In der Charakterisierung der Werke THOMAS BERNHARDs gehört das Wort „finster“ wohl zu den Hauptadjektiven der Rezeption. Dies dürfte ursächlich an der geradezu obsessiven Verwendung von Motiven liegen, welche die menschliche Existenz negativ beschreiben: Tod, Krankheit, Selbstmord und Vernichtung (Vgl.: Kohlhage 1987: 119). Schon bei der flüchtigen Lektüre der Texte THOMAS BERNHARDs fällt auf, dass die genannten Motive in seinem Werk omnipräsent sind (Vgl. bspw.: Schmidt-Dengler 19892: 7; Hillebrand 1999: 109). Gerade Krankheiten treten in der vom Autor dargestellten Welt so zahlreich und in so verschiedenartigen Formen auf, dass man geradezu von einer kranken Welt sprechen könnte (Vgl.: Jahraus 1991: 91; Jahraus 1992: 145): Ob Krankheiten nun ausführlich beschrieben oder beiläufig erwähnt werden, offensichtlich leiden fast alle Figuren unter mal schweren, mal weniger schweren Beeinträchtigungen und Schwächungen ihrer Gesundheit. Allerdings sind nicht nur die Menschen krank: ALLES in seinem Werk ist unabwendbar krank (Vgl.: Kohlhage 1987: 119f). Es drängt sich folglich die Vermutung auf, dass insbesondere der Krankheitsdarstellung eine machtvolle, konstitutive Funktion zukommt (Vgl.: Kohlhage 1987: 119; siehe auch: Fuest 2000: 13, 41). Verschiedene Autoren gehen davon aus, dass THOMAS BERNHARD in seinem Werk mit den unterschiedlichsten Mitteln alle denkbaren menschlichen Existenzformen als sinnlos darzustellen versucht (Vgl. bspw.: Kohlhage 1987: 119; Jurdzinski 1984: 111). In dieser Arbeit soll die These vertreten werden, dass auch die Funktion der Krankheitsdarstellung im BERNHARDschen Werk darin liegt, diese Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit der Existenz des Menschen in aller Klarheit aufzuzeigen (Vgl.: Kohlhage 1987: 119; Jurdzinski 1984: 111).
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Motiv der Krankheit bei Thomas Bernhard
2.1. Eine Typologisierung: Die Stheniker und die Astheniker und deren Krankheiten
2.1.1. Die Stheniker
2.1.2. Die Astheniker
2.2. Die Stheniker und Astheniker und deren Krankheiten im Werk „Verstörung“
2.2.1. Die Struktur des Werkes
2.2.2. Stheniker und Astheniker
2.2.2.1. Die Stheniker
2.2.2.2. Die Astheniker
2.3. Die Funktion der Krankheitsdarstellung
2.3.1. Krankheit als Chance
2.3.2 Die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der Charakterisierung der Werke THOMAS BERNHARDs gehört das Wort „finster“ wohl zu den Hauptadjektiven der Rezeption. Dies dürfte ursächlich an der geradezu obsessiven Verwendung von Motiven liegen, welche die menschliche Existenz negativ beschreiben: Tod, Krankheit, Selbstmord und Vernichtung (Vgl.: Kohlhage 1987: 119). Schon bei der flüchtigen Lektüre der Texte THOMAS BERNHARDs fällt auf, dass die genannten Motive in seinem Werk omnipräsent sind (Vgl. bspw.: Schmidt-Dengler 19892: 7; Hillebrand 1999: 109). Gerade Krankheiten treten in der vom Autor dargestellten Welt so zahlreich und in so verschiedenartigen Formen auf, dass man geradezu von einer kranken Welt sprechen könnte (Vgl.: Jahraus 1991: 91; Jahraus 1992: 145): Ob Krankheiten nun ausführlich beschrieben oder beiläufig erwähnt werden, offensichtlich leiden fast alle Figuren unter mal schweren, mal weniger schweren Beeinträchtigungen und Schwächungen ihrer Gesundheit. Allerdings sind nicht nur die Menschen krank: ALLES in seinem Werk ist unabwendbar krank (Vgl.: Kohlhage 1987: 119f). Es drängt sich folglich die Vermutung auf, dass insbesondere der Krankheitsdarstellung eine machtvolle, konstitutive Funktion zukommt (Vgl.: Kohlhage 1987: 119; siehe auch: Fuest 2000: 13, 41). Verschiedene Autoren gehen davon aus, dass THOMAS BERNHARD in seinem Werk mit den unterschiedlichsten Mitteln alle denkbaren menschlichen Existenzformen als sinnlos darzustellen versucht (Vgl. bspw.: Kohlhage 1987: 119; Jurdzinski 1984: 111). In dieser Arbeit soll die These vertreten werden, dass auch die Funktion der Krankheitsdarstellung im BERNHARDschen Werk darin liegt, diese Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit der Existenz des Menschen in aller Klarheit aufzuzeigen (Vgl.: Kohlhage 1987: 119; Jurdzinski 1984: 111).
