital beeinflusst auch hier positiv die Affinität zu höheren Bildungswegen. Dies wird auch daran sichtbar, dass höhere Bildungsabschlüsse und Einkommen der Eltern (auch übertragen: ökonomisches und kulturelles Kapital) Kindern Vorteile in ihrer eigenen Bildungslaufbahn bringen (vgl. Middendorf et. al. 2013, 75 ff.). Diese Art von Phänomenen fasst Boudon 1974 unter primären Herkunftseffekten zusammen (vgl. Granato/Ulrich 2014: 206). Es sind Suggestionen, die direkten Einfluss auf den Bildungsverlauf der Kinder und Jugendlichen haben. Die Einflussnahme der Eltern und der Familie und eigene Kapitalausstattung gehören dazu. Sekundäre Herkunftseffekte sind wiederum die, die sich aus diesen ergeben, beziehungsweise institutionell wirken (vgl. ebd.) und im folgenden Kapitel erläutert werden.
2.2.2. Gesellschaftliche Faktoren
Auch Erklärungen auf gesellschaftlicher Ebene beziehen Auffassungen von Pierre Bourdieu mit ein. Das Schulsystem bietet nicht, wie normativ gefordert, gleiche Zugänge und Chancen für alle Schülerinnen, sondern bevorzugt stillschweigend einen bestimmten Habitus und implizites Wissen. ״Anerkennung und Missachtung sind dabei immer auf das Normsystem des Schulischen [...] und das Normsystem der jeweiligen Schulkultur bezogen“ (Hummrich 2011: 262). Das heißt, Schülerinnen müssen die Praktiken und Werte verinnerlichen und reproduzieren, um sich im Feld Schule erfolgreich zu behaupten. Für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund kann das bedeuten, dass sie sich assimilieren müssen, um im schulischen Umfeld erfolgreich zu sein (vgl. Becker/Schubert 2011: 165).
Ebenfalls in der Schule zum Tragen kommen Mechanismen institutioneller Diskriminierung. Institutioneile Diskriminierung setzt sich aus vielen einzelnen Bestandteilen zusammen, die sich aus Einzelentscheidungen, politischen Vorgaben, Merkmalen des Schulsystems, organisatorischen Handlungszwängen und etablierten Praktiken ergeben (vgl. Gomolla 2011: 189). In einer breit angelegten Forschung von Gommola und Radtke wurden unter anderem folgende Phänomene beobachtet: Zurückstufung von Kindern aus sprachlichen Gründen und Nicht-Überweisung auf Gymnasien auf Grund angeblich fehlender Sprachkenntnisse oder fehlender Unterstützung der Eltern (vgl. ebd.: 188f.). Außerdem wurden kulturalisie- rende Annahmen über Kinder ohne vorherige Überprüfung des Wahrheitsgehalts angestellt (vgl. ebd.). Viele dieser Mechanismen geschehen implizit, weil sie auf die etablierten Praktiken des Schulhabitus aufbauen. So konstatiert Hartmut Esser in einem aktuellen Beitrag von 2016: ״Die Bildungsempfehlungen sind meist formell an die Vorgabe der Noten декор- pelt. Daher sind keine weiteren Nachteile bei den Kindern aus bildungsfernen Milieus zu beobachten“ (Esser 2016: 348, nach Ditton et al. 2005 und weiteren, Hervorhebung im Originai). Die Bildungsempfehlung wird kausal als Resultat von Schulnoten gesehen, so dass formal Gerechtigkeit zu bestehen scheint. Dass diese Noten von Einzelpersonen vergeben werden, wird an dieser stelle völlig ausgeblendet. Dies ist nur ein Beispiel für die Problematik der institutioneilen Diskriminierung: sie ist oft nicht sichtbar. Trotz mehrerer Publikationen, die institutioneile Diskriminierung thematisieren, ist selbst in der Forschung bis jetzt kein allumfassendes Bewusstsein für diskriminierende Praktiken vorhanden. Außerdem wird, inhaltlich gesehen, an dem Beispiel der Notenvergabe deutlich: Wenige Akteurlnnen haben eine große Entscheidungsgewalt über die Bildungskarrieren der Schülerinnen.
