Wohnbedürfnisse im Alter haben angesichts der wachsenden Anzahl von älteren Menschen in der deutschen Gesamtbevölkerung immer mehr an Bedeutung zugenommen. Dabei geht es nicht nur um die baulichen Aspekte des Wohnens, sondern auch verstärkt um die Lebensbedarfslagen von Seniorinnen und Senioren .Leben und Wohnen sind Begriffe, die gerade im Zusammenhang mit dem Alter sehr nahe verknüpft werden.
„Alltag im Alter heißt vor allem Wohnalltag“. Somit ist der räumlich - soziale Kontext von älteren Menschen zunehmend auf die Wohnung bzw. das Haus, die Nachbarschaft und das Wohnviertel konzentriert. Darüber hinaus schmälern gesellschaftsstrukturierte Individualisierungs-und Pluralisierungsprozesse den sozialen Einfluss der Familie auf den alten Menschen. Problematiken der Isolation und Singularisierung im Alter können dadurch begünstigt werden. Vor diesem Hintergrund sehen sich besonders die sogenannten „jungen Alten“ animiert, ihre Lebens- und Wohnbedarfslage den gesellschaftlichen Strukturelementen anzupassen, um ein Defizit an Wohn- und Lebenszufriedenheit zu kompensieren, so dass sich u.a. unterschiedliche Formen des gemeinschaftlichen Wohnens bilden.
Auf der Basis von einschlägiger Literatur und fokussierend auf selbstorganisierten Hausgemeinschaften im Projektraum Frankfurt/Main untersucht die vorliegende Diplomarbeit, ob diese Form von Empowerment eine tragfähige und zukunftsweisende Antwort auf defizitäre Lebens- und Wohnbedarfslagen von Senioren ist.
Der erste Schwerpunkt dieser Arbeit liegt in der Erörterung von Bedeutungsschwerpunkten des Wohnens im Alter und einer aktuellen Übersicht bestehender Wohnformen mit teilweiser Beschreibung von Wohnkontextbedingungen. Der zweite Schwerpunkt wird gleichzeitig mit dem zweiten Kapitel eingeleitet und konzentriert sich auf einen vorhandenen Defizitbestand der Lebens- und Wohnbedarfslage von Senioren. Die daraus resultierende neue Bedarfslage des gemeinschaftlichen Wohnens wird im dritten Kapitel behandelt, worauf, nach der Zwischenbilanz im fünften Kapitel eine potenzielle Bestätigung anhand einer Projektraumerkundung in Frankfurt/Main erfolgt, die auch einen Blick auf den allgemeinen Entwicklungsstand in Deutschland und im Ausland wirft. Der dritte Schwerpunkt befasst sich im sechsten Kapitel mit Schlussfolgerungen, die einen zukunftsorientierten Handlungsbedarf implizieren.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Wohnen im Alter
1.1 Bedeutung des Wohnens
1.1.1 Psychosoziale Bedeutungskomponente
1.2 Wohnformen im Alter – Ein Überblick
1.2.1 Neue gemeinschaftliche Wohnformen
2. Ein Defizitbestand der Lebens- und Wohnbedarfslage von Senioren
2.1 Gesellschafts- und familienstruktureller Wandel
2.2 Soziale Isolation und Einsamkeit
2.2.1 Psychosoziale Folgen
2.3 Wohnzufriedenheit- der bauliche Aspekt
3. Gemeinschaftliches Wohnen und Leben im Alter als neue Bedarfslage
3.1 Attribute dieser Lebens- und Wohnform
3.1.1 Selbstbestimmung
3.1.2 Unterstützung
3.1.3 Soziales Beziehungsnetzwerk
3.1.3.1 Psychosoziale Aspekte
3.1.3.2 Der generationsübergreifende Aspekt
3.1.4 Einflussnahme der Biografie
3.1.5 Der bauliche Aspekt
4. Zwischenbilanz
5. Selbstorganisierte Hausgemeinschaften – Projektbeispiele aus Frankfurt/Main
5.1 Definitionsmerkmale der Wohnform
5.2 Entwicklungsstand in Deutschland
5.3 Entwicklungsstand im Ausland
5.4 Projektbeispiele aus Frankfurt/Main
5.4.1 Bestandsaufnahme ausgewählter Projekte
5.4.2 Hürden und Hilfen der Projektentwicklung
5.4.2.1 Zugangsmöglichkeiten zu der Wohnform
5.4.2.2 Zusammenarbeit mit Institutionen
5.4.2.2.1 Bedeutung professioneller
Projektbegleitung
5.4.2.3 Bedeutung der Rechtsform
5.4.2.4 Finanzierungsaspekte
5.4.3 Leben und Wohnen in der Hausgemeinschaft
5.4.3.1 Beweggründe für das Leben in gemeinschaftlicher Wohnform
5.4.3.2 Vorurteile und Ängste
5.4.3.3 Regeln und Zuständigkeiten
5.4.3.4 Positive Aspekte des Zusammenlebens
5.4.3.5 Negative Aspekte des Zusammenlebens oder: Die Schwierigkeiten der Gruppendynamik
5.4.3.6 Pflegebedürftigkeit - Möglichkeiten und Grenzen
5.4.3.7 Lebens- und Wohnzufriedenheit
6. Schlussfolgerungen
6.1 Handlungsbedarf
6.1.1 Ausbau der Informations- und Beratungsnetzwerke
oder: Aufklärungsarbeit auf verschiedenen Ebenen
6.1.2 Verfahrenshürden abbauen
oder: Kooperationsbereitschaft fördern
6.1.3 Professionelle Begleitung und Unterstützung
oder: Stärkung der Selbsthilfepotenziale
6.2 Zukunftsperspektive
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
I Interviewleitfaden
II Zeitungsartikel
Eidesstattliche Erklärung
Einleitung
Wohnbedürfnisse im Alter haben angesichts der wachsenden Anzahl von älteren Menschen in der deutschen Gesamtbevölkerung immer mehr an Bedeutung zugenommen. Dabei geht es nicht nur um die baulichen Aspekte des Wohnens, sondern auch verstärkt um die Lebensbedarfslagen von Seniorinnen und Senioren[1]. Leben und Wohnen sind Begriffe, die gerade im Zusammenhang mit dem Alter sehr nahe verknüpft werden.
