Edgar Reitz‘ Film ‚Die andere Heimat: Chronik einer Sehnsucht‘ (2013) ist ein außergewöhnlich bildgewaltiges Werk. Im Rahmen der Vorlesung ‚Fernweh-ABC. Erfah-rungen und Erfindungen der Weltreiseliteratur‘ gilt es nun, zu ergründen, mit welchen filmischen Mitteln der Regisseur die Sehnsucht nach der ‚anderen Heimat‘ inszeniert. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit konzentriert sich die Untersuchung dieser Frage auf die vorhandene beziehungsweise nicht vorhandene Farbgebung in den Bildern des Filmes, da diese dessen auffälligstes Merkmal ist.
Essay:
„Die andere Heimat“ Farben einer Reise…
Eileen Nagler
Studiengang Kultur und Wirtschaft, Germanistik (3. FS)
31. Januar 2015
Edgar Reitz‘ Film ‚Die andere Heimat: Chronik einer Sehnsucht‘ (2013) ist ein außergewöhnlich bildgewaltiges Werk. Im Rahmen der Vorlesung ‚Fernweh-ABC. Erfahrungen und Erfindungen der Weltreiseliteratur‘ gilt es nun zu ergründen mit welchen filmischen Mitteln der Regisseur die Sehnsucht nach der ‚anderen Heimat‘ inszeniert. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit konzentriert sich die Untersuchung dieser Frage auf die vorhandene beziehungsweise nicht vorhandene Farbgebung in den Bildern des Filmes, da diese dessen auffälligstes Merkmal ist.
Mit folgenden Worten wird der Zuschauer in die Gedankenwelt des verträumten jungen Mannes eingeführt, der im Mittelpunkt der Geschichte steht:
Heute den 1. April des Jahres 1842 in Schabbach, beginnt seine Aufzeichnung Jakob Adam Simon, Sohn des Schmiedemeisters Johann Simon und seiner Frau Margarethe, meiner lieben Mutter, aus innerem Anlass der Stimme seines Herzens die Welt sehen zu wollen so sie in Büchern beschrieben und von tapferen Reisenden in Erfahrung gebracht worden, insbesondere der Sprachen der Völker wegen, die ich studieren will.
So will ich denn diesem Buche getreulich anvertrauen jeden meiner Schritte und ernsten Beschlüsse, bis das Weltmeer meiner wartet, mich in die Neue Welt zu tragen.[1]
Damit beginnt etwas, das man heute wohl als Reisetagebuch bezeichnen würde und Jakob auf seinem Weg in seine andere Heimat begleiten soll. Der 19-Jährige lebt in einem kleinen Dorf im Hunsrück und träumt inmitten der Provinz vom fernen Brasilien, von Abenteuern und Indianern. Er streift lieber durch die Wälder, gibt sich seinem „Indianergefühl“[2] hin und versinkt in Büchern, als dem Vater zur Hand zu gehen. Aufgrund seiner Polyglossie (er spricht und liest neben der deutschen die französische, englische, spanische und eine indigene Sprache)[3], seiner Belesenheit und des zurückhaltenden Charakters ist er sowohl in seiner Familie als auch in der Dorfgemeinschaft ein Außenseiter, der nur bei seinem etwas wunderlichen Onkel auf Verständnis trifft.
Schließlich findet Jakob in Jette seine Seelenverwandte, doch aufgrund seiner Schüchternheit fällt ihm eine Annäherung schwer. Sein älterer Bruder Gustav ist gerade vom Militärdienst zurückgekehrt, als er auch schon Jette umwirbt und verführt. Jakob sieht dies hilflos mit an und sucht einen Ausweg in revolutionären ‚Liberté!‘-Rufen, wegen derer er einige Zeit im Gefängnis verbringen muss. Bei seiner Rückkehr stellt er fest, dass seine große Liebe inzwischen mit dem Bruder vermählt und von diesem schwanger ist. Dies treibt ihn zu seinem Zellen- und damit Leidensgenossen Franz Olm, bei dem er einige Zeit wohnt. Die Freunde beantragen gemeinsam die Ausreise nach Brasilien, dem Land ihrer Träume. Jakob kehrt erst in sein Elternhaus zurück, als er Nachricht von der schweren Krankheit seiner Mutter bekommt und Angst um ihr Leben hat. Fortan beobachtet er die immer häufigeren Auswanderertrecks auf ihrem Weg zum Meer, während das gewohnte, triste Leben in Schabbach seinen Lauf nimmt. Als im Hungerwinter 1843 Gustavs und Jettes Kind stirbt, entschließen sich die beiden dazu nach Brasilien auszuwandern.