Institutioneile Diskriminierung setzt sich im Übergang zwischen Schule und Beruf fort. Dieser wird geprägt durch das ״Zusammenspiel von Strukturen sozialer Sicherung, allgemeiner und beruflicher Bildung, des Arbeitsmarktes sowie geschlechtsspezifischen Zuweisungen“ (Walther/Pohl 2006: 35). Hier können unterschiedliche Deutungen zu individueller oder struktureller Benachteiligung führen (vgl. ebd.). Denn auf dem freien Arbeitsmarkt haben einzelne Personalverantwortliche die Entscheidungsmacht. Liegen beispielsweise Vorurteile auf Grund des Geschlechts oder der Ethnizität vor, werden die entsprechenden Gruppen benachteiligt.
Ebenfalls zur institutioneilen Diskriminierung gehört das Berufen auf kulturelle, soziale oder ethnische Unterschiede, die jedoch oft nicht gegeben, sondern häufig erst durch Lehrpersonen, Berufsbegleiterinnen oder Arbeitgeberinnen hergestellt werden (vgl. Bornmes/Radtke 1993: 487). Diese Phänomene werden in neueren Forschungen immer noch festgestellt (vgl. Gomolla 2011: 188f.). Allein am Alter der Quelle von Bommes und Ratke sieht man, dass viele der Probleme bereits lange bekannt sind, im Alltag jedoch immer noch greifen und Ausschluss und Benachteiligung generieren können. Damit einher gehen scheinbare (An-)Passungsprobleme als Erklärungsansatz. Diese treten auf, da die Schule als Institution einen bestimmten Habitus bevorzugt. Mecheril betont jedoch, dass Familien mit Migrationshintergrund nicht zwangsläufig einen Mangel an Ressourcen haben, sondern dass die ״Passung“ zwischen denen der Schule und den familiären Ressourcen nicht besteht (vgl. Mecheril 2004: 141). Als großes (An-)Passungsthema zählt bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Sprache. Im Bildungsbericht von 2016 heißt es hierzu: ״Für die Integration in das Bildungssystem und die gesellschaftliche Teilhabe kommt es ohne Zweifel darauf an, die deutsche Sprache zu beherrschen“ (Maaz et al. 2016: 48f.). Auch Esser schließt sich an: ״Bei den Migrantenkindern bildet die sprachliche Akkulturation eine (zusätzliche) Bedingung, dass sich die positiven Effekte der Differenzierung auswirken können“ (Esser 2016: 385, Klammer im Original). Hier liegt eine klare Tendenz vor, die Betroffenen in der Pflicht zu sehen, sich anzupassen, das heißt, sich die deutsche Sprache anzueignen. Das Problem wird individualisiert. Die Forderung nach Maßnahmen wie frühzeitige Sprachförderungsangebote (vgl. Becker/Schubert 2011:190) nehmen Schule und Gesellschaft zwar in die Handlungspflicht, trotzdem bleibt die Forderung der Anpassung bestehen. Andere Forschungen sehen auch das Schulsystem und die Gesellschaft in der Pflicht, alte Praktiken zumindest ein Stück weit aufzubrechen: ״Gerade benachteiligte Kinder und Jugendliche sind auf die Qualität des schulischen Angebots besonders angewiesen. Wenn aber [..] nachhaltige Wirkungen erzielt werden sollen, muss sich die Gesellschaft als Ganzes gefordert sehen“ (Ditton/Aulinger 2011: 114). Ungleichheiten und entstehende Problematiken werden hier auf gesellschaftlicher Ebene gesehen. Dies ist wichtig, da je nach Forderung eine ganz andere Gewichtung der Handlungspflicht jeweils auf die Schü- lerlnnen oder die Bildungseinrichtungen gelegt werden.