„Alltag im Alter heißt vor allem Wohnalltag“ (Saup 1993, S. 18). Somit ist der räumlich - soziale Kontext von älteren Menschen zunehmend auf die Wohnung bzw. das Haus, die Nachbarschaft und das Wohnviertel konzentriert. Darüber hinaus schmälern gesellschaftsstrukturierte Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse den sozialen Einfluss der Familie auf den alten Menschen. Problematiken der Isolation und Singularisierung im Alter können dadurch begünstigt werden. Vor diesem Hintergrund sehen sich besonders die sogenannten „jungen Alten“ animiert, ihre Lebens- und Wohnbedarfslage den gesellschaftlichen Strukturelementen anzupassen, um ein Defizit an Wohn- und Lebenszufriedenheit zu kompensieren, so dass sich u.a. unterschiedliche Formen des gemeinschaftlichen Wohnens bilden.
Auf der Basis von einschlägiger Literatur und fokussierend auf selbstorganisierten Hausgemeinschaften im Projektraum Frankfurt/Main untersucht die vorliegende Diplomarbeit, ob diese Form von Empowerment[2] eine tragfähige und zukunftsweisende Antwort auf defizitäre Lebens- und Wohnbedarfslagen von Senioren ist.
Der erste Schwerpunkt dieser Arbeit liegt in der Erörterung von Bedeutungsschwerpunkten des Wohnens im Alter und einer aktuellen Übersicht bestehender Wohnformen mit teilweiser Beschreibung von Wohnkontextbedingungen. Der zweite Schwerpunkt wird gleichzeitig mit dem zweiten Kapitel eingeleitet und konzentriert sich auf einen vorhandenen Defizitbestand der Lebens- und Wohnbedarfslage von Senioren. Die daraus resultierende neue Bedarfslage des gemeinschaftlichen Wohnens wird im dritten Kapitel behandelt, worauf, nach der Zwischenbilanz im fünften Kapitel eine potenzielle Bestätigung anhand einer Projektraumerkundung in Frankfurt/Main erfolgt, die auch einen Blick auf den allgemeinen Entwicklungsstand in Deutschland und im Ausland wirft. Der dritte Schwerpunkt befasst sich im sechsten Kapitel mit Schlussfolgerungen, die einen zukunftsorientierten Handlungsbedarf implizieren. Das siebte Kapitel beinhaltet ein abschließendes Fazit, das zusammenfassend auf die Kernaussagen dieser Arbeit eingeht und zu einer Beantwortung der zentralen Fragestellung führt.
1. Wohnen im Alter
Die Bedeutungskomponente des Wohnens nimmt im Alter an Intensität zu. Bevor diese These konkretisiert wird, möchte ich die demografische Entwicklung der Bevölkerungsalterung darstellen und gleichzeitig auf den damit einhergehenden quantitativ-gesellschaftlichen Einfluss aufmerksam machen. „Alter wird selbst zur stärkeren Determinante gesellschaftlicher Entwicklung“ (Tews, Hrsg. Reimann, 1994, S. 39) und steht somit zwischen Auf- und Abwertungen individueller und gesellschaftlicher Kontexte (vgl. a.a.O., S. 40-41). In Zukunft werden die ca. 3 Millionen Hochaltrigen (über 80 - Jährige) in fünf Jahren um 500.000 anwachsen. Im Jahr 2020 wird es ca. 5 Millionen und im Jahr 2050 fast 8 Millionen Hochaltrige geben. Allerdings bildet die Gruppe der „jungen Alten“ zwischen 65 und 80 Jahren die Mehrheit älterer Menschen, mit einer Zahl von gegenwärtig ca. 10 Millionen, die im Jahr 2030 auf ca. 15 Millionen ansteigen wird (vgl. Kremer-Preiß/Stolarz, 2003, S. 3). Dem gegenüber steht eine kontinuierliche Abnahme der Anzahl jüngerer Bevölkerungsgruppen unter 40 Jahren, die von heute ca. 41 Millionen bis zum Jahr 2020 auf ca. 33 Millionen und bis zum Jahr 2050 auf ca. 27 Millionen sinken werden. Somit geht die quantitativ „nicht alte“ Bevölkerungsgruppe (0 - 65 Jahre) bis zum Jahr 2050 um ca. 18,7 Millionen zurück, wohingegen die ältere Bevölkerung (65 +) um ca. 6,4 Millionen Menschen zunimmt (vgl. Kremer-Preiß/Stolarz, 2003, S. 6 und 210).
In Anbetracht der demografischen Entwicklung und auch unter Berücksichtigung zunehmender Lebenserwartung der Bevölkerung sowie dem damit einhergehenden Pflegebedarf erscheint mir das Bemühen der Gemeinweseninitiativen und Institutionen in der vielfältigen Entwicklung gegenwärtiger Wohnformen als Indikator für die Bedeutsamkeit des Wohnens im Alter.
1.1 Bedeutung des Wohnens im Alter
Nach Saup (1993, S. 9) ist der menschliche Alltag in räumlich-soziale Kontexte „eingebettet“. Dadurch suchen wir tagtäglich räumlich-soziale Umfelder auf, die in unterschiedlicher Beziehung zu uns stehen. Ein Hochschulstudium indiziert z.B. das Aufsuchen einer Bibliothek oder eines Hörsaals, und ein Freizeitverhalten gibt u.U. den Anlass einen Theater- oder Kinosaal aufzusuchen. Die Vielfalt der von Menschen beanspruchten räumlich – sozialen Kontexte hängt allerdings auch von der jeweiligen physischen und psychischen Konstitution einer Person ab. Eine eingeschränkte Hör- und Sehfähigkeit könnte somit eine Disharmonie in der Beziehung von „Verhaltensorganisation“ und „Umweltmerkmalen“ verursachen, so dass die zunehmende Relevanz des Wohnens im Alter für die selbstständige Lebensweise und das individuelle Wohlbefinden deutlich wird (vgl. Saup, 1993, S. 12).
Gerade für ältere Menschen „gewinnt der Wohnbereich zunehmend an Bedeutung, da sich die Aktionsräume (…) einengen und die Umweltbezüge schrumpfen“ (Backes/Clemens, 1998, S. 208). Der Aktionsradius bezieht sich im höheren Alter überwiegend auf die Wohnung oder das Haus und die unmittelbare Nachbarschaft. Diese beschränkten Umweltbezüge stehen im „Mittelpunkt der alltagsweltlichen Lebenserfahrungen“ (Backes/Clemens, 1998, S. 210) und unterstreichen die Wichtigkeit des Wohnens als Zentrum des - verringerten - räumlich-sozialen Umfeldes. Schließlich übernimmt die Wohnung oder das Haus von Senioren verstärkt die Funktion einer Begegnungsstätte für familiäre und soziale Kontaktpflege, und nicht zuletzt wird die eigene Wohnung bzw. der eigene Haushalt „von vielen Menschen als Ausdruck eigener Kompetenz - und zwar im Sinne der erhaltenen Selbstverantwortung und Selbstständigkeit - verstanden“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend[3], 1998, S. 20).
