Sicher ist das Gefühl „Liebe“ keine Erfindung des Mittelalters oder gar der Neuzeit, vielleicht gibt es sie schon seit dem Entstehen der Menschheit selbst, vielleicht ist sie ein, wenn nicht das konstituierende Merkmal von Menschlichkeit1. Frühe literarische Zeugnisse der Liebe stellen die Strophen der griechischen Lyrikerin Sappho dar, die bereits vor 2600 Jahren die Liebe besang. Auch der römische Dichter Ovid versuchte das Wesen der Liebe in einigen seiner Werke zu ergründen. Eine spezielle Ausprägung der Liebe entstand jedoch an Adelshöfen des südlichen Frankreich ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und strahlte in den folgenden Jahrhunderten auf ganz Europa aus: die so genannte „höfische Liebe“. Eines der ersten wissenschaftlichen Werke, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, ist das Traktat „De Amore“ von Andreas Capellanus, das im späten 12. Jahrhundert entstand. Sein Titel ist Programm: Der Autor gibt dem Leser einen detaillierten Überblick über Wesen und Regeln der höfischen Liebe. „De Amore“ erfuhr im Mittelalter eine große Rezeption und wurde schon früh in mehrere Sprachen übersetzt. Die Intention des Werkes aber war und ist bis heute umstritten, ein Umstand auf den in dieser Arbeit noch näher einzugehen sein wird. Ein modernes Werk über die Liebe entstammt der Feder des Soziologen Niklas Luhmann. In „Liebe als Passion“ untersucht er den historischen Wandel der Liebessemantik nach systemtheoretischen Gesichtspunkten. Er sieht in Liebe weniger ein Gefühl als vielmehr ein Kommunikationsmedium, das sich im Zuge einer gesellschaftlichen Evolution von stratifikatorisch zu funktional differenzierten Gesellschaften herausgebildet hat und dessen Funktion es ist, das Problem der Individualität sozial zu integrieren. Im Folgenden wird das mittelalterliche Traktat „De Amore“ mit Luhmanns „Liebe als Passion“ kontrastiert um so zu einem vertieften wechselseitigen Verständnis beider Bücher zu gelangen. Die Arbeit stellt den Versuch dar, literarische Hermeneutik mit luhmannscher Systemtheorie zusammenzubringen. Hierfür wird im ersten Teil das Vorgehen der Systemtheorie dargestellt um die Grundlage für das Verständnis von „Liebe als Passion“ zu schaffen. Mit dem Wissen über die Grundthesen dieses Buchs wird im zweiten Teil der Arbeit das mittelalterliche Traktat „De Amore“ vorgestellt und nach systemtheoretischen Gesichtspunkten untersucht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.
2. Hauptteil
2.1 Systemtheorie nach Niklas Luhmann
2.2 Die Evolution von Gesellschaften
2.2.1 Segmentäre Gesellschaften
2.2.2 Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften
2.2.3 Funktional differenzierte Gesellschaften
2.2.3.1 Die Folgen der Differenzierung
2.3 Liebe als Passion
2.3.1 Liebe: ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium
2.3.2 Die historische Semantik des Liebesbegriffs
2.3.2.1 Der Liebesbegriff in den Epochen von 1600-
2.3 Die Rolle der Literatur
2.4 Die Entstehung der höfischen Liebe
2.4.1 Gesellschaftliche Grundlagen
2.4.2 Wesen und Ziele der höfischen Liebe
2.5 „De Amore“
2.5.1 Autor
2.5.2 Inhalt
2.5.3 Stilistische Eigenschaften
2.5.4 Rezeption
2.5.5 Forschungsgeschichte
2.6 „De Amore“ und Systemtheorie
2.6.1 „Hof“ als System
2.6.2 „De Amore“ als Zeugnis sich ausdifferenzierender Systeme
2.6.3 Provokation als Potential
2.6.4 Moderne Erzähltechniken in einem mittelalterlichen Werk
2.6.5 Fazit
3. Schluss
3.1 Die Gegenwart des Mittelalters
Verwendete Literatur
Anhang: „De Amore“, Aufbau und Inhalt
1. Einleitung