Bei der Untersuchung dieser These stellt sich zunächst die Frage, wie Krankheit bei THOMAS BERNHARD allgemein dargestellt wird und welche Formen von Krankheit es gibt. Da in seinem Werk alle Menschen krank sind, findet sich hier keine Einteilung der Menschen in Kranke und Gesunde, sondern eine Einteilung in unterschiedliche Formen/Stufen des Krankseins und eine entsprechende Typologisierung von Krankheit und Kranken. Mit der Darstellung dieser Typologisierung soll hier begonnen werden. Da die hier behandelte Typologisierung von Krankheit in allen von BERNHARDs Werken in der systematischen Komposition des Romans „Verstörung“, im Folgenden in den Literaturangaben von mir als V. bezeichnet, am deutlichsten ersichtlich ist (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 24, Steinert 1984: 109), wird dieser im folgenden Abschnitt der Arbeit unter dem Aspekt der Krankheitstypologien exemplarisch untersucht. Abschließend wird überprüft, inwiefern die Krankheitsdarstellung die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz aufzeigt.
2. Das Motiv der Krankheit bei Thomas Bernhard
2.1. Eine Typologisierung: Die Stheniker und die Astheniker und deren Krankheiten
Die Typologisierung der Krankheitszustände01 der Figuren in THOMAS BERNHARDs Texten beruht wohl vor allem auf einem Gedankenmodell des Romantikers NOVALIS, der neben KIERKEGAARD, PASCAL und SCHOPENHAUER zu den wichtigsten Referenzfiguren des Autors zählt (Vgl.: Langer 1999: 180; Jurgensen 1998: 74). NOVALIS bezieht sich in seinen Fragmenten zur Physiologie und Medizin auf das Konzept der „Erregungslehre“ des schottischen Arztes JOHN BROWN, welcher eine generelle Unterscheidung zweier Krankheitszustände trifft: Die Unterscheidung zwischen Asthenie und Sthenie (Vgl.: Langer 1999: 180). Dabei entstehen Krankheiten entweder durch einen zu schwachen Erregungszustand (Asthenie) oder durch einen zu hohen Grad an Erregung (Sthenie). Novalis übernimmt diese Polarisierung und erweitert sie noch durch die Einbeziehung der Unterscheidung des Bamberger Arztes RÖSCHLAUB zwischen Reizbarkeit und Sensibilität. Die Begriffe Asthenie und Sthenie werden nun noch durch die Gegensatzpaare „schwach und stark, Seele und Körper, Innenwelt und Außenwelt“ (Zelinsky 1970: 25) und „introvertiert und extrovertiert“ (Strebel-Zeller 1975: 19) ergänzt (Vgl.: Zelinsky 1970: 25; Strebel-Zeller 1975: 13-22).
In den Texten THOMAS BERNHARDs finden sich diese Typen in den verschiedensten Formen wieder. So unterscheidet CHRISTA STREBEL-ZELLER in Bezug auf die Stheniker hauptsächlich zwischen der großen Gruppe der Instinktmenschen und den relativ selten vorkommenden Erfolgsmenschen und in Bezug auf die Astheniker zwischen den Gefühlsmenschen und den Verstandesmenschen (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 13-22)02.