Die Bedeutungsdimension des Wohnens im Alter lässt sich auch an der im Wohnumfeld quantitativ verbrachten Zeit erkennen. Demnach schreiben Backes und Clemens (1998, S. 209, zit. n. Saup/Reichert, 1997, S. 7), dass „Ältere, die nicht mehr erwerbsfähig sind, täglich im Durchschnitt weniger als drei Stunden außerhalb der Wohnung verbringen.“
Die zunehmende Identifikation mit der eigenen Wohnung und dem näheren Wohnumfeld hat ihre Ursache in der eingeschränkten psychischen und physischen Mobilität von älteren Menschen. Die Vielfalt an Umweltmerkmalen, wie z.B. eine verkehrsbelebte Straße, können eine Wahrnehmungsüberforderung für ältere Menschen bedeuten und somit eine beängstigende Wirkung haben. Die veränderte Bewegungs- und Leistungsfähigkeit wäre zwar durch bauliche Veränderung des Wohnbereichs und gute infrastrukturelle Begebenheiten maßgeblich zu kompensieren, dennoch ist herausragend zu erwähnen, dass der Bezug auf das Wohnen und der damit verbundene räumlich-soziale Kontext, im Alter sensibilisiert wird und zu einer hohen Bedeutung beiträgt. „Alltag im Alter heißt vor allem Wohnalltag“ (Saup, 1993, S. 18).
1.1.1 Psychosoziale Bedeutungskomponente
Die philosophische Anthropologie[4] misst dem Wohnen existentielle Bedeutung für das menschliche Dasein bei. „Die Wohnung oder das Haus werden als Mitte der Welt charakterisiert“ (Saup, 1993, S. 91). Unabhängig von der Altersgruppe, findet im persönlichen Wohnbereich psychische und physische Regeneration sowie soziale Kontaktpflege statt. Saup (vgl. 1993, S. 92 ff.) formulierte darüber hinaus psychologische Bedeutungskomponenten, die seniorenspezifisch ausgelegt sind:
- „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Diese Redewendung verdeutlicht eine Verwurzelung und ein tiefes Geborgenheitsgefühl bezüglich der jeweiligen Wohnumgebung.
- Eine geringe Wohnmobilität im Alter unterstützt diese These, allerdings ist zunehmend eine „wachsende Zahl umzugsbereiter älterer Menschen“ (Kremer-Preiß/Stolarz, 2003, S. 8) zu verzeichnen, die eine neue Lebens- und Wohnbedarfslage sowie deren Verwirklichung vermuten lassen. Die Erörterung dieser Hypothese ist Thema dieser Diplomarbeit und wird in folgenden Kapiteln weiter konkretisiert.
- Die teilweise jahrzehntelange Verweildauer in der selben Wohnung bedeutet eine Kontinuität der Lebensumstände. Diese steht im Kontrast zu Prozessen des sozialen und gesellschaftlichen Wandels und der eigenen psychischen und körperlichen Leistungskapazität.
- Der Wohnraum älterer Menschen weist verstärkt biographische Konturen auf und wird zum sichtbaren Porträt zurückliegender Lebensphasen. Meines Erachtens signalisiert dieses Verhalten einen zufriedenen und positiven Lebensrückblick. Allerdings besteht auch die Gefahr gegenwärtige Lebensinhalte zu ignorieren und nur noch im Idealbild der Vergangenheit zu leben.
- Der individuelle Rückzugsbereich im Wohnumfeld und das „zur Ruhe kommen“ ermöglichen „das Nachdenken über das eigene Leben“ (Saup, 1993, S. 93). In anbetracht des Alters wird eine Lebensbilanz gezogen, die im Verhältnis der zurückliegenden Jahre und der eigenen (verwirklichten) Lebenspläne steht.
- Nicht zuletzt stellt das vertraute Wohnumfeld den gewünschten Ort des Lebensendes dar, auch wenn dies heutzutage häufig in Institutionen wie Krankenhäuser, Sterbekliniken usw. stattfindet.
1.2 Wohnformen im Alter – Ein Überblick
Das Wohnangebot für Senioren hat sich in den letzten Jahren vielfältig ausgeweitet. Somit wurde ein breites Spektrum an Wohnmöglichkeiten entwickelt, das eine individuelle Bedarfslage abdecken könnte. Dennoch steht das Wohnen im Alter „im Spannungsfeld zwischen der Bewahrung eines selbstgewählten Lebensstils und den Anforderungen an eine optimale Versorgung“ (Howe, Band 3, 1991, S. 95). Die meisten älteren Menschen möchten ein selbstbestimmendes Leben führen und das am liebsten in ihren „normalen“ Privatwohnungen, so lange es die gesundheitliche Bedürfnislage zulässt.
Der zweite Altenbericht des BFSFJ (vgl. 1998, S. 94) verweist auf eine Statistik, die diese These quantitativ unterstützt. Demnach wohnen 93% der über 65 Jährigen Menschen in „normalen Wohnungen“ und 5,3% in herkömmlichen Heimen. Allerdings hat sich in naher Vergangenheit die Vielfalt der Wohnmöglichkeiten von Senioren vermehrt und in unterschiedliche Wohnbedarfslagen spezifiziert. Darüber hinaus ist der Denkansatz von Kremer-Preiß und Stolarz (2003, S. 10) zu beachten, der folgendes aussagt: „Wenn die ältere Generation einen immer größeren Anteil der Gesellschaft ausmacht, müssen sich immer weiter ausdifferenzierte Wohn- und Versorgungsformen nicht weiter an den Rand der Gesellschaft, sondern in deren Mitte bewegen.“ Die beiden Autoren (a.a.O.) weisen ebenfalls daraufhin, dass die „normalen Wohnungen und Wohnquartiere als auch ein sich weiter ausdifferenzierendes Angebot spezieller selbstständiger Wohnformen neben ihren präventiven Charakter in zunehmenden Maße Angebote entwickeln müssen, die den Verbleib auch bei Pflegebedürftigkeit ermöglichen“ (vgl. Kapitel 5.4.3.6).