Sicher ist das Gefühl „Liebe“ keine Erfindung des Mittelalters oder gar der Neuzeit, vielleicht gibt es sie schon seit dem Entstehen der Menschheit selbst, vielleicht ist sie ein, wenn nicht das konstituierende Merkmal von Menschlichkeit[1] . Frühe literarische Zeugnisse der Liebe stellen die Strophen der griechischen Lyrikerin Sappho dar, die bereits vor 2600 Jahren die Liebe besang. Auch der römische Dichter Ovid versuchte das Wesen der Liebe in einigen seiner Werke zu ergründen. Eine spezielle Ausprägung der Liebe entstand jedoch an Adelshöfen des südlichen Frankreich ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und strahlte in den folgenden Jahrhunderten auf ganz Europa aus: die so genannte „höfische Liebe“[2] . Eines der ersten wissenschaftlichen Werke, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, ist das Traktat „De Amore“ von Andreas Capellanus, das im späten 12. Jahrhundert entstand. Sein Titel ist Programm: Der Autor gibt dem Leser einen detaillierten Überblick über Wesen und Regeln der höfischen Liebe. „De Amore“ erfuhr im Mittelalter eine große Rezeption und wurde schon früh in mehrere Sprachen übersetzt. Die Intention des Werkes aber war und ist bis heute umstritten, ein Umstand auf den in dieser Arbeit noch näher einzugehen sein wird. Ein modernes Werk über die Liebe entstammt der Feder des Soziologen Niklas Luhmann. In „Liebe als Passion“[3] untersucht er den historischen Wandel der Liebessemantik nach systemtheoretischen Gesichtspunkten. Er sieht in Liebe weniger ein Gefühl als vielmehr ein Kommunikationsmedium, das sich im Zuge einer gesellschaftlichen Evolution von stratifikatorisch zu funktional differenzierten Gesellschaften herausgebildet hat und dessen Funktion es ist, das Problem der Individualität sozial zu integrieren. Im Folgenden wird das mittelalterliche Traktat „De Amore“ mit Luhmanns „Liebe als Passion“ kontrastiert um so zu einem vertieften wechselseitigen Verständnis beider Bücher zu gelangen. Die Arbeit stellt den Versuch dar, literarische Hermeneutik mit luhmannscher Systemtheorie zusammenzubringen. Hierfür wird im ersten Teil das Vorgehen der Systemtheorie dargestellt um die Grundlage für das Verständnis von „Liebe als Passion“ zu schaffen. Mit dem Wissen über die Grundthesen dieses Buchs wird im zweiten Teil der Arbeit das mittelalterliche Traktat „De Amore“ vorgestellt und nach systemtheoretischen Gesichtspunkten untersucht. Ziel ist es, deutlich zu machen, dass das Mittelalter zwar zeitlich weit entfernt ist, es aber auch heute noch durchaus gegenwärtig ist.
2. Hauptteil
2.1 Systemtheorie nach Niklas Luhmann
Anknüpfend an Talcot Parsons geht Luhmann von der theoretischen Grundannahme aus, dass es verschiedene, voneinander zu unterscheidende Systeme gibt. Während es Parsons um die Struktur von Systemen ging, betrachtet Luhmann dagegen deren Funktion. Als ein System gilt nach Luhmann „alles das, worauf die Unterscheidung von innen (System) und außen (Umwelt) anwendbar ist; Systeme bestehen nicht an sich, sondern sind Resultat von wirklichen Beobachtungen als Unterscheidungen und Bezeichnungen des Unterschiedenen eines Beobachters.“[4] Ein "soziales System" bildet sich immer dann, wenn "ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikationen gegen eine Umwelt abgrenzt."[5] Die Elemente der sozialen Systeme sind für Luhmann weder Handlungen, noch Menschen. Soziale Systeme bestehen in seiner Universaltheorie aus Kommunikationen.[6] Die Gesellschaft im luhmannschen Sinne ist ein autopoietisches System, ihre Elemente sind Kommunikationen. Alles, was nicht auf der Grundlage von Kommunikationen arbeitet, gehört demnach nicht zur Gesellschaft. Das heißt, alles, was Gesellschaft ist und was in ihr geschieht, reduziert Luhmann auf einen abstrakten Begriff von Kommunikation. Die sozialen Systeme finden sich in der internen Umwelt der Gesellschaft, der "Mensch" wird in Luhmanns Systemtheorie in deren externe Umwelt verbannt
Das Gesamtsystem Gesellschaft gliedert sich im Innern in verschiedene Systeme wie sie etwa Politik, Religion, Kunst etc., darstellen. Die jeweils anderen Systeme bilden die Umwelt. Die Aufgabe der einzelnen Systeme ist es, die ihnen zugehörigen Probleme zu bearbeiten. Dabei gibt es keine hierarchische Ordnung, alle sind gleichwertig und nicht gegeneinander austauschbar.
