Lars von Trier, deren erklärtes Ziel darin besteht, „der Stein im Schuh“ zu sein, beschrieb seinen 1998 veröffentlichten Film IDIOTEN in einem Interview mit Stig Björkmann „als wichtigstes Werk in seiner Suche nach Authentizität“ sowie als „ganzheitliche Erfahrung“.
Indem er fiktive mit authentischen Elementen mischt und bestimmte Aspekte bewusst dokumentarisch erscheinen lässt, erinnert er nicht nur an viele Aktionen Christoph Schlingensiefs; je nach Hintergrundwissen, erschwert diese Raum für Spekulationen schaffende Vorgehensweise die eindeutige Rezeption des Films ungemein. Unter Berücksichtigung des Dogma 95 widmet sich die vorliegende Ausarbeitung daher der Untersuchung der im Film verwendeten Authentizitäts-Strategien.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Lars von Trier
3. Dogma 95
3.1 Regeln und Freiheiten
3.2 Filmgeschichtliche Bezüge
4. Der Film Idioten
5. Authentizitäts-Strategien im Film Idioten
5.1 Dramaturgie
5.2 Arbeitsweise
5.3 Figuren
6. Zusammenfassung und Fazit
7. Literatur-, Film und Abbildungsverzeichnis
1.) Einleitung
Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag lautet der Titel der Studie Erving Goffmans aus dem Jahr 2003, seit dem es aus sozialwissenschaftlicher Sicht endgültig als gegeben angesehen ist, „dass auf der Bühne des Lebens keine unvermittelte Darstellung eines essentiell angelegten Kernselbst möglich ist“[1].
Notwendigerweise immer schon inszeniert, ist jede Darstellung des Selbst somit an Situation, InteraktionsteilnehmerInnen und Kontext gebunden.[2]
Der unter anderem für „Unverfälschtheit“[3] und „Wahrheit“[4] stehende Authentizitätsbegriff kann somit lediglich als „Resultat spezieller Darbietungsformen des individuellen und künstlerischen Selbstverständnisses“[5] aufgefasst werden, oder in den Worten Erika Fischer-Lichtes: „Inszenierung wäre in diesem Sinne die unhintergehbare Voraussetzung der Wahrnehmung, Authentizität ihr Effekt.“[6]
Lars von Trier, deren erklärtes Ziel darin besteht, „der Stein im Schuh“[7] zu sein, beschrieb seinen 1998 veröffentlichten Film Idioten in einem Interview mit Stig Björkmann „als wichtigstes Werk in seiner Suche nach Authentizität“[8] sowie als „ganzheitliche Erfahrung“[9].
Indem er fiktive mit authentischen Elementen mischt und bestimmte Aspekte bewusst dokumentarisch erscheinen lässt, erinnert er nicht nur an viele Aktionen Christoph Schlingensiefs; je nach Hintergrundwissen, erschwert diese Raum für Spekulationen schaffende Vorgehensweise die eindeutige Rezeption des Films ungemein. Unter Berücksichtigung des Dogma 95 widmet sich die vorliegende Ausarbeitung daher der Untersuchung der im Film verwendeten Authentizitäts-Strategien.
Angefangen beim Drehbuchautor und Regisseur des Films, „Lars von Trier“, soll insbesondere das Kapitel „Das Manifest Dogma 95“ sowie die dazugehörigen Unterpunkte „ Regeln und Freiheiten“ und „Filmgeschichtliche Bezüge“ ein erstes Hintergrundwissen hinsichtlich der Arbeitsweise von Triers vermitteln. An die hierauf folgende Vorstellung des Films im Kapitel „Der Film Idioten“ anknüpfend, bildet der Punkt der „Authentizitäts-Strategien im Film Idioten “ den Hauptteil dieser Hausarbeit. Nach eingehender Behandlung der „Dramaturgie“, „ Arbeitsweise“ und „Figuren“ endet »An anderer Stelle in diesem Theater« in einer kurzen Zusammenfassung mit abschließendem Fazit.