Oftmals wird das Wohnen im Alter mit Alten- und Pflegeheimen assoziiert, obwohl, wie schon erwähnt, nur 5,3% der älteren und hochaltrigen Menschen in solchen Einrichtungen leben. Um einen Überblick des Spektrums an Wohnmöglichkeiten für Senioren zu erhalten, möchte ich im Folgenden die verschiedenen Wohnkontexte, zitiert nach Kremer-Preiß und Stolarz (2003, S. 20), nach Entscheidungssituationen der Betroffenen geordnet, aufführen.
Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Benennung der Wohnformen, da eine ausführliche Erläuterung über den Rahmen dieser Arbeit hinaus geht.[5]
- So lange wie möglich zu Hause bleiben
- Barrierefreie Wohnungen
- Angepasste Wohnungen
- Siedlungsgemeinschaften
- Betreutes Wohnen zu Hause
- Quartiersbezogene Wohn- und Betreuungskonzepte
- Wohnsituation selbst verändern
- Altenwohnungen
- Selbstorganisierte Wohn- und Hausgemeinschaften[6]
- Mehrgenerationenwohnen/Integrierte Wohnprojekte
- Betreutes Wohnen
- Wohnstifte/Seniorenresidenzen
- Wohnsituation verändern, weil es nicht mehr anders geht
- Alten- und Pflegeheim
- KDA[7] - Hausgemeinschaften
- Betreute Wohngemeinschaften
1.2.1 Neue gemeinschaftliche Wohnformen
In diesem Kapitelabschnitt möchte ich gesondert auf neue gemeinschaftliche Wohnformen im Alter zu schreiben kommen, da mir dieser Überblick im Themenbezug dieser Arbeit wichtig erscheint. Auch hier bediene ich mich der Typologisierung von Kremer-Preiß und Stolarz (2003, S. 20), die erneut nach Entscheidungssituationen gegliedert ist. Dabei geht es nicht nur um den unterschiedlichen Bedarf an Betreuungs- und Pflegeleistungen, die in allen drei Grundtypen möglich ist, sondern um Rücksichtnahme auf individuelle und situationsbedingte Wohnwünsche, die eine Orientierung für die Betroffenen in ihrer jeweiligen Entscheidungssituation darstellt.
- So lange wie möglich zu Hause bleiben
- Siedlungsgemeinschaften (selbst- und fremdinitiiert)
- Es werden Gemeinschafts- und Hilfeangebote für Bewohner einer bestehenden Siedlung organisiert, die das Ziel haben Nachbarschaftsnetzwerke, Gemeinschaftsaktivitäten und das generationsübergreifende Zusammenleben zu fördern. Die Initiation geht zum Teil von Wohnungsbaugesellschaften oder Selbsthilfeinitiativgruppen aus (vgl., a.a.O., 2003, S. 18).
- Wohnsituation selbst verändern
- Selbstorganisierte Wohn- und Hausgemeinschaften (selbstinitiiert)
- Bei dieser Wohnform handelt es sich um selbstorganisierte Projekte, in denen entweder nur ältere oder auch generationsübergreifend Menschen gemeinsam in einer Wohnung oder in einem Haus wohnen. Neben den Gemeinschaftsräumen verfügt jeder Bewohner über eine abgeschlossene Wohnung, wie es meistens in Hausgemeinschaften der Fall ist oder zumindest über einen eigenen Wohnbereich bzw. ein eigenes Zimmer, das der Variante der Wohngemeinschaft entspricht. Die Initiative geht überwiegend von privaten Personen/Gruppen aus, wobei es auch Formen professioneller Begleitung[8] gibt (vgl. a.a.O., 2003, S. 17).
- Mehrgenerationenwohnen/Integriertes Wohnen (fremdinitiiert)
- Diese Wohnprojekte werden von „speziellen Trägern“ initiiert, die generationsübergreifend verschiedene Bewohnergruppen, zumeist in größeren Wohnkomplexen, zusammenleben lassen und damit nachbarschaftliche Netzwerke bilden wollen. Somit sollen gegenseitige Unterstützungsmaßnahmen wahrgenommen und Vereinsamungstendenzen entgegenwirkt werden (vgl. a.a.O., 2003, S. 18).
- Wohnsituation verändern, weil es nicht mehr anders geht
- KDA – Hausgemeinschaften (fremdinitiiert)
- Es handelt sich hierbei um eine „wohngruppenorientierte Betreuungsform“, die vom KDA als Alternative zum traditionellen Pflegeheim entwickelt wurde. Der Wohnalltag spielt sich hauptsächlich in einem Gemeinschaftsraum mit Küche ab. Daneben hat jeder Bewohner einen eigenen Wohn-/Schlafbereich, der zugleich die Rückzugsmöglichkeit bietet und das Nähe – Distanz – Prinzip wahrt. Unterstützend ist eine hauswirtschaftliche Präsenzkraft vor Ort, die nach Bedarf durch eine Pflegekraft ergänzt wird (vgl. a.a.O., 2003, S. 19).
- Betreute Wohngemeinschaften (fremdinitiiert)
- In diesem Fall leben pflegebedürftige bzw. hilfebedürftige ältere Menschen in einer Wohnung oder in einem Haus zusammen. Die Strukturelemente sind mit denen der KDA – Hausgemeinschaft zu vergleichen (vgl. a.a.O., 2003, S. 19).
Trotz der Vielfalt neuer Wohnangebote und das wachsende Interesse an alternativen Wohnformen, sieht die quantitative Entwicklung bis jetzt verhältnismäßig gering aus. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 200.000 bis 250.000 ältere Menschen in diesen neuen Wohnformen leben. Das entspricht knapp 2% der 65 + Jährigen (vgl. Kremer-Preiß/Stolarz, 2003, S. 24). Dennoch bleibt es abzuwarten und zu beobachten, welche Wohnformen sich aus dieser Vielfalt etablieren oder ob gerade das breite Spektrum an Wohnangeboten der Individualisierung gegenwärtiger und zukünftiger älterer Menschen entgegen kommt. Unabhängig von dem Formenreichtum neuer Wohnmöglichkeiten manifestieren sich drei Grundziele heraus, die alle Wohninitiativen gemeinsam haben.
„Sie wollen
- ein selbstständiges, selbstbestimmtes normales Wohnen
- mit Aspekten der Sicherheit und Verfügbarkeit von Hilfe bei Bedarf
- und mit gemeinschaftlichen Lebensformen verbinden“
(Kremer-Preiß/Stolarz, 2003, S. 24).