Dies bedeutet für Jakob, dass er als jüngster Sohn bei den Eltern bleiben muss, um diese im Alter zu versorgen. Seine Träume sind auf einmal zerstört, sein Bruder hat ihm nicht nur die Liebe, sondern auch seine Pläne vom Auswandern genommen. Er muss mit ansehen wie das halbe Dorf gen Norden zur Einschiffung ins Ausland aufbricht, während er pflichtbewusst seinem Vater in dessen Schmiede hilft und sich in sein Studium der indigenen Sprachen zurückzieht. Letzten Endes realisiert Gustav Jakobs Imagination, er geht mit Jette, Franz Olm und Dutzenden anderen aus dem Dorf und der Umgebung nach Porto Alegre, einer Art Gegenpol zu Schabbach. Jakob heiratet schließlich Florinchen, eine Freundin Jettes, und bekommt mit ihr ein Kind. Er, der sich sein Leben lang fort geträumt hat und im Gegensatz zu seinem Bruder bestens für die Auswanderung gerüstet wäre,[4] findet sich notgedrungen mit seiner Lebenssituation ab und erliest sich seine andere Heimat weiterhin nur, statt in diese zu reisen.
Die Schwarz-Weiß-Verfilmung von Edgar Reitz schafft durch ihre Künstlichkeit eine Distanz des Zuschauers zum Geschehen auf der Leinwand, die immer wieder von farbigen Momenten durchbrochen wird. „Der plötzliche oder allmähliche, auf einzelne Details des schwarzweißen Displays beschränkte Übergang zur Farbe und die kurz darauf erfolgende Zurücknahme dieses Effekts stellen Markierungen im Gedächtnis dar“,[5] die beim Zuschauer einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die Einfärbung bestimmter Details akzentuiert wichtige Geschehnisse im Leben Jakobs und seiner Mitmenschen. So „vergegenwärtigt dieses Phänomen bei Reitz nicht etwa ein traumatisches Geschehen, sondern euphorisierende Momente“,[6] wie beispielsweise die Geburt von Jettes Tochter, welche mit einem bunten Geburtstagsstrauß für das neugeborenes Kind verkündet wird, oder die Vermählung von Gustav und Jette, bei der Jettes Hochzeitsschmuck farbig heraussticht.
Die Farben fungieren aber auch als Leuchtsignale für ein besseres Leben, das für die Bevölkerung allerdings nur in der Ferne möglich ist. So ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in der physisch wie psychisch spürbaren Enge des bäuerlichen Elternhauses die Tapete blau schimmert,[7] eine Farbe, die im Volksmund mit der Sehnsucht verknüpft wird. Jakob fühlt sich in der Beengtheit des Dorfes wie gefangen, weshalb es ihn immer wieder in die Wälder und auf die Felder zieht, wo er alleine ist und seinen Blick über die weite Landschaft streifen lassen kann. Er sehnt sich nach der ‚anderen Heimat‘ Brasilien, nach seinem paradiesischen Bild von Südamerika, das er sich in so vielen Stunden erlesen hat. Der kurze Moment des Aufleuchtens der abgeblätterten Tapete erinnert auch an die Ruinen Pompejis[8] und kann als Metapher für die verschüttete, aber im Haus der Familie Simon fortexistierende Kindheit Jakobs gedeutet werden. Die blaue Tapete an der Wand des Flurs ist das einzige farbige Detail des Films, welches zweimal auftaucht: das erste Mal zu Beginn, als Jakob sein Tagebuch beginnt, das zweite Mal gegen Ende des Films, als Jakob Jette dabei beobachtet, wie sie endgültig das Haus verlässt, um mit Gustav in das ersehnte Brasilien zu gehen. Die Wand, die Jakob „oft schon in den Träumen erschienen ist“[9] nimmt mit dem Blau eine melancholische Farbe des Verlusts an. „Vielleicht wird er [Jakob] eines Tages durch diese Wand hindurchgehen können. Ins Land des Todes? Oder der Freiheit? Je weiter sich Jettchen entfernt, umso blauer erscheint ihm diese Wand.“[10] Das Fernweh, die unerfüllte Sehnsucht nach einem anderen Leben und nach Jette vermischen sich in diesem Augenblick für Jakob zu der fast schmerzenden Gewissheit, dass er dieses Haus wohl erst bei seinem Tode verlassen wird.
