Die Literatur zur Schachästhetik des 20. Jahrhunderts befasst sich größtenteils mit der einseitig betrachtenden Perspektive eines wahrnehmenden Subjekts auf eine fest stehende Schachstellung als Idee im leeren Raum. Schachkompositionen werden in der Analyse gegenüber gespielten Schachpartien eindeutig bevorzugt, möglicherweise weil sie scheinbar die Illusion eines außerhalb der Zeit gedachten, passiven Schachspiels als „Bild“ aufrecht erhält, das nur darauf wartet, erkannt zu werden. Wie diese Schachstellungen sich materialisieren, spielt in diesen Werken keine Rolle.
Ich möchte dieser erkenntnistheoretisch geprägten Ästhetik eine performative Ästhetik des Schachspiels gegenüberstellen, die das Schachspiel als handelndes Agens betrachtet, das durch agentielle Schnitte unter anderem Subjekte und Schachstellungen konstituiert.
Die zentrale Fragestellung der oben genannten Werke - Was macht Schach schön? und: Unter welchen Umständen kann man Schach als Kunst bezeichnen? - weichen somit Fragestellungen wie: Wie materialisiert sich das Schachspiel? In welchen Phänomenen zeigt es sich? Welche Räume und welche Zeiten bringt es hervor? Was für Subjekte und was für Objekte erzeugt es? Die Vorstellung von aktiven Menschen, die ein passives Schachspiel „benutzen“ wird zugunsten einer Beschreibung des Spiels des Schachspiels an sich selbst verworfen.
Ich möchte dafür im ersten Schritt mit dem Agentiellen Realismus von Karen Barad das Schachspiel als Apparat beschreiben. Dies wird die Grundlage für die ästhetische Beschreibung des Schachspiels bilden. Anschließend werde ich mich mit an Barad anschließenden Methoden und mit ihrer Theorie verwandten Texten mit der Subjektkonstitution des Schachspiels, der Art, wie das Schachspiel betrachtet wird, verschiedenen historischen Rhythmen des Schachspiels, der wissenschaftlichen Ästhetik des Schachspiels am Beispiel der Eröffnungstheorien und dem Schachspiel als Kunst am Beispiel des Werks von Marcel Duchamp widmen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Grundlagen einer agentiell-realistischen Ästhetik des Schachspiels
- Die Ästhetischen Implikationen des Agentiellen Realismus
- Das Schachspiel als Apparat
- Wer betrachtet was? - Subjekt/Objektkonstitution im Schachspiel
- Gespaltne Subjekte
- Das Schachspiel als Praxis der Selbstbildung
- Zusammenführung
- Wie wird das Schachspiel betrachtet?
- Vor dem Spiel: Flussers ontologischer Taumel
- Die Suche nach einem guten Zug. Karten und Bäume
- Historische Beispiele der rhythmischen Veränderung des Schachspiels
- Die Regeländerungen des Schachspiels im 15. Jahrhundert
- Von der Nachbarschaft zur Distanz
- Verlangsamungen des Schachspiels im 19. Jahrhundert: Staunton-Figuren und Steinitz
- Die Schachuhr
- Möglichkeiten durch Computer: Premoves und Bullet-Schach
- Schach als Wissenschaft: die Eröffnung
- Schach als Kunst: Marcel Duchamp
- Kleiner Exkurs: Die hypermoderne Schachschule
- Zusammenspiel von Postmoderne und Hypermoderne
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der ästhetischen Betrachtung des Schachspiels und greift dazu auf den Agentiellen Realismus von Karen Barad zurück. Das Ziel ist es, die traditionelle erkenntnistheoretische Sichtweise des Schachspiels als passives Objekt, das von einem Subjekt betrachtet wird, zu überwinden und eine performative Ästhetik zu etablieren, die das Schachspiel als handelndes Agens betrachtet. Dabei wird untersucht, wie das Schachspiel Subjekte und Schachstellungen konstituiert und welche Materialisierungsprozesse im Spiel stattfinden.
- Der Agentielle Realismus als Grundlage für eine performative Ästhetik des Schachspiels
- Die Subjektkonstitution im Schachspiel und die Rolle des Spielers als Subjekt
- Die verschiedenen historischen Rhythmen des Schachspiels
- Die wissenschaftliche Ästhetik des Schachspiels am Beispiel der Eröffnungstheorien
- Das Schachspiel als Kunst am Beispiel des Werks von Marcel Duchamp
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die zentrale Fragestellung der Arbeit vor: Wie materialisiert sich das Schachspiel? Welche Räume und welche Zeiten bringt es hervor? Welche Subjekte und welche Objekte erzeugt es? Sie führt die traditionelle Schachästhetik des 20. Jahrhunderts aus und kritisiert deren einseitige Betrachtung des Schachspiels als passives Objekt. Anschließend wird der Agentielle Realismus von Karen Barad vorgestellt, der als Grundlage für die performative Ästhetik des Schachspiels dient.
Kapitel 2 stellt die grundlegenden Annahmen des Agentiellen Realismus vor und erklärt, wie dieser für die ästhetische Beschreibung des Schachspiels relevant ist. Das Schachspiel wird als Apparat mit offenen Grenzen betrachtet, der verschiedene Phänomene materialisiert, wie Spielregeln, Partien, Spieler_Innen-Subjekte, Kunstwerke und Schachliteratur.
Kapitel 3 untersucht die Subjektkonstitution im Schachspiel und analysiert, wie das Schachspiel Subjekte konstituiert. Dabei wird die Rolle des Spielers als Subjekt, der durch das Spiel geformt wird, und die gespaltene Natur des Subjekts im Schachspiel behandelt.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Art, wie das Schachspiel betrachtet wird. Es wird untersucht, wie das Schachspiel einen bestimmten Blick auf die Welt erzeugt und welche Erfahrungen es im Spielraum möglich macht.
Kapitel 5 befasst sich mit den historischen Rhythmen des Schachspiels und zeigt, wie sich das Schachspiel im Laufe der Zeit verändert hat. Es werden die Regeländerungen im 15. Jahrhundert, die Verlangsamungen des Spiels im 19. Jahrhundert und die Einführung der Schachuhr behandelt.
Kapitel 6 beleuchtet das Schachspiel als Wissenschaft und analysiert die Eröffnungstheorien als ein Beispiel für wissenschaftliche Ansätze im Schach.
Kapitel 7 widmet sich dem Schachspiel als Kunst und betrachtet das Werk von Marcel Duchamp als Beispiel dafür, wie Schach als Kunstform verwendet werden kann. Es werden die hypermoderne Schachschule und das Zusammenspiel von Postmoderne und Hypermoderne im Schachspiel erörtert.
Schlüsselwörter
Agentieller Realismus, Ästhetik, Schachspiel, Apparat, Subjektkonstitution, Materialisierung, performative Ästhetik, historische Rhythmen, Eröffnungstheorien, Schach als Kunst, Marcel Duchamp.
- Quote paper
- Hannes Köpke (Author), 2017, Die Ästhetik des Schachspiels. Eine agentiell-realistische Betrachtung von Virtualität und Materialität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/436893