Ein letzter Faktor, der maßgeblich von der Schule ausgeht, ist die Vermittlung von Werten. Maßnahmen, Schulwissen und auch der Status des Berufs werden in der Schule als Institution stark kontextualisiert (vgl. Fend 2008: 29). Der Beruf wird als Profession vermittelt, die im Lebensmittelpunkt stehen soll und über die eine starke Selbstdefinition stattfindet. Zudem lässt sich eine westlich geprägte Selbstverständlichkeit feststellen, die eine starke Wertschätzung des Individuums vorsieht (vgl. Rohr 2004: 6). Eine Hochhaltung des Berufs und dieses Wertesystems muss aber nicht zwangsläufig mit den Werten einzelner Schülerinnen übereinstimmen. Laut Forschungen von Elisabeth Rohr kann sie sogar Widersprüche hervorrufen und bei Migrantlnnen auf Widerstand stoßen (vgl. Rohr 2014: 6), da die Schule (unreflektiert) Werte vermittelt, die für sie gar nicht erstrebenswert sind und die sie möglicherweise gar nicht erreichen wollen. Dies ist ein Faktor, der die Migrationsspezifik laut Rohr am deutlichsten hervorhebt: Alle anderen Erklärungen zu Benachteiligungen seien sowohl auf (deutsche) Arbeiterkinder als auch auf Kinder mit Migrationshintergrund anwendbar (vgl. Rohr 2004: 5). Dies ist insofern richtig, als dass Arbeiterkinder genauso wie Kinder mit Migrationshintergrund erschwerte Bedingungen haben und sich gerade Bourdieus Überlegungen übertragen lassen. Trotzdem wirken gerade Mechanismen der institutioneilen Diskriminierung noch einmal stärker oder überhaupt erst bei einem vorhandenen Migrationshintergrund, und auch die Sprachprobleme werden Arbeiterkindern meist nicht begegnen. Was man aber außerdem beachten sollte: Einen Migrationshintergrund zu haben, schließt nicht aus, gleichzeitig ein Arbeiterkind zu sein. Oft verschränken sich diese Faktoren.
2.3. Individuelle Persönlichkeitseigenschaften
Nach Faktoren, die auf Jugendliche einwirken, werden nun psychosoziale Ansätze hinzugezogen: Bliebe es bei den erklärten Konzepten, verharren die Jugendlichen stark objektiviert unter den Einflüssen, die von außen auf sie wirken. Ihr eigenes Handeln und ihre individuellen Persönlichkeitseigenschaften fließen jedoch genauso so in ihre Bildungsverläufe mit ein wie äußere Faktoren. Zusätzlich zeigen die Konzepte, die hier erläutert werden, warum einzelnen Schülerinnen dennoch der Bildungsaufstieg gelingt, obwohl die von außen einwirkenden Faktoren möglicherweise eher dagegensprechen.
Das Konzept, unter dem individuelle Persönlichkeitseigenschaften erläutert und zusammengefasst werden, beruht auf den Theorien zur Selbstwirksamkeit.
2.3.1. Das Konzept der Selbstwirksamkeit
Ursprünglich wurde das Konzept der Selbstwirksamkeit als sozial-kognitive Theorie von AI- bert Bandura entwickelt (vgl. Jerusalem/Schwarzer 2002: 35). Es lässt sich in die pädagogisch-psychologische Motivationsforschung einordnen und wird im bildungsspezifischen Kontext häufig angewandt, um Selbsteinschätzungen von Schülerinnen zu untersuchen (bspw. in der Forschung von Alhussein 2009).
Unter dem Oberbegriff der Selbstwirksamkeit wird verstanden, wie ein Individuum sich selbst wahrnimmt und sich und seine Fähigkeiten verortet. Es steht die These voran, dass ״kognitive, motivationale, emotionale und aktionale Prozesse“ (Schwarzer/Jerusalem 2002: 35) durch subjektive Überzeugungen gesteuert werden (vgl. ebd.). Das heißt, der Glaube daran, etwas zu schaffen, beeinflusst unterbewusst die Motivationen und Emotionen, was wiederum Einfluss auf das Handeln von Individuen hat.
Fähigkeiten werden in der Forschung oft ״Kompetenzen“ genannt, sodass der Begriff der Selbstwirksamkeit eine ״grundsätzliche Sichtweise auf das Zusammenspiel von Kompetenzen und Kompetenzerwartungen“ (vgl. Weiland 2013: 203) beschreibt. Selbstwirksamkeit ist dabei das Bewusstsein über das eigene Wirken und steht übergeordnet als Konzept der Forschung. Der Begriff Selbstwirksamkeitserwartung lässt die erwarteten Konsequenzen miteinfließen und weitet den Denkprozess, der hinter dem Begriff steht, somit noch aus.
