Wir schreiben das Jahr 1914, es tobt der Erste Weltkrieg in Europa. Janusz Korczak, ein polnischer Militärarzt, kümmert sich um Verletzte – und verfasst gleichzeitig sein erstes pädagogisches Werk «Das Kind in der Familie», welches 1919 erscheint. Basierend auf seinen Erfahrungen als Kinderarzt in Krankenhäusern und in privaten Haushalten beschreibt er den Entwicklungsverlauf des neugeborenen Kindes bis zu dessen Eintritt in die Pubertät und skizziert dabei seine Vorstellung vom Kind und dessen Erziehung. Dass sich diese von dem damaligen Bild in der Gesellschaft unterscheidet, zeigt sich in zahlreichen gesellschaftskritischen Anmerkungen: «Die ganze moderne Erziehung ist bestrebt, ein bequemes Kind heranzubilden; konsequent, Schritt für Schritt, trachtet sie danach, alles einzuschläfern, zu unterdrücken, zu zerstören, was im Kind Wille und Freiheit, Seelenstärke und Unternehmungsgeist ausmacht».
Aus seiner Sicht ist das Kind ein zu respektierendes Individuum mit seinen Eigenheiten, welches sich nicht erst zu einem vollständigen Menschen entwickeln muss, sondern bereits einer ist und wie ein Erwachsener Rechte besitzt. Auf der Grundlage dieses Kindheitsbildes formuliert er unter dem Namen «Magna Charta Libertatis» drei Grundrechte, die jedem Kind zustehen und die weit über die vom Völkerbund 1924 veröffentlichte internationale Vereinbarung über die Rechte der Kinder in der Genfer Deklaration gehen.
Korczak zeichnet sich dadurch aus, dass er es nicht bei seinen schriftlichen Abhandlungen belässt, sondern seine Ideen in Waisenhäusern umsetzt und weiterentwickelt. Noch heute sind seine Ideen von Aktualität geprägt und er ist als bedeutender Pädagoge des 20. Jahrhunderts und als «Pionier der Kinderrechte» bekannt.
Rezension: Von der Geburt bis ins Jugendalter - Eine Abhandlung Korczaks über das Aufwachsen des Kindes in der Familie
Korczak, Janusz (1999). Das Kind in der Familie. In Beiner, Friedhelm; Dauzenroth, Erich (Eds.), Janusz Korczak Sämtliche Werke, Band 4 (p. 10-62). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Wir schreiben das Jahr 1914, es tobt der erste Weltkrieg in Europa. Janusz Korczak, ein polnischer Militärarzt, kümmert sich um Verletzte - und verfasst gleichzeitig «unter dem Donner der Geschütze, im Krieg…» (p. 115) sein erstes pädagogisches Werk «Das Kind in der Familie», welches 1919 erschien. 1920 wurde das Werk als Teil einer Tetralogie veröffentlicht und 1929 in überarbeiteter Form derselben Tetralogie unter dem Titel «Wie liebt man ein Kind» publiziert.
Basierend auf seinen Erfahrungen als Kinderarzt in Krankenhäusern und in privaten Haushalten, be-schreibt er den Entwicklungsverlauf des neugeborenen Kindes bis zu dessen Eintritt in die Pubertätund skizziert dabei seine Vorstellung vom Kind und dessen Erziehung (vgl. Godel-Gassner & Krehl2011, p. 45-47). Dass sich diese von dem damaligen Bild in der Gesellschaft unterscheidet, zeigt sichin den zahlreichen gesellschaftskritischen Anmerkungen: «Die ganze moderne Erziehung ist bestrebt,ein bequemes Kind heranzubilden; konsequent, Schritt für Schritt, trachtet sie danach, alles einzu-schläfern, zu unterdrücken, zu zerstören, was im Kind Wille und Freiheit, Seelenstärke und Unter-nehmungsgeist ausmacht» (p.19). Aus seiner Sicht ist das Kind ein zu respektierendes Individuummit seinen Eigenheiten, welches sich nicht erst zu einem vollständigen Menschen entwickeln muss,sondern bereits einer ist und wie ein Erwachsener Rechte besitzt. Auf der Grundlage dieses Kind-heitsbildes formuliert er unter dem Namen «Magna Charta Libertatis» drei Grundrechte, die jedem Kind zustehen und die weit über die vom Völkerbund 1924 veröffentlichte internationale Vereinba-rung über die Rechte der Kinder in der Genfer Deklaration gehen (vgl. Godel-Gassner & Krehl 2011, p. 70). Korczak zeichnet sich dadurch aus, dass er es nicht bei seinen schriftlichen Abhandlungen belässt, sondern seine Ideen in Waisenhäusern umsetzt und weiterentwickelt (vgl. ebd. p. 38). Noch heute sind seine Ideen von Aktualität geprägt und er ist als bedeutender Pädagoge des 20. Jahrhunderts und als «Pionier der Kinderrechte» (vgl. Liebel 2013, p.7) bekannt.