2. Ein Defizitbestand der Lebens- und Wohnbedarfslage von Senioren
In diesem Kapitel möchte ich auf einen Defizitbestand der Lebens- und Wohnbedarfslage von Senioren hinweisen. Im Blickfeld des gemeinschaftlichen Wohnens im Alter sind Entwicklungsfaktoren einer Defizitlage von älteren Menschen in einem gesellschafts- und familienstrukturellen Wandel zu sehen. Darüber hinaus untersuche ich anhand einschlägiger Literatur den Bestand von sozialer Isolation und Einsamkeit im Alter als Determinante für die Entstehung (selbstorganisierter) gemeinschaftlicher Wohnformen sowie die allgemeine Wohnzufriedenheit von Senioren unter Rücksichtnahme baulicher Aspekte.
Der auf diesem Kapitel folgende Themenkomplex der „neuen Bedarfslage“ von Senioren und eine zusammenfassende „Zwischenbilanz“ im vierten Kapitel schließt den zweiten Schwerpunkt dieser Arbeit ab.
2.1 Gesellschafts- und familienstruktureller Wandel
„Altern in unserer Gesellschaft ist am markantesten durch gesellschaftlich-strukturellen Wandel beeinflusst“ (Naegele/Tews, 1993, S. 15).
Zunächst stellen sich mir die Fragen:
Wie ist der gesellschafts- und familienstrukturelle Wandel entstanden und was beinhaltet er ?
Darauf beziehend schreibt Tews (Naegele/Tews, 1993, S. 20), dass „die Anteile Älterer an der Gesamtbevölkerung steigen, weil die nachwachsenden Generationen kleiner werden (sinkende Geburtenraten, verändertes generatives Verhalten). Die Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen sind somit auf Veränderungen bei den Alten und bei den Jungen zurückzuführen.“ Eine höhere Lebenserwartung und eine geringere Geburtenrate der heutigen Bevölkerung scheinen Triebfedern des gesellschafts- und familienstrukturellen Wandels zu sein, wobei die Quelle dieses Umbruchs laut Liß/Lübbert (vgl. 1993, S. 33 - 34) in der Industrialisierung zu finden ist. Seit dieser Zeit entstand eine Trennung von Haushalt und Arbeitsstätte und damit auch von Arbeitsproduktion und Familie, wie es oft im bäuerlichen Arbeitsfeld üblich war. Abhängigkeiten von wirtschaftlichen Institutionen „abseits des Hauses“ gestalteten das Zusammenleben zwischen den Generationen schwierig, da sie auch familiäre Funktionsverluste mit sich brachten.
Eine ausführliche Ursachenermittlung des gesellschafts-familiären Strukturwandels liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit, so dass ich weiter auf genauere Inhalte dieser strukturellen Veränderung eingehen möchte.
Der Begriff „Individualisierung“ taucht immer wieder in gesellschaftsspezifischer Literatur auf und ist nach Böhnisch (1997, S. 25) „als Konsequenz beschleunigter ökonomischer und sozialer Arbeitsteilung“ zu verstehen. Des Weiteren schreibt er von der „Funktion des Modernisierungsprozesses und meint sowohl den Prozess der Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen- und Bindungen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge, den Verlust traditioneller Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen, als auch die Suche nach einer neuen Art der sozialen Einbindung“ (Böhnisch, 1997, S. 25, zit. n. Beck, 1986, S. 206). In dieser Prozessbeschreibung der „Individualisierung“ von Beck sehe ich eine direkte Verbindung zu den gegenwärtigen Initiationen von neuen (gemeinschaftlichen) Wohnformen im Alter. Eine „neue Art der sozialen Einbindung“, die „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen- und Bindungen“, etc. (vgl. Böhnisch, a.a.O.) sind Definitionselemente der Individualisierung, die von engagierten Senioren und der professionellen Altenarbeit aufgegriffen und umgesetzt werden. Somit bedeutet die Individualisierung und die Pluralisierung von älteren Menschen, dass Defizitbestände kompensiert werden „wollen“, die im Laufe des gesellschaftlichen Strukturwandels entstanden sind und erkannt wurden. Gerade die Generation der „jungen Alten“ (50 bis 80-Jährige) macht sich diese Prozesserscheinungen zueigen, wie am Beispiel von selbstinitiierten gemeinschaftlichen Wohnprojekten zu erkennen ist.
Die Sicht auf eine familienstrukturelle Vielfalt und Dynamik in unserer Gesellschaft wirft bei mir die Überlegungen auf, ob sich ältere Menschen durch diese Auswirkungen der Individualisierung bzw. Pluralisierung in defizitäre Lebens- und Wohnlagen gedrängt fühlen und deshalb Eigeninitiative aus Kompensationsgründen ergreifen oder ob sie einvernehmlich mit den gesellschafts- und familienstrukturellen Tendenzen ihr Bestreben nach familienunabhängigem (gemeinschaftlichem) Wohnen „ausleben“. Anders gefragt: Geht die Abnahme von Mehrgenerationshaushalten von Senioren aus oder isoliert sich die Kernfamilie[9] von den übrigen Familienmitgliedern? Die Hypothese der bewusst inszenierten Isolation der Kernfamilien ist meiner Meinung nach nicht als allgemeingültig zu betrachten. Vielmehr ist der Grund in „der hohen gesellschaftlichen Anforderung an Mobilität und Leistungsfähigkeit“ (Grünendahl, 2001, S. 27, zit. n. Parsons, 1964) auch von Berufswegen zu suchen, so dass die These entsteht, „keinen Platz für soziale Interaktion mit älteren Generationen“ (Grünendahl, 2001, S. 27) zu finden. Andererseits schreibt Grünendahl (a.a.O.) weiter, dass ältere Menschen auch ein „starkes Autonomiestreben (…) in der Beibehaltung eines eigenen Haushalts“ besitzen. In diesem Zusammenhang werden oft Formulierungen wie „innere Nähe bei äußerer Distanz“ (Grünendahl, 2001, S. 27, zit. n. Tartler, 1961) sowie „Intimität auf Abstand“ (a.a.O., zit. n. Rosenmayr/Köckeis, 1965) zitiert.