Im Mittelpunkt der Systemtheorie steht die Kommunikation, die von Luhmann als dreistellige Einheit der Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen definiert wird.[7] Eine geglückte, also anschlussfähige Kommunikation gelingt, wenn Ego die Selektionsofferte Alters zur Grundlage eigenen Handelns übernimmt. Interaktion kann gelingen, wenn die Wahlmöglichkeiten der Handelnden begrenzt werden, so dass jeder weiß, was er von dem anderen erwarten kann, und seine Erwartungen nicht enttäuscht, sondern erfüllt werden. Um dies zu ermöglichen, stehen für Systeme symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bereit. „Ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ist eine semantische Einrichtung, die es ermöglicht, an sich unwahrscheinlichen Kommunikationen Erfolg zu verschaffen.“[8] Dies geschieht, indem ein Code die für das Thema relevanten von den für das Thema unrelevanten Kommunikationen durch eine Leitdifferenz selektiert, wodurch ein binärer, systemspezifischer Schematismus entsteht. So ist beispielsweise der binäre Schematismus einer Gerichtsverhandlung Recht/Unrecht, weshalb der Richter für seine Entscheidung auf Gesetze zurückgreift und nicht etwa auf die Differenz Reich/Arm, da dieser Schematismus dem System Wirtschaft angehört. Durch die Funktion der Codes, bestimmte Selektionen erwartbar zu machen, wird die Möglichkeit einer systeminternen Komplexität gesteigert.
2.2 Die Evolution von Gesellschaften
Luhmann unterscheidet drei Gesellschaftssysteme, die evolutionär auseinander hervorgehen: segmentäre, stratifizierte und funktionale.
2.2.1 Segmentäre Gesellschaften
Im ersten Fall besteht die Gesellschaft aus gleichen Teilsystemen, die beispielsweise durch Stämme, Horden oder Familien repräsentiert werden. Die segmentäre Differenzierung, wie man sie in archaischen Gesellschaften finden kann, ist die älteste Gesellschaftsform. Ihr charakteristisches Merkmal bildet der niedrige Spezialisierungsgrad und die hiermit einhergehende geringe Arbeitsteilung.
2.2.2 Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften
In der stratifizierten Gesellschaft stehen die Sozialsysteme nicht mehr neben- sondern in hierarchischen Schichten übereinander. „Die Einheit der Differenz liegt in der Rangdifferenz, die nicht in Frage gestellt werden kann, ohne dass die Gesellschaft in Frage gestellt würde; und diese Differenz ermöglicht dann eine Regulation des Verhaltens für Alltags- und Notlagen.“[9]
Die feudalistischen Gesellschaften des mittelalterlichen Europas waren in drei ungleichrangige Stände aufgeteilt und stellten somit stratifikatorische Gesellschaften dar. Sie umfassten „die Stände Adel (König, Großgrundbesitzer, Ministeriale, Ritterschaft), (höhere und niedere) Geistlichkeit und Bauern (…).“[10] Der einzelne Mensch war Teil einer göttlichen Ordnung, ihm war ein bestimmter und fester Platz innerhalb der Gesellschaft zugewiesen. Er fühlte sich nicht in erster Linie als Individuum, sondern als Glied einer Gemeinschaft. Mit dem Aufkommen der Aufklärung und der Industrialisierung kam es zu einem Strukturwandel auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene, wobei der Begriff des Standes immer mehr an Bedeutung verlor.