In der ersten Hälfte seines Werks «Das Kind in der Familie» skizziert Korczak in 50 nummerierten Abschnitten den Werdegang eines Kindes von der Schwangerschaft bis zur Jugend in chronologischer Reihenfolge. Stilistisch beginnt jeder Absatz mit einer prägnanten Aussage, welche dem Leser den Vorhang für die kommende Szene öffnet, welche in Form von erfahrungsbasierten Erläuterungen und häufig konkretisiert mit detaillierten Situationsbeschreibungen, allesamt in leicht verständlicher und teils sehr poetischer Sprache, daherkommen.
Als Zielpublikum fokussiert er in erster Linie Mütter, bereits im ersten Abschnitt wendet er sich direktan sie. Durch die häufigen gesellschaftskritischen Aussagen fühlt sich aber auch ein «pädagogisches Publikum» angesprochen. Da der Text häufig in Form von Fragen oder leicht überspitzt formuliert ist,spricht er die Leserschaft direkt an und fordert zum Nachdenken auf. Das Anregen eigener Gedan-kengänge bei der Leserschaft und nicht etwa das Liefern exakter Anleitungen scheint Korczak beson-ders wichtig zu sein. So begründet er im ersten Kapitel, «dass kein Buch, kein Arzt den eigenen auf-merksamen Gedanken, die eigene genaue Beobachtung ersetzen können» (p. 10). Die persönliche Einstellung der Erziehenden entscheiden laut Korczak über das Gelingen der Erziehung.
In den ersten Abschnitten zeigt Korczak erziehungsrelevante Gedankengänge auf, die bereits vor der Geburt eines Kindes zu klären sind: Eine Mutter hat laut Korczak keinen Besitzanspruch auf ihr eige-nes Kind und sollte sich trennen von Erwartungshaltungen, die häufig auf gesellschaftlichen Idealvor-stellungen basieren und die Individualität ihres Kindes ignorieren. In einem zweiten Teil rückt er die Mutter als Menschen ins Licht, welche wie das Kind Bedürfnisse aufweist und die auch wahrnehmensollte. Er appelliert basierend auf seinem Erfahrungsschatz als Kinderarzt an die Mütter, ihre wertvol-le Intuition und die Beobachtungsgabe selbstbewusst zu entwickeln und einzusetzen. Formfertige Handlungsanweisungen liefert er den Müttern nicht, hingegen betont er die starke Ausprägung der Individualität bei Säuglingen, welcher durch genaue Beobachtung gerecht werden muss. In einemdritten Teil erläutert er, dass Säuglinge aus seiner Sicht oftmals unterschätzt werden, welche enor-men Willensanstrengungen sie vollziehen, um sich Schritt für Schritt ihre Umwelt zu erschliessen.Anschliessend leitet er aus seinen bisherigen Ausführungen ab, dass Kindern auch Grundrechte zu-stehen, welche er mit «Magna Charta Libertatis» tituliert. Mit Ausführungen in einem fünften Teilzum richtigen Umgang mit Grenzen, zum Aufbau des Selbstbewusstseins und einer Relativierung derteils angenommenen unbegrenzten Möglichkeiten der Erziehung, schliesst sich der Bogen der ersten Hälfte des Gesamttextes.