2.) Lars von Trier
Am 30. April 1956 in Kopenhagen geboren, zählt der Regisseur und Drehbuchautor Lars von Trier als Absolvent der dänischen Filmhochschule heute zu den markantesten europäischen Filmemachern der Gegenwart.[10] Während seine Filme einerseits als „höchst originell“[11] sowie „suggestiv“[12] beschrieben werden, führt der nahezu beständige Aufgriff seiner persönlichen psychischen Leiden, wie zum Beispiel Depressionen und diverse Phobien, welche er selbst auf seine Kindheit zurückführt, andererseits zu heftigen Kontroversen bezüglich seiner Arbeit.[13]
Indem von Trier beispielsweise seine Angst, in dem Tagebuch, das er während der Dreharbeiten zu Idioten verfasste, als große Antriebskraft beschreibt und das Entstehen der (im folgenden Kapitel thematisierten) Dogma-Regeln mit dem Wunsch begründet, sich einer Autorität sowie Regeln, zu unterwerfen, die er in seiner humanistischen, kulturradikalen bzw. linksliberalen Erziehung nie hatte, lässt der Film Idioten und auch die Arbeitsweise von Triers deutliche autobiografische Bezüge erkennen.[14],[15]
Ebenso die Auswahl des Drehortes des Films Idioten unterstreicht diese um ein Weiteres: Von Trier wuchs selbst in der nördlich von Kopenhagen gelegenen Gemeinde Søllerø auf, in der seine Mutter, als hohe Beamtin im Staatsministerium, für die Aufklärung von Standorten für Behinderten-Einrichtungen verantwortlich war. Søllerø war zu der damaligen Zeit eine Gemeinde, die sich von der Pflicht, hierfür Raum zur Verfügung zu stellen, freikaufte.[16]
Seit er im Jahr 1984 mit The Element of Crime seinen Durchbruch schaffte, gilt Lars von Trier „als Dänemarks begabtester Regisseur, als der Mann, der die Gabe besitzt, den Ruf Dänemarks als internationale Filmemacher-Nation in das nächste Jahrhundert zu tragen“[17]. Derweil von Trier zwar für sein Drehbuch hinsichtlich des Europäischen Filmpreises 1998 nominiert war, blieb seine Arbeit am Film Idioten – abgesehen vom Erhalt des von der internationalen Filmkritiker- und Filmjournalisten-Vereinigung verliehenen FIPRESCI-Preises – unprämiert.[18]
3.) Dogma 95
Der Film Idioten ist ein „Produkt“ von Dogma 95, einem Filmregisseur-Kollektiv, gegründet 1995 in Kopenhagen, als „Rettungsaktion, um bestimmten Tendenzen im modernen Kino entgegenzuwirken.“ Mit der Unterzeichnung des gleichnamigen Manifests durch Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Søren Kragh-Jacobsen ging es durch die bewusste Vermeidung von Effekten, technischer Raffinesse sowie der Verbannung von Illusion und dramaturgischer Vorhersehbarkeit gegen die zunehmende Wirklichkeitsentfremdung des Kinos, bzw. des Autoren-Konzepts der Nouvelle Vague, anzugehen.[19]
Das Manifest Dogma 95 wurde anlässlich der 100-Jahr-Feier des Kinofilms im Odéon-Théâtre de l'Europe am 20. März 1995 in Paris von Lars von Trier und Thomas Vinterberg vorgetragen. Hierin hieß es, dass die sich dem puristischen Dogma verschriebenen Filmemacher zukünftig auf Sets und aufwändige Technik, Requisiten und Kostüme verzichten und sich auf vorhandenes Licht und dem Drehen mit Handkameras ohne Stativ in Farbe, ohne Verlaufsfilter und andere Manipulationsmittel beschränken würden. Ebenso sei Hintergrundmusik nicht erlaubt: Der Ton dürfe nur zusammen mit dem Bild entstehen. Die Handlung spiele ausschließlich im Hier und Jetzt – und entspreche damit der von Aristoteles für das Theater geforderten Einheit von Ort und Zeit.[20]