Der Begriff und die dahinterstehende Theorie sind eng mit den Begriffen Selbstwert und Selbstkonzept verbunden (vgl. Weiland 2013: 192f.). Der Grund, warum der Ansatz von Bandura in dieser Arbeit gewählt wurde, ist der Bezug der Forschung zu übergangsprozessen, die gut aufgearbeitete Forschungslage, sowie die Tatsache, dass die Forschung sich innerhalb der Motivationsforschung (vgl. ebd.: 187) positioniert. Die Selbstwirksamkeitsaspekte beziehen motivationale Vorgänge mit ein, diese sind jedoch innerhalb des Konzeptes definiert und schaffen so klare Bezüge und Interpretationsansätze (vgl. ebd.). Das Konzept lässt sich relativ klar fassen und abgrenzen. Es passt auch inhaltlich, denn es beschreibt, gerade unter dem Aspekt der Zielsetzung, differenziert die Wechselwirkung von Konsequenzerwartungen und die Auswirkungen auf das jetzige Denken und Tun der JugendliChen, was für die Fragestellung dieser Arbeit sehr hilfreich ist.
2.3.2. Selbstwirksamkeit als Persönlichkeitsmerkmal
Die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung ist ein Persönlichkeitsmerkmal, welches als ״Bewältigungsressource“ (Schwarzer 1994: 113) gesehen wird. Es beschreibt und analysiert, inwiefern ein Individuum davon überzeugt ist, sich selbst und seine Umwelt beeinflussen zu können (vgl. Zimmermann/Skrobanek 2013: 354). Selbstwirksamkeitserwartungen sind immer subjektiv vom Individuum ausgehend und auf sich selbst bezogen. Das Konzept geht davon aus, dass Menschen aktiv als Akteurinnen ziel- und zukunftsorientiert an der Gestaltung ihres Entwicklungsverlaufs beteiligt sind (vgl. Bandura 1998: 214), die Frage ist nur, in welchem Maße dies individuell geschieht. Faktoren, an denen sich dies messen lässt, sind Zielsetzung, Motivation, Durchhaltevermögen, Anstrengung und Leistungsniveau (vgl. ebd.: 217). Bandura nutzte das Konzept konkret bezogen auf Jugendliche, da im Jugendalter wichtige Entscheidungen getroffen werden. Außerdem bietet die Schule, bei der ständig Leistung von Schülerinnen gefordert wird, einen erkenntnisreichen Raum für Untersuchungen (vgl. ebd.: 214).
Es gibt jedoch natürlich nicht nur selbstwirksamkeitsüberzeugte Menschen und das Gegenteil - die Abstufung ist fließend. Selbstwirksamkeitserwartung kann situationsspezifisch sein (vgl. Schwarzer/Jerusalem 2002: 39f.), das heißt, bestimmte Situationen oder auch Handlungsbereiche können unterschiedlich von einem Individuum in Hinblick auf die SelbstWirksamkeit erlebt werden. Es wird zwischen der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung, die alle Lebensbereiche umfasst (״Lebensbewältigungskompetenz“) und der situationsspezifischen Selbstwirksamkeitserwartung unterschieden (vgl. ebd.). Trotzdem neigen Menschen dazu, in beiden Bereichen übereinstimmend etwas mehr in die ein oder andere Richtung zu tendieren (vgl. Schwarzer/ Jerusalem 2002: 39). Handlungsleitend wird die Selbstwirksamkeit dann, wenn Herausforderungen außerhalb der alltäglichen Routine auftauchen: Stresssituationen, komplexe und unbekannte Aufgaben oder richtungsweisende Entscheidungen zum Beispiel (vgl. Weiland 2013: 188). Besonders relevant wird SelbstWirksamkeit bei selektiven Prozessen, beispielsweise beim Übergang von der Schule in den Beruf (vgl. ebd.), wo Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Selbstwirksamkeit umfasst also sowohl motivationale als auch selektive Prozesse (vgl. ebd.: 188f.).
Es steht die These voran, dass das reine, subjektive Glauben an das Gelingen von Aufgaben oder Plänen dazu führt, dass weniger Angst und Belastung empfunden wird (vgl. Bandura 1998: 214). Zusätzlich sind sich Individuen darüber im Klaren, dass sie selbst für ihren Erfolg verantwortlich sind und schreiben ihn nicht unbedingt (nur) äußeren Faktoren zu, sondern schätzen ihren Beitrag dazu im realistischen Maße ein. Eine positive Erfahrung führt zu einer Neubewertung zukünftiger Situationen (dann werden diese eventuell gar nicht mehr als ״Hürde“ betrachtet), aber auch ein Scheitern wird besser verarbeitet und muss nicht zu einem Vermeidungsverhalten führen (vgl. Schwarzer/Jerusalem: 38). Je höher die Selbstwirksamkeitserwartung einer Person ist, desto seltener verfällt sie in Vermeidungsverhalten und Stress (vgl. Weiland 2013: 189).