Korczak eröffnet den Text in Abschnitt zwei mit einem ersten grundsätzlichen und gesellschaftskriti-schen Gedanken, den er als nicht haltbar entlarvt: Die Einstellung einer Mutter, ihr Kind als ihr Eigen-tum zu betrachten. So sind Kind und Mutter während der Schwangerschaft zwar aufs Innerste ver-eint, jedoch ist das Kind aus Elementen der Natur zusammengefügt und damit Teil des ewigen Kreis-laufes der Natur. Aus der Perspektive des Weltalls ein Nichts, bestehend aus Atomen, jedoch be-wohnt durch eine Seele und somit auch durch Gott. Doch Mutter’s Eigentum ist es nicht (vgl. p. 11-13). Erziehung ist in Korczaks Augen eine grosse Aufgabe, welche bereits im Voraus wichtige Gedan-kengänge von den Erziehenden fordert, wie sie am besten das Kind auf die Welt vorbereiten können, welches man bei den Höhen und Tiefen des Lebens als «Schmetterling über dem aufschäumenden Wildbach des Lebens» (p. 14) bezeichnen könnte. Klar ist für ihn, dass dem Kind eine bedingungslose Liebe zusteht. Mit jedem neuen Kind, das in eine Gesellschaft geboren wird, sollte diese sich mit Ge-danken zur zukünftigen Bildung und anderen notwendigen Infrastrukturen auseinandersetzen (vgl. p.15). Kommt ein Kind dann auf die Welt, ist es nicht wie John Locke behaupten würde, ein «unbe-schriebenes, weisses Blatt», sondern ist aus der Sicht von Korczak «wie ein Pergament, dicht be-schrieben mit winzigen Hieroglyphen, von denen du nur einen Teil zu entziffern vermagst; einigekannst du löschen oder nur durchstreichen und mit eigenem Inhalt füllen» (p. 13). Jeder Mensch istdas Glied einer unendlichen Generationenkette und durch seine Vorfahren geprägt (vgl. p. 12f.).Diese grundsätzliche Vorstellung erklärt die starke Betonung der Individualität jedes Kindes und de-ren Achtung in diversen Abschnitten des Textes. Diese Einzigartigkeit verstärkt sich mit jeder weite-ren Lebenserfahrung, doch wird darauf in der Erziehung nicht genug Rücksicht genommen. Elternneigen nach Korczak dazu, die Entwicklung ihres Kindes mir derjenigen des Idealkindes abzugleichenund entsprechend über ihr Kind zu urteilen. Sei dies beispielsweise in Bezug auf die Intelligenz (vgl. p.18) oder auf seine allgemeinen Charaktereigenschaften. Er beschreibt das Idealkind der modernen Gesellschaft als «brav, gehorsam, gutwillig, bequem», dies aber auf Kosten der fehlenden Entwick-lung von «Wille und Freiheit, Seelenstärke und Unternehmungsgeist» (p. 19).
Eine Mutter sollte sich bewusst sein, dass die Erziehung eine grosse Aufgabe ist, welche den Konflikteigener Bedürfnisse und denjenigen vom Kind entstehen lässt und einige schlaflose Nächte mit sichbringt. Doch genau in solchen herausfordernden Zeiten sieht Korczak die wertvolle Gelegenheit, dasssich ein «seelischer Umschwung» (p. 22) vollzieht, der die Intuition entfalten lässt und die Mutterdazu drängt, zu handeln anstatt sich in endlosen hypothetischen Überlegungen zu verlieren. Laut Korczak ist diese Beobachtungsgabe und die mütterliche Intuition sehr wichtig, um das Kind entspre-chend seiner Konstitution zu pflegen und zu erziehen. Bereits ein Säugling ist noch vor dem Erlerneneiner Sprache fähig zu kommunizieren. Nuancen in der Art und Weise des Weinens weisen auf unter-schiedliche Gemütszustände des Kindes und somit auf unterschiedliche Bedürfnisse hin (vgl. p.23).Doch laut seinen Beobachtungen mangelt es Müttern an diesem Vertrauen. Lieber geben sie ihre Verantwortung ab und hegen den Traum eines unterstützenden Freundes in Form eines Arztes, derihnen sagt, was zu tun ist (vgl. p.20f.). So ist schlüssig, dass Korczak sich gegen formfertige Hand-lungsanweisungen zum Thema Ernährung und zur Gesundheitslehre ausspricht (vgl. p. 29f.). Bei der Diskussion ums Stillen vertritt er jedoch eine klare Meinung: Er fordert, dass der Säugling von seiner Mutter gestillt werden sollte, unabhängig von (un)moralischem Verhalten und Verurteilungen (bei-spielsweise bei unehelichen Kindern). Denn das Stillen ist für ihn die «Fortsetzung der Schwanger-schaft» (p. 26), welches er als Argument zur Kritik des Ammenwesens aufführt (vgl. 25f.).