2.2.3 Funktional differenzierte Gesellschaften
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist die heutige pluralistische Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft ist nicht mehr in Schichten aufgegliedert, sondern besteht aus einem Nebeneinander funktional spezialisierter Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst oder Sport. Die einzelnen Systeme sind ungleichartig, nicht aber ungleichrangig. Jedes der Teilsysteme leistet Beiträge zur Reproduktion der Gesellschaft. So steuert die Politik kollektiv bindende Entscheidungen, die Wissenschaft wahre Erkenntnisse oder die Wirtschaft Güter und Dienstleistungen zur Bedürfnisbefriedigung bei. Kein Teilsystem kann in dieser Hinsicht durch ein anderes ersetzt werden. Aber diese allseitige Unersetzbarkeit begründet auch eine grundsätzliche Gleichrangigkeit der Teilsysteme. Keines steht – wie der Adel und die Kirchenfürsten im Mittelalter – an der Spitze der Gesellschaft.
2.2.3.1 Die Folgen der Differenzierung
Beim Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Gesellschaftsschichtung kommt es zu einer stärkeren Differenzierung von personalen und sozialen Systemen, da die Einzelperson nun als „sozial ortlos“[11] vorausgesetzt werden muss. Jedes einzelne Individuum ist nicht mehr nur in einem Bereich, z. B. der Familie verwurzelt, sondern in vielen Teilbereichen, etwa Schule, Freizeit, Beruf, immer auch nur zu einem Teil verortet und bewegt sich ständig zwischen diesen. Daraus folgt, dass sich die Person nicht mehr nur durch größere Merkmalsunterschiede auszeichnen, sondern dass es zusätzlich ab jetzt als Zufall angesehen werden muss, wenn Personen gleiche Merkmale aufweisen. Dadurch, dass die Person die Differenz zur Umwelt auf sich selbst zurückinterpretiert, wird das Ich zum „Focus des Erlebens“[12], die Umwelt hingegen nimmt in ihrer Bedeutung ab. Durch diese Komplexierung ergibt sich wiederum der Bedarf für eine Nahbeziehung. Die Individualität und Identität muss im kommunikativen Austausch mit anderen bestätigt werden. „Der Einzelne muss nicht nur in dem, was er selbst ist, er muss auch in dem, was er selbst sieht, Resonanz finden können.“[13] Diese "höchstpersönliche" Kommunikation wird in einer ausdifferenzierten Gesellschaft aber zunehmend unwahrscheinlich, zumal alle Personen auch Individuen, also Einzigartige und anders als die Anderen sind. Für beide Probleme, Individualisierungs- und Nahweltbedarf ist ein Kommunikationsmedium auf dem semantischen Feld der Freundschaft und Liebe geschaffen worden.[14] Diese Probleme zu bewältigen ist also Aufgabe der Liebe.
2.3 Liebe als Passion
2.3.1 Liebe: ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium
In seinem 1982 erschienen Buch „Liebe als Passion“ erhält der Liebesbegriff seine Kontur durch die Differenz von höchstpersönlichen Sozialbeziehungen auf der einen und unpersönlichen, extern motivierten Sozialbeziehungen auf der anderen Seite. Liebe erscheint bei Luhmann nicht als subjektives Gefühl sondern als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium der Beobachtungseinheit Intimbeziehung. „In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikationen realisiert werden.“[15]
2.3.2 Die historische Semantik des Liebesbegriffs
Was Luhmann interessiert, sind die evolutionären Transformationen der Semantik von Worten und Floskeln der Liebe. Der Begriff „Liebe“ ist über die Jahrhunderte gleich geblieben, der Sinngehalt des Wortes hat sich jedoch verändert. Den Forscher interessiert die Frage, wie Liebe kommuniziert wird. Er geht davon aus, dass Gefühle und Gedanken erst durch einen gesellschaftlichen Code ermöglicht werden, dass „es anders nicht zur Bildung sozialer Systeme kommen kann.“[16] Besondere Sprechweisen, Liebessemantiken werden entwickelt, die es erlauben, entsprechende Gefühle auszudrücken. Da sich solche Sinngebungen in Texten ausdrücken, stehen schriftliche Erzeugnisse, die sich dem Thema widmen, in diesem Fall Liebes- und Briefromane, die Traktate und Ratgeber des 17. und 18. Jahrhunderts, im Mittelpunkt der Untersuchung.