Ein weiteres Leuchtsignal stellt neben dem Sehnsuchtsblau die „schwarz-rot-goldene Trikolore“[11] dar, welche Jakob auf einem Floß mit aufrührerischen Studenten entdeckt. Es ist die Flagge einer reaktionären Bewegung, welche die Einführung des Sozialismus zum Ziel hat. Jakob empfindet sie als Versprechen auf eine Zukunft in Freiheit, sie ist aber gleichzeitig eine Provokation für die preußische Obrigkeit in dieser politisch repressiven Zeit, in der die Bevölkerung von einem feudalen System unterdrückt wird. Aus diesem Grund beschießen wenig später Soldaten das Floß und die Studenten, darunter auch Jakob. Die Mündungsfeuer der Gewehre leuchten rot auf und erinnern an eine ebenfalls mit Gewalt aufgeladene Situation zu Anfang des Films, in der Jakobs Vater ihn mit einem rot glühenden Hufeisen bedroht. Auch der Streifschuss, eine Verletzung, die Jakob in dieser Szene davonträgt, ist blutrot koloriert. Dieses Geschehnis markiert einen Wendepunkt in Jakobs Leben, den er sogleich in seinem Tagebuch niederschreibt:
Ich habe das Band zerschnitten, das mich mit der Welt meiner Eltern verbindet. Meine Reise in die Freiheit beginnt mit einem neuen Blick. Ich rücke das Vertraute in die Ferne – das ist die neue Kraft meiner Augen, denn diese haben die Freiheit in meinem Innersten erblickt.[12]
Diese Freiheit im Innersten nützt Jakob auch zu einem späteren Zeitpunkt, als er gezwungen ist in der Heimat zu bleiben und von dort aus die Begrenzung seines Sichtfeldes durch die Lektüre von Reisebeschreibungen und schriftliche Korrespondenz mit Gelehrten aufzuheben. Diese Möglichkeit, das Alltagsgrau zu durchbrechen, haben die anderen Dörfler, meist Analphabeten, nicht. So nutzt Jette eine orange-gelb schillernde Achatscheibe, um mit ihrer Hilfe eine Landschaft zu imaginieren.
Die wenigen Farbtupfer im Film kontrastieren die Enge des Dorfes und die Weite des Geistes. Reitz betont die geradezu paradiesische Buntheit Südamerikas, indem er Jakob erzählen lässt, dass die Cayucachúa-Indianer „zum Beispiel 22 Wörter für «grün»“[13] haben, die er Jette später anhand von einem Tannenzweigbündel, einem Rock und einem Kupfergefäß in verschiedenen Grüntönen näher bringt. Auch die Vogelwelt fasziniert ihn aufgrund der inhärenten Freiheitssymbolik, sodass er Brasilien mit den Worten „da gibt’s noch ganz andere Vögel, die viel bunter sind.“[14] illustriert. Dies wird noch einmal aufgegriffen, als Jakob in der Stadt auf Anwerber trifft, welche die Menschen von einer Auswanderung ins ‚gelobte Land‘ Brasilien überzeugen möchten. Die Werber führen einen Papagei mit sich, der wegen seiner Farbenpracht das Symbol der Exotik schlechthin ist und ein bunteres, schöneres Leben zu versprechen scheint.