Um den Themenbezug dieser Arbeit einzukreisen halte ich es für interessant und notwendig, die Intention von Senioren zu erörtern, die hinter dem Bestreben des gemeinschaftlichen Wohnens, unabhängig von der Familie, steht. Handelt es sich dabei um eine Rückbesinnung oder Sehnsucht nach dem Mehrpersonen- bzw. Mehrgenerationen – HAUShalt, ohne allerdings dabei den Autonomiegedanken zu verwerfen? Es hat für mich den Anschein, dass der gesellschaftsstrukturelle Wandel eine Mischkultur aus alten und neuen Werten des Zusammenlebens- und Wohnens entstehen lässt. Der Gemeinschaftssinn unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist nach wie vor vorhanden, jedoch mehr aus emotionalen und weniger aus wirtschaftlichen Zusammenhängen. Die Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft lassen immer seltener eine befriedigende Gemeinschaftlichkeit im (groß-) familiären Rahmen zu, so dass sich aus diesem Entwicklungsstandpunkt alternative Wohn- und Lebensformen, wie z.B. selbstorganisierte Hausgemeinschaften entwickeln, die in der Dimension des gesellschafts- und familienstrukturellen Wandels eine neu-angepasste Bedürfnislage von Senioren erfüllen sollen (vgl. Kapitel 3).
2.2 Soziale Isolation und Einsamkeit
Im Folgenden möchte ich soziale Isolation und Einsamkeit im Alter als Elemente eines Defizitbestandes von Senioren untersuchen. Nach vorangegangener, themenbezogener Auseinandersetzung auf gesellschafts- und familienstruktureller Ebene obliegt dieses Kapitel der Darlegung eines konkreten Strukturelementes, das mir im Zusammenhang, in der Ermittlung einer Defizitkompensation durch gemeinschaftliche Wohnprojekte wichtig erscheint.
Soziale Isolation, Einsamkeit oder auch Singularisierung sind Begrifflichkeiten, die differenziert voneinander zu behandeln sind. Somit kann objektiv eine Isolierung durch eingeschränkte soziale Beziehungen bestehen, allerdings muss sie subjektiv nicht als solche (negativ) wahrgenommen werden. Das verweist auf den Unterschied von Quantität und Qualität von sozialen Kontakten.
Neben der Bedeutung ist aber zunächst einmal die Definition von sozialer Isolation und Einsamkeit zu erörtern. So schreibt Geuß (Hrsg. Howe, 1990, Band 2, S. 27), dass soziale Isolierung dann gegeben ist, „wenn die Sozialkontakte eines Menschen von diesem als nicht hinreichend erlebt werden und wenn dieses Erleben mit negativen Gefühlen verbunden ist, wenn er also darunter leidet.“ Diese von Geuß formulierte Definition der sozialen Isolation wird im selben Zusammenhang von Künzel-Schön (2000, S. 91) als „Einsamkeit“ bezeichnet. Genauer gesagt spricht sie von dem „subjektiven Gefühl, mit weniger Menschen Kontakt zu haben, als man möchte.“ Weiter greift sie aber auch den Begriff der „Isolation“ auf, der für sie eine objektive Sicht auf eine Person mit quantitativ wenigen Sozialkontakten darstellt. Frau Künzel-Schön (vgl. 2000, S. 91-92) geht sogar mit der Begriffsdifferenzierung noch einen Schritt weiter, indem sie zwischen „sozialer Isolation“ mit wenigen Kontakten zu der umgebenen Gemeinschaft, Nachbarschaft und Freunden und der „emotionalen Isolation“ mit dem Fehlen von mindestens einer gefühlsverbundenen Person (Mitmensch), unterscheidet.
Neben der Begriffsdefinition ist die Bedeutung von Isolation im Alter differenziert zu betrachten. „Nicht alle, die nur in sehr eingeschränktem Maße Sozialkontakte haben fühlen sich deshalb auch schon einsam; umgekehrt garantieren zahlreiche Kontakte nicht unbedingt Zufriedenheit“ (Geuß, Hrsg. Howe, 1990, S. 28). Somit kann zwar die Quantität an sozialen Beziehungen eine soziale Isolation ausschließen, aber dennoch einen Zustand der Einsamkeit mit ihren psychosozialen Folgen bestehen lassen. Entscheidend für eine befriedigende Kontaktpflege im Alter ist demnach die Qualität des sozialen Beziehungsnetzwerkes.
Des Weiteren möchte ich verdeutlichen, welche Seniorengruppen, spezifizierend nach Alter und Status und in welchem Maße, von sozialer Isolation und Einsamkeit betroffen sind.
„Nach Ergebnissen der Berliner Altersstudie fühlen sich die Untersuchungsteilnehmer um so einsamer, je älter sie waren, nach Geschlechtszugehörigkeit zeigten sich keine Unterschiede“ (Backes/Clemens, 1998, S. 207, zit. n. vgl. Wagner u.a., 1996, S. 315). Insgesamt wird in einschlägiger Literatur nicht von übermäßiger Vereinsamung älterer Menschen geschrieben mit der Ausnahme der Hochbetagten, die schon wesentlicher von dieser Problematik betroffen sind. Das hängt von der eingeschränkten räumlichen Mobilität und dem Sterben von Lebenspartnern und Freunden ab. Gerade Frauen, aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung, sind häufiger durch Verwitwung mit Einsamkeit konfrontiert, so dass dies auch eine weiterführende Einschränkung im sozialen Netzwerk bedeuten kann insofern, dass in der Partnerschaft gemeinsame soziale Kontakte bestanden haben, die allerdings vom Verstorbenen initiiert und gepflegt wurden (vgl. Backes/Clemens, 1998, S. 201). Fehlende, oft distanzbedingte Familienbeziehungen tragen weiterhin zu Altersisolierung bei (vgl. Reimann, 1994, S. 122).
Der freiwillige Rückzug älterer Menschen aus dem Familienhaushalt wird ebenso von der Alterswissenschaft beobachtet. Mit der Forderung nach „Autonomie- und Individualisierungsstreben“ wird in dieser Tendenz auch die Möglichkeit der Selbstverwirklichung gesehen (vgl. Liß/Lübbert, 1993, S. 35). „Das Allein- und Getrenntleben von der Familie entspricht somit den Forderungen eines optimalen Alterns, da auch die eigene Versorgung einer Reduzierung der geistig-seelischen und sozialen Aktivität vorbeugt“ (Liß/Lübbert, 1993, S. 37). Ausgehend von dieser These stellt sich für mich eine Hausgemeinschaft, mit der Distanz des eigenen Haushaltes und der sozialen Nähe von den Hausmitbewohnern, als gute Kombination des konstruktiven Alterns, unter Einbehaltung der Selbstständigkeit, dar.