Die Selbstwirksamkeit wird nach Bandura von vier wesentlichen Faktoren beeinflusst (vgl. Bandura 1998: 79f.): ״Erfolgserfahrungen bilden die belastbarste Grundlage für Selbstwirksamkeitserwartungen“ (Weiland 2013.: 190). Durch die Erfahrung, schon einmal etwas geschafft zu haben, bildet sich meist eine stabile, hohe Selbstwirksamkeit, die kaum mehr angreifbar wird (vgl. Schwarzer/Jerusalem 2002: 42). Der zweite Faktor sind stellvertretend gemachte Erfahrungen von anderen, welche vorbildlich für das eigene Handeln der Personen wirken (vgl. Weiland 2010: 190). Gerade, wenn das Vorbild einem ähnlichen Erfahrungsraum angehört, stärkt sich der Glaube, die Leistung auch selbst erbringen zu können.
Der dritte Faktor ist die soziale Bestärkung, also positiver Einfluss von außen (vgl. ebd.), wobei die Glaubwürdigkeit der Quelle eine große Rolle spielt. Die Meinung von Personen, denen man nahesteht und/oder denen man die Kompetenzen zur realistischen Einschätzung zuspricht, wird als besonders wichtig gewertet (vgl. ebd.). Als vierter Faktor bleiben emotionale Zustände, wie etwa Aufgeregtheit und Ängstlichkeit, die negativ wirken können (vgl. ebd.).
Kinder zeichnen sich bei gleicher Fähigkeit und hoher Selbstwirksamkeitsüberzeugung durch höhere Ausdauer und Anstrengung, besseres Zeitmanagement und ein höheres AnSpruchsniveau aus. Sie erbringen bessere Leistungen, können ihr Zutun hierfür besser einschätzen und sehen die Ursache für Erfolg eher bei sich selbst (vgl. Bandura 1998: 214 f.). Auch Ziele werden höhergesteckt und die Ausdauer bei schwierigen Aufgaben steigt (vgl. Weiland 2013: 191). Eine Person mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung wird charakterisiert durch eine optimistische Herangehensweise an Probleme, anspruchsvolle ZielSetzungen und eigene Kompetenzbewusstheit (vgl. ebd.). Genauso hemmend wie eine Unterschätzung der Fähigkeiten und Szenarien kann jedoch auch eine unrealistische überSchätzung sein. Da die eigene Kompetenz für selbstgesteckte Ziele zu hoch eingeschätzt wird, geht Überschätzung oft einher mit Nichterreichen von Zielen und Nichtbewältigen von Aufgaben. Die Konsequenzen sind nahezu dieselben wie bei niedriger Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. ebd.: 197). Die ״‘richtige‘ Größe der Selbstwirksamkeit wird in der Literatur das ,realistische‘ Maß genannt“ (Schwarzer/Jerusalem 2002: 48f). Dieses beschreibt, wie Personen ihre Fähigkeiten in ein Verhältnis mit Aufgabenschwierigkeiten setzen. Daraus resultiert, ob sie realistische Einschätzungen und Zielsetzungen vornehmen können.
Ein Schwerpunkt wird in dieser Arbeit auf die Zielorientiertheit gelegt. Zielorientiert zu handein setzt nach Bandura voraus, dass Jugendliche konkrete Pläne machen und Präferenzen benennen können (vgl. Bandura 1998: 217). Lernen und Leistungserbringung stehen ebenfalls in engem Zusammenhang mit Zielerreichungsprozessen (vgl. Schwarzer/Jerusalern 2002: 50). Aber auch eine realistische Zielsetzung ist wichtig:
״Ziele sollen hoch genug sein, um eine Herausforderung darzustellen, dürfen aber nicht so hoch sein, daß sie unerreichbar erscheinen. Am besten ist eine Hierarchie von Zielen, wobei ein Fernziel von graduell ansteigenden Nahzielen erreicht werden kann“ (Schwarzer 1995: 27, alte RechtSchreibung im Original).
Weiterhin geht man in der Forschung davon aus, dass eine hohe Selbstwirksamkeit und daraus resultierende Entscheidungen zu Handlungen führen. Diese hängen wiederum davon ab, was sich Jugendliche selbst Zutrauen und an welchen stellen eventuelle Vermeidungsverhalten auftauchen (Eider 2002: 64). Durch konkrete Handlungen und das Bewältigen neuartiger Ziele wird die Selbstwirksamkeit dann letzten Endes explizit deutlich.