In einem dritten Teil des Textes kommt erneut zum Ausdruck, dass für Korczak jeder Säugling bereits individuell ist und individuelle Bedürfnisse aufweist. Seine Haltung begründet Korczak durch seine Beobachtung hunderter von Babys; exemplarisch beschreibt er vier Säuglinge mit unterschiedlichem Entwicklungsverlauf. Allen gemeinsam ist, das Kind «muss sich gut fühlen, ganz unabhängig von sei-nem angeborenen Temperament von seiner angeborenen, scharfsinnigen oder trägen Intelligenz» (p.35). Die psychologische Säuglingsforschung ist für ihn ein zu entwickelndes Forschungsterrain (vgl. p.33), behaftet mit der Herausforderung der Lieferung exakter Zeitangaben der Entwicklungsstadieneines Kindes durch die Wissenschaft, die den Ursprung erneut in der Individualität jedes einzelnen Kindes hat (vgl. p. 43). Korczak ist fasziniert von Kindern und deren Entwicklung, er schreibt: «Oh, ichliebkose diese Kinder mit meinem Blick, dem Gedanken, der Frage: Wer seid ihr, wunderbares Ge-heimnis, was tragt ihr in euch?» (p. 41). Diese Leidenschaft spiegelt sich in seiner Biografie. Sie veran-lasste ihn 1912 seine Stelle im Krankenhaus aufzugeben, um die Leitung eines Kinderhauses zu über-nehmen. «Wir kennen das kranke Kind; wir müssen das Kind auch im gesunden Entwicklungsprozesskennenlernen» (Korczak 1913, anlässlich der Eröffnung des «Dom Sierot». Gesellschaft «Hilfe für Waisen» in Warschau, zit. n. Beiner & Dauzenroth 1999, p. 31). Fasziniert beschreibt Korczak die Entwicklung des Sehvermögens und des Gehörs. Er schildert aus der Perspektive des Kindes, wie essich anfühlen muss, wenn die Welt um einen herum noch unklare Konturen aufweist und man untergrösster Anstrengung sich Stück für Stück seine Umwelt erschliesst. Er verweist auf die ungerechtfer-tigte Annahme vieler Erwachsener, in derer Augen das Kind nur «spielt», doch eigentlich studiert esseine Umwelt unter grösstem Kräfteaufwand. Denn das Ziel des Säuglings ist «sein Streben nach Be-herrschung der unbekannten Elemente, des Geheimnisses der Welt» (p. 39). «Würden wir unsgründlicher in das Bewusstsein eines Säuglings hineindenken, so fänden wir dort viel mehr vor, alswir annehmen» (p. 37). Ein paar Seiten weiter verdeutlicht er mit klaren Worten: «Macht doch, zum Teufel, die Augen auf, und ihr werdet seine Willensanstrengung, etwas zu verstehen, wahrnehmen»(p. 40).
Für Korczak ist klar, solche individuellen Wesen verdienen Achtung und Respekt. So formuliert er im vierten Teil des Textes: «Achtung! Entweder wir verständigen uns jetzt, oder wir trennen uns für immer ... Ich fordere die Magna Charta Libertatis als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch weitere, ich aber habe diese drei Grundrechte herausgefunden:
1.- Das Recht des Kindes auf den Tod.
2.- Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag.
3.- Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist» (p. 45).
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- Quote paper
- Manuela Haldimann (Author), 2017, Janusz Korczaks "Das Leben in der Familie". Ansichten über das Aufwachsen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/431378
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