Die ersten nach dem Dogma 95 entstandenen Filme präsentierten Thomas Vinterberg und Lars von Trier 1998 auf den Filmfestspielen in Cannes. Mit der Seriennummer Dogma#1 wurde Das Fest von Thomas Vinterberg bezeichnet, Dogma#2 markiert Idioten von Lars von Trier. Während Das Fest in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet und für den Europäischen Filmpreis Felix nominiert wurde, ging Idioten leer aus.[21]
Derweil die zu Beginn genannten, maßgeblich beteiligten Regisseure im Jahr 2005 entschieden, dass jedem Produzenten die Umsetzung der Dogma 95 -Kriterien frei stände und das Manifest somit teilweise fallen ließen, wurde die Bewegung im Jahr 2008 mit dem Europäischen Filmpreis in der Kategorie Beste europäische Leistung im Weltkino ausgezeichnet.[22]
3.1) Regeln und Freiheiten
Während Thomas Vinterberg bereits vor der Premiere seines Films Das Fest im Jahr 1998 ein Schuldbekenntnis über alle Verfehlungen gegen das Dogma ablegte, die er in Das Fest begann, gab auch von Trier zu, dass es sich mit Dogma 95 wie mit den zehn Geboten verhalte, welche ebenfalls kaum zu befolgen seien. Ganz offensichtlich geht es bei Dogma 95 somit nicht darum, Regeln aufzustellen und sich fortan nahezu sklavisch daran zu halten. Gegenteilig betonen sowohl von Trier als Vinterberg die befreiende Wirkung der Dogmen auf sie: erst diese Rahmung ermöglichte ihnen, völlig neue Wege zu gehen.[23]
„Die Regeln wirken strukturierend, selbst wenn man sie nicht befolgt“[24], sagt von Trier. Indem das Dogma hier auch inhaltlich wirksam wird, geht Idioten in dieser Beziehung noch weiter als Das Fest. Die Gruppe der „Idioten“ setzt sich selbst enge Grenzen, um ungeahnte Freiheiten zu entdecken.[25] Die im Manifest aufgestellten Regeln bringen eine größtenteils auf Improvisation basierende Arbeitsweise mit sich, welche wiederum, von Trier zu folge, wichtige Aspekte zu der im Rahmen dieser Ausarbeitung thematisierten Authentizität birgt:
„Das Mikrophon in einen Baum zu hängen oder zwei Zahnstocher statt eines gigantischen technischen Apparats zu verwenden – das führt zu einer Art filmischen Wahrheit. Zumindest wird es richtiger. Wahrheit heißt, ein Gebiet zu durchsuchen, um etwas zu finden. Wenn man jedoch schon von vornherein weiß, wonach man sucht, ist es Manipulation. Vielleicht bedeutet Wahrheit etwas zu finden, wonach man nicht sucht …“[26]
3.2) Filmgeschichtliche Bezüge
In mehrfacher Hinsicht seinen Vorgängern verpflichtet, thematisiert Dogma 95, dem Filmwissenschaftler und einstigen Professor von Triers, Peter Schepelern zu folge die generelle Gegenreaktion auf das Establishment, die Initiative gegen den „bürgerlichen“ Unterhaltungsfilm, den oberflächlichen Actionfilm und die Suche nach der Wirklichkeit, nach illusionsloser Wahrheit sowie dem Unverstellten und Echten.[27] Bestätigt wird dieses in der Aussage von Triers, sich im Zuge des Manifests Dogma 95 „mit dem ganzen Herzen“[28] jener Epoche Anfang der 1960er Jahre angeschlossen zu haben, welche sich „Freiheit und Befreiung auf die Fahnen schrieb“[29].