Neben dem Alter und den damit einhergehenden Dispositionen für soziale Isolierung, wirken darüber hinaus die im „Lebenslauf ausgebildeten Lebens- und Kontaktstile, wie z.B. geringe soziale Partizipation und Engagement“ (Backes/Clemens, 1998, S. 207) beeinflussend auf das Einsamkeitsempfinden und die quantitativen Sozialkontakte.
Ein Blick auf statistische Zahlen, die sich durch zahlreiche Untersuchungen mit älteren Menschen ergaben zeigt, dass sich im Durchschnitt 10% der Befragten als sehr einsam bezeichneten und weitere 24% als gelegentlich einsam (vgl. Künzel-Schön, 2000, S. 92, zit. n. Elbing, 1991 und Wagner u.a., 1996). Des Weiteren ergab eine deutsche Untersuchung, dass 24% unter Einsamkeit leiden, 55% unentschieden und 22% nicht einsam sind (vgl. Künzel-Schön, 2000, S. 92). Eine deutliche Zunahme von alleinstehenden Hochbetagten sehen die Autoren Kremer-Preiß und Stolarz (vgl., 2003, S. 7), da heute schon fast 60% der Hochbetagten, gegenüber 33% der „jungen Alten“, alleine wohnen. „Während heute etwa jede zehnte 60 - Jährige kinderlos ist, trifft dies in 20 Jahren auf ein Viertel und in 30 Jahren auf ein Drittel der Frauen zu“ (a.a.O., S. 7). Die Folge ist ein Ausbau von nichtfamiliären Hilfsnetzen als Notwendigkeit, die den zukünftigen Unterstützungsbedarf auffangen. Darüber hinaus drängt sich mir die Überlegung auf, ob im Bezug auf die zentrale Fragestellung dieser Arbeit die Initiative des gemeinschaftlichen Wohnens mit der weitsichtigen „Vor-sicht“ angestrebt wird, gerade im höheren Alter im Kontext sozialer Nähe zu leben und zu wohnen.
Ohne die Inhalte folgender Kapitel vorwegzunehmen bin ich der Meinung, dass z.B. die Wohnform der Hausgemeinschaft ein nahes soziales Beziehungsnetzwerk bildet, das im angemessenen Maße Bedingungen für soziale Isolation und Einsamkeit, wie
- mangelnde Verkehrsanbindung
- allgemeine Lebenssituation (Verlust naher Verwandter etc. )
- materieller Status (geringe finanzielle Ressourcen)
- Entwicklung des Gesundheitszustandes
- Ausscheiden aus dem Berufsleben
(vgl. Geuß, Hrsg. Howe, Band 2, 1990, S. 30-32)
auffangen und kompensieren kann. Denn „im allgemeinen kann man aus den vorliegenden Untersuchungen entnehmen, dass zwar ein Teil der Senioren ausgesprochen guten Kontakt zu einzelnen Nachbarn (regelmäßiger Besuch und gegenseitige Hilfeleistungen) hat (Dittrich, 1972, S. 230), im großen und ganzen aber die Norm Geltung hat: Freundlichkeit auf Distanz. (…) So dass im Normalfall nicht gerade von einer hohen Qualität der Nachbarschaftsbeziehungen gesprochen werden kann (…)“ (Reimann, 1994, S. 122).
Dieser Qualitätsanspruch von der reinen Nutzgemeinschaft zur sozialen Wahlgemeinschaft wird sich meiner Meinung nach, aufgrund gesellschaftlicher (Bewusstseins-) Veränderungen, gerade bei den „jungen Alten“ und somit zukünftig Hochbetagten etablieren.
2.2.1 Psychosoziale Folgen
Da „Belastungen durch individuell-biographische, soziale aber auch geschichtliche und gesellschaftliche (…) Faktoren bedingt“ (Künzel-Schön, 2000, S. 110) werden, sind leidvolle psychosoziale Folgen von sozialer Isolation im Alter nicht auf alle Menschen, die wenig Kontakte haben, zu pauschalisieren. Der offenkundige Wunsch nach einem singularisierten Leben und Wohnen kann z.B. bei einem erhöhten Ruhebedürfnis einen positiven Einfluss auf die allgemeine Befindlichkeit dieser Person haben. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache steht allerdings in diesem Kapitelabschnitt der belastungsorientierte Aspekt psychosozialer Folgen von Isolation bzw. Einsamkeit im Vordergrund.
Das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit eines Menschen befinden sich im Leidensdruck der subjektiven Wahrnehmung des persönlichen Beziehungsnetzwerkes. In diesem Fall werden die soziale Nähe und das soziale Netzwerk, unabhängig von der Kontaktquantität, als unbefriedigend empfunden. Grundlegende soziale Bedürfnisse wie emotionale Verbundenheit, Wertschätzung, Zugehörigkeit, Geborgenheit, Zuneigung usw., bleiben längerfristig vernachlässigt, so dass die „Soll-Lage (der Wunsch nach Sozialkontakten in einem bestimmten Umfang/in einer bestimmten Intensität) nicht der Ist-Lage (das vorhandene Maß an sozialen Kontakten)“ (Geuß, Hrsg. Howe, Band 2, 1990, S. 27) entspricht. Das kann nach Geuß (vgl. a.a.O., S. 29 ff.) zu Einschränkungen des Selbstwertgefühls führen, da mangelhafte Sozialkontakte mit der eigenen Persönlichkeit begründet werden. Es können folgende Gedankengänge entstehen: „Das liegt an mir und nicht an den anderen. Ich kann einfach mit anderen Menschen nicht richtig umgehen“ (Geuß, a.a.O., S. 29).
Weiterhin beschreibt er die „soziale Angst“, bei der bestimmte Verhaltens- und Denkmuster aufgebaut werden, welche sich wieder auf die „eigene soziale Ungeschicklichkeit“ beziehen und eine Kausalverkettung knüpfen, die eine befriedigende soziale Interaktion mit Menschen immer unwahrscheinlicher werden lassen und bis zur Resignation bzw. Depression führen können. Diese verinnerlichten Denk- und Verhaltensmuster potenzieren sich in Wechselwirkung mit den unbefriedigten Versuchen der Kontaktaufnahmen zu einer intensivierenden Lebensunzufriedenheit. Die Tendenz zur Selbstentfremdung und einem ausgeprägten introvertierten Verhalten kann im Extremfall sogar bis zum Suizid führen (vgl. auch Reimann, 1994, S. 123 und Schmid-Furstoss, Hrsg. Howe, Band 4, 1992, S. 129 ff.).