2.1.1. Die Stheniker
Die Stheniker sind Menschen, welche über Dinge und Sachverhalte um sie herum nicht tiefer nachdenken, ihnen fehlt jede Differenziertheit (Vgl.: Strebel-Zeller
1975: 12, 19). Sie sind vom Typ her eher robuster, härter und stumpfer (Vgl.: Fuest 2000:
59). Oft werden sie durch den vitalen und teilweise auch brutalen „Muskelmenschen“ (Strebel-Zeller 1975: 19) vertreten (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 19). Sie stellen die anonyme Masse der Menschheit dar (Vgl.: Fuest 2000: 61).
Instinktmenschen als erste Untergruppe der Stheniker existieren in der Gegenwart und reflektieren ihr Handeln nicht. Sie handeln instinktiv und sind sich ihrer selbst nicht als Subjekt bewusst. Aus dieser „Selbstbewußtlosigkeit“ (Strebel-Zeller 1975: 13) entsteht ein „naiver Egoismus“ (Strebel-Zeller 1975: 13), der dazu führt, dass sich Instinktmenschen zeitweise wie der Mittelpunkt der Welt fühlen. Ihre Unreflektiertheit bewirkt eine Horizontlosigkeit des Daseins und zumeist eine Einschränkung des Handelns auf die „Re-Aktion“ (Strebel-Zeller 1975: 13). Im Vordergrund steht hier die tierhafte Komponente des beschriebenen Typus Mensch. In THOMAS BERNHARDs 1965 veröffentlichtem Werk „Frost“03, im Folgenden in den Literaturangaben mit F. abgekürzt, werden Instinktmenschen als „Menschen im „Urzustand“ (F.: 14 zitiert nach Strebel-Zeller 1975: 14) beschrieben, „ihr soziales, geistiges und kulturelles Niveau ist tief, ihre Existenz ist ein Dahinvegetieren, ihr Leben ist ein ‚Geschlechtsleben’“ (F: 14 zitiert nach Strebel-Zeller 1975: 14). Instinktmenschen haben ganz bestimmte, als „niedrig“ empfundene Berufe wie zum Beispiel den des Fleischers, des Viehhändlers, des Gastwirts, des Holzfällers, des Abdeckers oder des Totengräbers und sie wohnen meist im Tiefland, in Tälern oder Schluchten (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 14f). Die Unreflektiertheit ihres Daseins birgt den Vorteil, dass sie eine gewisse „Geistesnaivität“ (Strebel-Zeller 1975: 15) besitzen, die sie von der Frage nach dem Sinn des Lebens abhält und sie dem Tod recht gleichgültig gegenüber stehen lässt.
Die Erfolgsmenschen als zweite Untergruppe der Stheniker sind zwar nicht stumpfsinnig oder in Alltäglichkeit gefangen, aber ihr Beruf nimmt sie derart in Anspruch, dass auch sie nicht tiefer nachdenken, sondern sich auf das Handeln beschränken und somit eine hauptsächlich egoistische Einstellung aufweisen. Sie sind durch „Erfolg und Rücksichtslosigkeit, Kühnheit und Entschlußkraft“ (Strebel-Zeller 1975: 18) gekennzeichnet. Verzweiflung ist ihnen so gut wie fremd (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 18f).
Stheniker sind ihrer Körperlichkeit, ihrer Existenz und damit der Natur ausgeliefert und werden von der (ihrer) Natur vernichtet, ohne je in ein bewusstes Verhältnis zu ihr getreten zu sein (Vgl.: Fuest 2000: 60; Strebel-Zeller 1975: 15). Krankheiten, der Tod und das Leben sind hier generell in einen Naturzusammenhang der
menschlichen Biologie eingebunden, den die Menschen nicht nur nicht beeinflussen
können, sondern den sie auch in keiner besonderen Weise wahrnehmen und sich bewusst machen (Vgl.: Jahraus 1992: 145). So sind sie selten Opfer einer geistigen Erkrankung. Die Krankheiten der Stheniker sind aufgrund von deren Stumpfsinnigkeit meist körperlicher Natur. Alle diese Krankheiten sind Todeskrankheiten (Vgl.: Jahraus 1991: 92). Den Instinktmenschen auf niedrigster Stufe stellt der Schwachsinnige dar (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 15).