2.3.3. Selbstwirksamkeit im Kontext von Schule und Beruf
Zur Selbstwirksamkeit von Kindern und Jugendlichen gibt es teils widersprüchliche Erkenntnisse. Bezogen auf benachteiligte Individuen wird gesagt, dass deren Selbstwirksamkeit niedrig ausgeprägt sei. Der Grund dafür: Die Personen hätten nie erlebt, dass die Folgen ihrer Handlungen positive Konsequenzen hervorbrächten (vgl. Dlugosch/Dahl 2012: 32). Schwarzer schwächt diese These etwas ab, er spricht allgemein von ״Entwicklungskrisen“ im Jugendalter (vgl. Schwarzer 1995: 32), die zu einer niedrigen Selbstwirksamkeit führen können. Wenn die schulischen Leistungen nachlassen, sei das ein Ausgangspunkt für negative Entwicklungen in den Kompetenzerwartungen (vgl. ebd.).
In der LAU- und der Markusstudie von 2006 zeigte sich jedoch kontrastiv, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ein höheres schulisches Selbstvertrauen bei schlechterer Leistung hatten als diejenigen ohne Migrationshintergrund (vgl. Billmann-Macheda/Tiedemann 2006: 204). Dies wurde als ״maßvolle Überschätzung“ (vgl. ebd.: 205) betitelt. Es bleibt in der Forschung offen, ob diese überhöhte Selbsteinschätzung eher förderlich als Motivation oder hinderlich ist. Möglicherweise werden keine weiteren Anstrengungen unternommen (vgl. ebd.). Die Autorinnen bieten mehrere Deutungsmöglichkeiten an, wobei diese auch im Zusammenspiel wirken könnten: Kinder und Jugendliche könnten sich leicht überschätzen, da sie innerhalb ihrer Familie bereits durch Grundfähigkeiten einen höheren ״Status“ (im Sinne von Bourdieu ein höheres kulturelles Kapital) erreichen (vgl. ebd.). Des Weiteren könnten sie, im Bewusstsein, dass sie eine Zweitsprache nutzen, sich in der Relation unter diesen erschwerten Bedingungen besser einschätzen (vgl. ebd. 205) oder ihre Einschätzung könnte dem Selbstschutz dienen (vgl. ebd.). Unklar bleibt jedoch, ob der Selbstschutz nicht etwas ist, dem sich alle (benachteiligten) Kinder und Jugendlichen bedienen, unabhängig der Herkunft.
Die Relevanz wird insofern klar, als dass oben genannte Eigenschaften die Bewältigung von Meilensteinen und Grundsatzentscheidungen massiv beeinflussen. Insbesondere in der Jugendphase werden berufliche Entscheidungen getroffen, die entscheidend für die Bildungs- und Erwerbsbiographie sein können (vgl. Zimmermann/Skrobanek 2013: 354). Trotzdem betonen auch Schwarzer und Jerusalem in ihrem Beitrag (vgl. Schwarzer/JeruSalem 2002: 50): Das Individuum wirkt nicht allein, das Umfeld beeinflusst stark. Das heißt, das Konstrukt der Selbstwirksamkeit ist nur ein Teilchen im Puzzle der Erklärungsansätze.
2.4. Zwischenfazit: der Forschungsstand
Es lässt sich festhalten, dass Bildungsungleichheiten und auch motivationale Konzepte bis jetzt umfassend erforscht sind. Beide Themen liefern zu verschiedensten Kontexten Erkenntnisse. Teilweise lassen sich keine abschließenden Ursachenzuschreibungen finden, gerade das Thema der Bildungsungleichheiten ist derart komplex, dass finale Erkenntnisse kaum möglich sind. Hier ist immer die starke Kontextgebundenheit der jeweiligen Forschung zu berücksichtigen. Forschungen, die beide Komplexe zusammenbringen, sind то- mentán im deutschsprachigen Raum noch überschaubar. Zudem wird größtenteils quantitativ gearbeitet.