2.3.2.1 Der Liebesbegriff in den Epochen von 1600-2000
Für die höfische Liebe vor 1650 ist die Niedrigschätzung von Sinnlichkeit charakteristisch. Sublimierung und gebundene Form stellten das erstrebte Ziel dar. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts erfährt die Liebe eine Idealisierung als Erbe der höfischen Liebe des Mittelalters. Sie bleibt vorerst eine Oberschichtensemantik, da der Rest der Bevölkerung aufgrund der täglichen Arbeit keine Muße dafür finden konnte. Im 18. Jahrhundert verschiebt sich die Semantik des Liebesbegriffs von einer Idealisierung hin zu einer Passion. Ab 1750 wandelt sich dieses Bild vom passiven Erleiden zu einem positiven Zustand, was das Entstehen eigenartiger Paradoxien zur Folge hat. So erscheint sie als Krankheit, von der niemand geheilt werden möchte, die sogar als Ideal erscheint, die aber wie eine Anomalie aus dem Alltag fällt. Aufgrund dieser Komplizierung differenziert sich das System Liebe weiter aus. Diese Formen bleiben zunächst in der Adelsschicht. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft von einer stratifizierten hin zu einer funktionalen differenzierten lässt Widersprüche entstehen. So soll das Besondere nun für alle erreichbar sein. Im 19. Jahrhundert wird durch die Erosion des Adels und der stärker zutage tretenden Schichtendifferenzierung Liebe erstmals für größere Kreise möglich. Während Ehe und Liebe bisher als unvereinbar galten, wird sie nun zu eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Schließung einer Ehe[17]. Ehe und Sexualität werden in den Code inkorporiert. Die romantische Liebe wird zum Sinn des eigenen, individuellen Lebens gekürt. „Auf die paradoxe Codierung des amour passion folgt ein Insistieren auf moralischen Gefühlen, die zumindest das lesende Bürgertum miterfassen und einbeziehen.“[18]
In der Postmoderne erscheint es als vorrangige Aufgabe der Liebe, „einen Partner für eine Intimkommunikation zu finden und binden zu können.“[19] Das Problem, das hierbei auftaucht, ist die Freigabe von Intimbeziehungen aus sozialen Kontrollen aber auch sozialen Rückversicherungen. Die Evolution des Codes „Liebe“ läuft nach Luhmann auf eine immer extremere Individualisierung hinaus. Die externe Stabilisierung, die etwa durch die Familie gewährleistet wurde, muss nun in der Liebe selbst verwirklicht sein. Durch den daraus resultierenden Druck werden innere Spannungen jedoch verschärft. „Die Stabilität muss jetzt aus rein persönlichen Ressourcen heraus ermöglicht werden, und dies zugleich im Sicheinlassen auf den anderen!“[20] Die freigelassene Liebe erscheint als fixpunktlos und der ihr immanenten Gefahr der Instabilität ausgesetzt. Der spezifische Code der Liebessemantik unterscheidet zwischen der einen intimen Person und den anderen, externen Personen. Im Bereich der Sexualität haben sich die Geschlechterdifferenzen erheblich abgeschliffen, „die Gleichheit der Geschlechter wird mehr denn je betont, und die erheblichen Unterschiede im Sexualerleben von Mann und Frau kommen dadurch nicht recht zur Geltung.“[21] Eine weitere prekäre Entwicklung ist die weitgehende Freigabe der Sexualität aus dem Kontext der Liebe, die zu einer Erosion der Sexualität als einem symbiotischen Mechanismus für Intimbeziehungen geführt hat. In der heutigen ausdifferenzierten Welt, in der das Individuum viele verschiedene Rollen einnimmt, ist es nach Luhmann die Funktion der Liebe eine „Validierung der Selbstdarstellung“[22] zu ermöglichen. „Damit kommt eine hochgradig merkwürdige, heute jedoch überall verbreitete Semantik von Aufrichtigkeit ins Spiel.“[23] Um aber überhaupt aufrichtig sein zu können, ist es wichtig die jeweils eigene Psyche genau zu kennen. Aus diesem Grund ist an die Stelle von Romanen als Vermittler von Liebessemantik eine Ratgeberliteratur getreten, in der „orgasmische Vollbefriedigung (…) teils kaum bewusst, aber um so deutlicher zu erkennen, in die Semantik des Sports propagiert wird.“[24] Deutlich wurde, dass die Form der Liebessemantik während einer dreihundertjährigen Entwicklung auf eine zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung personaler, privater Intimität reagiert hat. Der Sinngehalt von „Liebe“ hat sich in dieser Zeit mehrfach geändert, war aber immer mit den gesellschaftlichen Entwicklungen direkt verbunden.