Die Möglichkeiten der Sozialarbeit liegen in der Vermittlung von ehrenamtlichen Besuchsdiensten oder in Veranstaltungen der offenen Altenarbeit. Eingehende Beratungsgespräche bis hin zu einer Psychotherapie können soziale Isolation und Einsamkeitsempfinden beseitigen oder zumindest lindern (vgl. Künzel-Schön, 2000, S. 94). Dennoch muss „die Person - nachdem sie erkannt hat, dass eine Belastung vorliegt - auch die Bereitschaft entwickeln, sich damit auseinander zu setzen“ (Künzel-Schön, 2000, S. 114, zit. n. Shanan, 1995). „Die Persönlichkeit, die biographischen Erfahrungen, das Bild, das Menschen von sich selbst und andere von ihnen haben, all das spielt also eine große Rolle bei dem, wie sie Veränderungen und Einschränkungen im Alter wahrnehmen und mit diesen umgehen“ (Künzel-Schön, 2000, S. 114).
2.3 Wohnzufriedenheit – Der bauliche Aspekt
Eine Wohnzufriedenheit im Alter setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen. Ausschlaggebend sind zum Einen subjektive Faktoren, wie z.B. zwischenmenschliche Kontakte im Haus oder in der Nachbarschaft (vgl. Kapitel 2.1 und 2.2), aber auch „Wohnbedingungen und Wohnformen, die im Lebenslauf bestanden haben, bilden eine bedeutende Grundlage dafür, welche Wohnbedingungen und Wohnformen im Alter gesucht werden und das Gefühl der Zufriedenheit mit dem Wohnen vermitteln“ (BFSFJ, 1998, S. 160). Vertrautheit und Sicherheit mit der Wohnung sowie der Wohnungseinrichtung bilden ebenfalls emotional-subjektive Einflussfaktoren von Wohnzufriedenheit (vgl. a.a.O., S. 160).
Zum Anderen sind aus der objektiven Perspektive „räumlich-physikalische Umweltmerkmale (z.B. bauliche Qualität, Wohnfläche, Belichtung, Beschallung)“ (Saup, 1993, S. 101) zu beachten. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1998, S. 160-166) unterscheidet daher zwischen individueller (subjektiver) und gesellschaftlicher Wohnzufriedenheit. Letztere wird mit folgenden Merkmalen im Zusammenhang von Lebensqualität und Wohnen gesehen:
- „Selbstständigkeit
- Gesundheit
- Kognitive Aktivität und Leistungsfähigkeit
- Soziale Aktivität und Partizipation
- Persönliche Identität und Gefühle der Kontinuität trotz veränderter Lebensbedingungen“
(BFSFJ, 1998, S. 160)
Merkmale zur Bestimmung von objektiver Wohnqualität werden vom BFSFJ (1998, S. 166, zit. n. Schmitt, Kruse, Olbrich, 1994) wie folgt zitiert:
- „Qualität der sanitären und technischen Ausstattung
- Qualität der Bausubstanz
- Barrieren innerhalb der Wohnung (Schwellen, unzureichende Beleuchtung etc. )
- Barrieren im unmittelbaren Wohnumfeld (fehlender Aufzug, steile Treppen, enge Flure)
- Hilfsmittel und altersgerechte Technik
- Größe der Wohnung in Relation zur Anzahl der im Haushalt lebenden Personen
- Verkehrsanbindung
- Einrichtungen im Wohnumfeld (soziokulturelle Angebote, Geschäfte, Behörden)
- Soziale Dienste und Unterstützungsmöglichkeiten (Nachbarschaftshilfe)“
Nach Saup und in Folge unterschiedlicher Studien (vgl. Saup, 1993, S. 102) wurden bei älteren Menschen objektiv schlechte Wohnbedingungen festgestellt, obwohl bei Befragungen die Wohnzufriedenheit im Bereich von 83% - 90% lag (Saup, a.a.O.).Wie kommt somit die relativ hohe Wohnzufriedenheit, bei objektiv schlechter Wohnsituation von älteren Menschen zustande? Das BFSFJ (vgl., 1998, S. 160) sowie Saup (vgl., 1993, S. 102) beantworten diese Frage mit einem spezifischen bzw. geringeren „Anspruchsniveau“ im Wohnen. Sicherlich ist dieses Niveau vom wohnbiografischen Lebenslauf einer Person abhängig, so dass ich mir vorstellen kann, dass die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen ein weitaus niedrigeres Anspruchsniveau haben, als die nachfolgenden Generationen. Außerdem lässt die längere Wohndauer in den Wohnungen und Häusern älterer Menschen auf eine intensivere Identifikation mit ihrem Wohnkontext und Wohnumfeld schließen. Dennoch relativiert Saup (1993, S. 103, zit. n. Narten, 1991) die pauschale Wohnzufriedenheit von Senioren mit der Begründung, dass „bei indirekten und Detailfragen sowie einer Exploration (z.B. Zufriedenheit mit Wohnung, mit Wohnumgebung ) auch Unzufriedenheit geäußert wird.“
[...]
[1] Auf eine Geschlechtsdifferenzierung wird im folgenden Text verzichtet. Der Begriff „Senioren“ steht für ältere Frauen und Männer.
[2] „Empowerment meint den Prozeß, innerhalb dessen Menschen sich ermutigt fühlen, ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu entdecken und ernst zu nehmen und den Wert selbsterarbeiteter Lösungen schätzenzulernen.“ (Galuske, 1998, S.264 zit.n. Keupp, 1996, S.164)
[3] Im folgenden Text abgekürzt: BFSFJ
[4] Phil. Anthropologie erforscht die Existenz des Menschen und seine Beziehung zur Welt.
[5] weiterführende Literatur: Kremer-Preiß/Stolarz, 2003
[6] vorwiegend selbstorganisierte Hausgemeinschaften stehen im Fokus dieser Arbeit, vgl. weiterführend Kapitel 1.2.1
[7] KDA: Kuratorium Deutsche Altershilfe; im folgenden Text dementsprechend abgekürzt
[8] weiterführend zu dieser Thematik, vgl. Kapitel 5.4.2.2.1
[9] Die Kernfamilie besteht aus Eltern und Kind/ern.
- Quote paper
- Herr Oliver Zerbin (Author), 2005, Selbstorganisierte Hausgemeinschaften. Gemeinschaftliches Wohnen im Alter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44023
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