In Anbetracht dessen und im folgenden kurz erläutert, knüpft Dogma 95 bzw. Idioten mit seinem freien Filmstil insbesondere an den Italienischen Neorealismus, die Nouvelle Vague sowie das Direct Cinema an.
[...]
[1] Funk, Wolfgang / Krämer, Lucia (Hg.): Vorwort: Fiktionen von Wirklichkeit – Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. Bielefeld 2011. S. 10
[2] Ebd.
[3] Knaller, Susanne: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs. In: Müller, Harro / Knaller, Susanne (Hrsg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. Paderborn 2006. S. 23
[4] Ebd.
[5] Funk, Wolfgang / Krämer, Lucia (Hg.): Vorwort: Fiktionen von Wirklichkeit. S. 10
[6] Fischer-Lichtes, Erika: Inszenierung von Authentizität. Bd. 1, Tübingen 2007. S. 32
[7] Rukov, Mogens: Lars von Trier. In: Dogma 95. Zwischen Kontrolle und Chaos. Berlin 2001. S. 156
[8] Vgl. Brunow, Dagmar: Trier über von Trier – Gespräche mit Stig Björkman. S. 224
[9] Vgl. Ebd.
[10] Vgl. http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Lars_von_Trier.html (Letzter Zugriff am 06.04.2016)
[11] Vgl. Brunow, Dagmar: Trier über von Trier – Gespräche mit Stig Björkman Hamburg 2001. S. 7
[12] Vgl. Ebd.
[13] Vgl. Ebd. S.13-14
[14] Vgl. Braad Thomsen, Christian: „Idioten“. In: Dogma 95. S. 169
[15] Binotto, Thomas: Anfang der Diskussion. Unbändige Lust auf Dogmen. In: Leo Karrer, Charles Martig, Eleonore Näf (Hg.): Gewaltige Opfer. Filmgespräche mit René Girard und Lars von Trier. Köln 2000. S.130
[16] Vgl. Eisl, Sonja: Sehe ich einen Film oder bin ich schon im Theater? Das Genre »Theaterfilm«. In: Kotte, Andreas (Hg.): Theater im Kasten. Zürich 2007. S. 72-73
[17] Vgl. Presseheft Idioten. Arthaus Filmverleih. München 1998. S. 17
[18] Vgl. Ebd. S. 6
[19] Vgl. Brunow, Dagmar: Trier über von Trier. S.161-162
[20] http://www.dieterwunderlich.de/Lars-von-Trier.htm (Letzter Zugriff am 07.04.2016)
[21] Vgl. Binotto, Thomas: Anfang der Diskussion. Unbändige Lust auf Dogmen. In: Karrer, Leo / Martig, Charles / Näf, Eleonore (Hg.): Gewaltige Opfer. Filmgespräche mit René Girard und Lars von Trier. Köln 2001. S. 128
[22] http://www.fr-online.de/kultur/lebenswerk-europaeischer-filmpreis-fuer-judi- dench,1472786,3304216.html (Letzter Zugriff am 17.04.2016)
[23] Vgl. Binotto, Thomas: Anfang der Diskussion. Unbändige Lust auf Dogmen. S. 132
[24] Vgl. Ebd. S. 133
[25] Vgl. Ebd. S. 133
[26] Knudsen, Peter Øvig: „Die Kontrolle aufgeben“. Lars von Trier im Gespräch. In: Dogma 95. Zwischen Kontrolle und Chaos. Berlin 2001. S.165
[27] Vgl. Schepelern, Peter: Film und Dogma. Spielregeln, Hindernisse und Befreiungen. In: Dogma 95. Zwischen Kontrolle und Chaos. Berlin 2001. S.355
[28] Brunow, Dagmar: Trier über von Trier. S. 222
[29] Ebd.
- Quote paper
- Lena Röttger (Author), 2016, An anderer Stelle in diesem Theater. Über die Authentizität in Lars von Triers Film "IDIOTEN", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/437770
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