[...]
[1] So schreibt z.B. Erich Fromm: „Der Glaube an die Möglichkeiten der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.“ In: Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens. Sonderausgabe. Berlin 2004, S. 151.
[2] Der Begriff der "höfischen Liebe" wurde geprägt von dem französischen Romanisten Gaston Paris, der 1883 in einem Aufsatz über "Lancelot" von Chrétien de Troyes Merkmale der höfischen Liebe herausgestellt hat. Vgl.: Bumke, Joachim: Höfische Kultur, Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 8. Aufl. München 1997, S. 504 f.
[3] Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt 1994. Im Folgenden zitiert als Luhmann, 1994.
[4] Krause, Detlef : Luhmann-Lexikon. Stuttgart 1996, S. 161.
[5] Ebd., S. 162.
[6] Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 1986, S. 269.
[7] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. 2. Aufl. Frankfurt/M 1985, S. 194. Im Folgenden zitiert als Luhmann, 1985.
[8] Luhmann, 1994, S.21.
[9] Luhmann, 1985, S. 22f.
[10] Rüdiger Peuckert: Stände. In: Grundbegriffe der Soziologie. Hrsg. Von Bernd Schäfers. 8. überarbeitete Auflage. Opladen 2003, S. 379.
[11] Luhmann, 1994, S. 16.
[12] Ebd., S. 17.
[13] Luhmann 1994, S.18.
[14] Vgl. Ebd. S.18.
[15] Ebd., S. 23.
[16] Ebd., S. 21.
[17] „Partnerwahl und Eheschließung waren damals nur selten Sache der unmittelbar Betroffenen: entscheidende Instanz war das durch die Väter vertretene Familieninteresse." Kuhn, Helmut: „Liebe“. Geschichte eines Begriffs. München 1975, S. 96. Oder „In dieser Gesellschaftsschicht wurden offensichtlich alle Ehen arrangiert.“ Duby, Georges: Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter. Berlin 1989, S. 37.
Bisher bildeten etwa in der Aristokratie bei der Heirat dynastische und strategische Überlegungen die Auswahlkriterien für die Ehepartner. Sexualität und Liebe fand vorwiegend außerhalb der Ehe statt. Bei Angehörigen der bäuerlichen oder städtischen Unterschichten war die Ehe primär eine wirtschaftliche Not- und Zwangsgemeinschaft, Raum für Liebe gab es kaum.
[18] Luhmann 1994, S. 55.
[19] Ebd., S. 197.
[20] Luhmann, 1994, S. 198.
[21] Ebd., S. 204.
[22] Ebd., S. 208.
[23] Reese-Schäfer, Walter: Niklas Luhmann zur Einführung. 3. vollst. überarb. Auflage. Hamburg 1999, S. 58.
[24] Luhmann, 1994, S. 204.
- Arbeit zitieren
- Jörg Hartmann (Autor:in), 2005, "Liebe ist..." Liebeskonzeptionen in Mittelalter und Neuzeit am Beispiel von Andreas Capellanus' 'De Amore' und Niklas Luhmanns 'Liebe als Passion', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43747
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