3. Empirie: Die Methode
3.1. Grundsätze des methodischen Vorgehens
Die Arbeit orientiert sich an den Leitlinien der Grounded Theory. Der Grundsatz des ursprünglich von Glaser und Strauss entwickelten Ansatzes ist eine ״empirisch begründete Theoriebildung aus Datenmaterial heraus“ (Schröer/Schulze 2010: 277). Selbst erhobene Daten bilden demnach die Basis und steuern den gesamten Forschungsprozess. Es werden Ursachen und Bedingungen erfragt, die ein auftretendes Phänomen determinieren (vgl. Strauss/Corbin 1996: 23). In dieser Forschung ist das auftretende Phänomen die Zukunftserwartungen, die die Jugendlichen explizit und implizit in Gesprächen ausdrücken.
Die Literaturauswahl und -suche orientiert sich in Anlehnung an die Grounded Theory an den vorhandenen Daten. In dieser Arbeit stand das Grundgerüst an Literatur, das den Diskurs rund um Bildungsungleichheit und Übergangsszenarien vorgibt, vorab. Das Wissen um den bestehenden Diskurs sehe ich als unabdinglich an, um auftretende Phänomene kontextualisieren zu können. Explizite Literatur, die sich auf im Datenmaterial Vorgefundene Phänomene und Äußerungen bezieht, wurde während und nach der Erhebung und AusWertung hinzugezogen.
Aufgrund des großen Diskurses, der sich unter dem Schlagwort der Grounded Theory vereint, werden die für diese Arbeit relevanten Bedeutungsdimensionen klargestellt: Die Grounded Theory wird an dieser stelle als offene Forschungshaltung interpretiert, die auf eine empiriebasierte Theoriebildung abzielt (vgl. Schröer/Schulze 2010: 277). Das heißt, es werden Erklärungsmuster und Deutungen erarbeitet, die für den genutzten Rahmen auffallend und relevant sind. Das Analysieren des Datenmaterials nimmt in der Arbeit den groß- ten Raum ein. Dazu gehört, dass die Arbeit explorativ angelegt ist und einen offenen For-
[...]
1 Die letztendliche Forschung wurde mit Schülerinnen einer anderen Schule durchgeführt.
2 Neuere Beiträge oder Erkenntnisse wurden zu diesen Schulforschungen nicht gefunden.
3 Beispielaussagen sollen mit einem vierstufigen Antwortformat eingeschätzt werden. Beispiel: ״Wenn ich eine schwierige Aufgabe an der Tafel lösen soll, glaube ich, dass ich das schaffen werde.“ (vgl. Schwarzer/Jerusalem 1999: 1).
4 Ist in dieser Arbeit von ״Schule“ die Rede, so wird sie als institutionelle Einrichtung des Bildungssystems angesehen: ״Bildungssysteme sind, inhaltlich gesehen, Institutionen, die die gesellschaftlich gewollte, verste- tigte und methodisierte Menschenbildung und Kulturübertragung realisieren“ (Fend 2008: 29). Sie erzeugen demnach Wertorientierungen, Fähigkeiten und ein bestimmtes Selbst- und Wertverständnis bei ihren Schülerinnen und Schülern (vgl. ebd.). Der Fokus dieser Definition liegt darauf, dass durch den Besuch der Schule Kinder und Jugendlichen Wissen in einem institutionellen Prozess nahegebracht wird und dieses Wissen immer bereits vordeterminiert durch Lehrkräfte und/oder institutioneile Rahmungen ist. Institutioneile Rahmungen sind bspw. Lehrpläne, aber auch eingeschliffene Traditionen und Stellenbesetzung.
5 Quelle: https://www.girls-day.de/, und ebenso für Jungen: https://www.boys-day.de/ (letzter Zugriff: 13.05.2017)
6 Hier wird vom Bundesland Bremen ausgegangen, die Schulpflicht in diesem und einigen anderen Bundesländern umfasst zehn Jahre. In anderen Bundesländern (Bayern, Hessen etc.) umfasst sie nur neun Jahre. Im Detail nachzulesen unter: http://www.cpw-online.de/lemmata/schulpflicht.htm (letzter Zugriff am 13.05.2017)
7 Im Folgenden: FSJ
8 Natürlich gibt es auch noch weitere Möglichkeiten. Einige Jugendliche gründen nach der Schule eine eigene Familie oder wandern aus - das Feld ist groß. Hier soll nur deutlich gemacht werden, dass eine Entscheidung getroffen werden muss und generell verschiedene Angebote und Möglichkeiten vorhanden sind.
- Quote paper
- Marlene Schulze (Author), 2017, Zukunftserwartungen von Jugendlichen bezüglich individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und äußeren Einflussfaktoren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441171
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