Alles in allem elektrisieren die farbigen Akzente den Zuschauer. Ob es nun blühende Ähren auf den Feldern um Schabbach, ein goldener Louisdor-Taler, ein Komet, Kirschen und Blaubeeren oder auch Jakobs braune Augen sind, all diese Details setzen eine Atmosphäre in Szene, die zwischen der Verbundenheit Jakobs zur realen, deutschen Heimat und der erträumten anderen Heimat in Brasilien schwankt. Der Film kehrt den Heimwehbegriff um, indem für Jakob wie auch Gustav die Heimat gleichzeitig weit weg und ganz nah ist. Dies verbindet und trennt die Brüder gleichermaßen. Während Gustav Abschied von seiner alten Heimat nimmt und in seine noch unbekannte neue Heimat aufbricht, will Jakob seine Heimat nur zu gern verlassen und ist doch zum Bleiben gezwungen, sodass er sich der anderen Heimat nur über seine Vorstellungskraft nähern kann. Jakob und Gustav reisen in Gedanken, der eine nach Brasilien, der andere nach Deutschland. Für den einen ist es eine Reise in eine Utopie, für den anderen in einen Ort, der für immer verloren scheint. Sie ähneln sich damit mehr als ihnen bewusst ist.
Edgar Reitz setzt in seinem fast vierstündigen Film behutsam wenige Farbmomente ein um mit ihnen die Chronik einer Sehnsucht, das Fernweh Jakobs zu illustrieren. Gerade durch diese Spärlichkeit gewinnen die farbigen Augenblicke an Dichte und machen die Lebenswelt der Protagonisten fassbar. Jakob lässt sich trotz der Rückschläge seine Träume, auch wenn sie unerreichbar erscheinen, nicht verbieten.[15] Die Gedanken sind frei, und so ist es am Ende des Films dem Zuschauer überlassen, Jakobs weiteren Lebensweg zu imaginieren. „Man wird immer wieder erleben, wie die eigene Fantasie stärker ist als die Realität. Im innersten Kern der Bilder findet man eigentlich immer sich selbst“,[16] bekennt schließlich auch Edgar Reitz.
[...]
[1] Reitz, Edgar: Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht. 3. Aufl. Marburg: Schüren Verlag 2014. S. 16.
[2] Reitz, E.: Die andere Heimat. S. 14.
[3] Vgl. ebd. S. 27 und S. 37 f.
[4] Reitz, E.: Die andere Heimat. S. 41: „Wenn man nicht sieht, muss man die Welt im Kopfe haben, sagte er [Gustav] und meinte doch nur die Häuser und Löcher in der Straß’, dass man nicht hineinfällt. Ich mein’ heute aber die ganze Welt als eine Nacht, die überall ist und die in den Köpfen aller Menschen hell gemacht werden muss, damit wir uns wie Indianer zur Nacht in ihr bewegen können. Und finden wir nicht diese wissenden Menschen überall? Und können uns den Weg zeigen lassen von ihnen, sobald wir ihre Sprachen sprechen und die Namen fragen können?“.
[5] Bauer, Matthias: Rückbesinnung und Zeitgewinn – Aspekte des Lebens in Die andere Heimat (2013) von Edgar Reitz. http://dkritik.de/schwerpunkt/ruckbesinnung-und-zeitgewinn-aspekte-des-lebens-in-die-andere-heimat-2013-von-edgar-reitz/ (26. Januar 2015).
[6] Bauer, M.: Rückbesinnung und Zeitgewinn.
[7] Reitz, E.: Die andere Heimat. S. 15: „Blau leuchtet die gegenüberliegende Wandmalerei auf.“
[8] Vgl. Fetscher, Justus: Vorlesung Fernweh-ABC. Erfahrungen und Erfindung der Weltreiseliteratur: ‚There`s No Place Like Home.‘ Edgar Reitz: „Die andere Heimat“ (2013). Version 13d: 03. Dezember 2014. Folie 33.
[9] Reitz, E.: Die andere Heimat. S. 15: „Blau leuchtet die gegenüberliegende Wandmalerei auf.“ S. 170.
[10] Ebd.
[11] Reitz, E.: Die andere Heimat. S. 53.
[12] Ebd. S. 56.
[13] Ebd. S. 66.
[14] Reitz, E.: Die andere Heimat. S. 33.
[15] Ebd. S. 42: „Mehrmals wenn ich träumte ein Vogel zu sein, hat sie [Jakobs Mutter] mich nie verspottet, sogar mir geraten, das Fliegenkönnen mir nicht abgewöhnen zu lassen von denen die mir’s neiden. So mag ich ihrer Weisheit verdanken, mich nicht fangen zu lassen von denen wo am Boden kleben.“
[16] Ebd. S. 9.
- Arbeit zitieren
- Eileen Nagler (Autor:in), 2015, Farben einer Reise. Edgar Reitz' „Die andere Heimat“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441009
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