2.1.2. Die Astheniker
Alle Protagonisten in THOMAS BERNHARDs Texten, also die „Helden“ (Strebel-Zeller 1975: 19) der Texte, sind Astheniker (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 19). Diese sind körperlich schwächliche, nervöse, sensible und geistig veranlagte Außenseiter der Gesellschaft (Vgl.: Fuest 20005: 59; Scheichl 1979: 107f). Sie reflektieren dauernd, forschen unaufhörlich nach Gründen und Ursachen, „die alles in Frage stellen“ (Strebel-Zeller 1975: 12), und vollziehen „die Kritik ihres Denkens an ihrem eigenen Denken“ (Strebel-Zeller 1975: 12). Astheniker suchen ohne Pause nach dem Sinn des Lebens, wobei ihnen ihr Tod als das Unabwendbare und einzig Sichere in ihrer Zukunft bewusst ist (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 12, 19; Jahraus 1991: 81; Jahraus 1992: 150). Aufgrund ihrer Reflexion wird ihnen alles um sie herum zum Problem: „die Welt, wie sie sie sehen, die Existenz, der Tod, die Sprache und gar ihr eigenes Denken, ihr Selbst“ (Strebel-Zeller 1975: 19). Meist leiden die Astheniker unter besonders scharf ausgeprägten Sinnen: Sie sind häufig „überhellhörig“ (Strebel-Zeller 1975: 20) und „überhellsichtig“ (Strebel-Zeller 1975: 20). Sie empfinden ihre Umwelt als nicht-geistig und/oder als geistesfeindlich (Vgl.: Jahraus 1991: 81f) und fühlen sich von ihr ausgegrenzt und in ihrer Existenz bedroht (Vgl.: Jahraus 1991: 93). Aufgrund der Tatsache, dass bei Asthenikern eine vollkommene Dominanz des Geistes bzw. des Intellektes eines Menschen über alle seine anderen Persönlichkeitsmerkmale herrscht, werden die Astheniker auch als „Geistesmenschen“ (Jahraus 1991: 81) bezeichnet (Vgl.: Jahraus 1991: 81f, 92f).
Der Gefühlsmensch als eine Form des Asthenikers ist zumeist ein Künstler. Er hat eine sehr feine Wahrnehmung und denkt nicht wissenschaftlich, sondern, wie in „Frost“ beschrieben, „phantastisch“ (F.: 169 zitieret nach Strebel-Zeller 1975: 21). Seinen künstlerischen Beruf, beispielsweise den des Malers („Frost“), des Musikstudenten („Amras“) oder des Akrobaten („Am Ortler“) übt er nicht mehr aus, weil er pausenlos mit sich selbst und mit seinen Krankheiten beschäftigt ist. Der Gefühlsmensch ist seiner Innen- und Außenwelt pausenlos ausgeliefert. Er ist nicht in der Lage, sich von den Problemen und Dingen zu distanzieren (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 21).
[...]
01. Eine ausführliche Auflistung zu den unterschiedlichsten Formen der Krankheit im Werk Thomas Bernhards findet sich bei: Kohlhage 1987: 90f.
02. Andere Formen der Stheniker wie die „normalen Menschen“ oder die „inkonsequente Jugend“ (Vgl.: Strebel-Zeller 1975: 18) treten in Thomas Bernhards Werk kaum auf und werden hier entsprechend vernachlässigt.
03. Vgl.: Bernhard, Thomas: Frost. Frankfurt am Main 1972.
- Arbeit zitieren
- Vera Allmanritter (Autor:in), 2004, Die Funktion der Krankheitsdarstellung bei Thomas Bernhard, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43198
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