Als Einstieg in das Seminarthema „Europäisches Gesellschaftsrecht nach Inspire Art“ muss man sich zunächst klar machen, dass der Terminus des europäischen Gesellschaftsrechts ein wenig in die Irre führt: Es handelt sich hierbei nicht um ein geschlossenes Rechtsgebiet im Sinne einer abschließenden und homogenen Kodifikation ; vielmehr sind auf europäischer Ebene nur an verschiedenen Punkten Regelungen getroffenen worden, die einen Teil des Gesellschaftsrechts abdecken. Im Kern aber geht es um die Frage, inwieweit das nationale Recht grenzüberschreitend Gültigkeit behält. Hierbei spielt insbesondere das Problem der sog. Niederlassungsfreiheit nach Artt. 43 ff. EG eine entscheidende Rolle.
Gliederung:
1. Einleitung
1.1. Die begriffliche Reichweite der Niederlassungsfreiheit
1.2. Ein Blick auf die Entwicklungen anderer Grundfreiheiten
2. Die Entwicklung der Rspr. bis Inspire Art
2.1. Die Klopp-Entscheidung
2.2. Die Daily Mail-Entscheidung
2.3. Die Centros-Entscheidung
2.4. Die Überseering-Entscheidung
2.5. Die Inspire Art-Entscheidung
2.5.1. Die Ausgangslage von Inspire Art
2.5.2. Die Prozessentscheidung des EuGH
3. Zwischenergebnis
4. Die Konsequenzen der EuGH-Rspr. für das deutsche und europäische Gesellschaftsrecht
4.1. Prozessuale Konsequenzen aus Inspire Art
4.1.1. Gründungs- vs. Sitztheorie
4.1.1.1. Sitztheorie
4.1.1.2. Gründungstheorie
4.1.1.3. Entscheidung
4.2. Firmierung als Gesellschaft ausländischen Rechts
4.3. Mitbestimmung
4.3.1. Analogiefähigkeit der Mitbestimmungsgesetze
4.3.2. Rechtfertigung der Beschränkung der Artt. 43 ff. EG
4.4. Gläubigerschutz
4.4.1. Reichweite der Niederlassungsfreiheit
4.4.4.1. „Jedermannshaftung“
4.4.4.2. Existenzvernichtungshaftung
4.4.4.3. Insolvenzverschleppungshaftung
4.4.4.5. Culpa in Contrahendo
4.4.2. Rechtfertigung einer Beschränkung im Interesse des Gläubigerschutzes
5. Fazit und Ausblick
1. Einleitung
Als Einstieg in das Seminarthema „Europäisches Gesellschaftsrecht nach Inspire Art“ muss man sich zunächst klar machen, dass der Terminus des europäischen Gesellschaftsrechts ein wenig in die Irre führt: Es handelt sich hierbei nicht um ein geschlossenes Rechtsgebiet im Sinne einer abschließenden und homogenen Kodifikation[1] ; vielmehr sind auf europäischer Ebene nur an verschiedenen Punkten Regelungen getroffenen worden, die einen Teil des Gesellschaftsrechts abdecken. Im Kern aber geht es um die Frage, inwieweit das nationale Recht grenzüberschreitend Gültigkeit behält. Hierbei spielt insbesondere das Problem der sog. Niederlassungsfreiheit nach Artt. 43 ff. EG eine entscheidende Rolle.
1.1. Die begriffliche Reichweite der Niederlassungsfreiheit
Zunächst wurden die Grundfreiheiten als sog. Diskriminierungsverbote verstanden[2]. Der EuGH ist hier allerdings nicht stehen geblieben, sondern hat sie zusätzlich als Beschränkungsverbot gedeutet: Dazu sei die Rspr. des EuGH bis Inspire Art[3] und die Rechtslage in der Gemeinschaft in den Blick genommen:
1.2. Ein Blick auf die Entwicklungen anderer Grundfreiheiten
In der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit hat der EuGH die Entwicklung hin zu Beschränkungsverboten bereits vollzogen. Grundlegend für diesen Schritt war bezüglich der Warenverkehrsfreiheit das Urteil in Sachen Dassonville[4], das zwar später durch das Keck-[5] und das Cassis de Dijon-Urteil[6] noch partiell korrigiert wurde; gleichwohl hat die Warenverkehrfreiheit einen enorm großen Anwendungsbereich durch den EuGH erhalten. Eine ebensolche Entwicklung lässt sich hinsichtlich der Dienstleistungsfreiheit durch die Urteile van Binsbergen[7] und Säger ./. Dennemeyer[8] beobachten.
2. Die Entwicklung der Rspr. bis Inspire Art
Fraglich ist, ob auch die Niederlassungsfreiheit über das Diskriminierungsverbot hinaus als Beschränkungsverbot zu sehen ist[9]. Das Recht auf freie Niederlassung nämlich wird gem. Art. 43 I EG nur „nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen“ gewährt. Zu diesen Bestimmungen gehört insbesondere Art. 43 II EG, der seinem eindeutigen Wortsinn nach nur ein Recht auf Gleichstellung gibt, also darauf, als EG-Ausländer nicht schlechter gestellt zu werden als die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates. Diese (unzweideutige) Formulierung unterscheidet die Niederlassungsfreiheit von den anderen erwähnten Grundfreiheiten.
Wie in anderen Bereichen – zu nennen ist an dieser Stelle etwa die unmittelbare Wirkung von Richtlinien[10] – auch, divergieren hier aber offenbar die dogmatischen Auffassungen zwischen Gemeinschaftsgesetzgeber und EuGH. Die Konzeptionen zur Verwirklichung des Binnenmarktes im Bereich der Mobilität und Umstrukturierungen von Unternehmen scheinen vom Gesetzgeber ganz anders intendiert zu sein als von der Rspr.: Während jener in der SE-VO[11] und der SE-RiLi[12] deutlich macht, dass er der Rechtswahlfreiheit im Gesellschaftsrecht nur beschränkte Bedeutung zuerkennt[13], behandelt der EuGH diese immer extensiver, wie sich aus der nachfolgenden chronologischen Rechtsprechungsanalyse ergibt:
2.1. Die Klopp-Entscheidung
Begonnen hat die Ausweitung der Niederlassungsfreiheit mit der Klopp-Entscheidung des EuGH[14]. Hier lag in der Verweigerung der Errichtung einer Zweigniederlassung durch einen Anwalt in Frankreich jedenfalls keine Diskriminierung. Dennoch hat der EuGH eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit in dem französischen Verbot der anwaltlichen Zweigniederlassung gesehen und damit begründet, dass nicht-diskriminierende Beschränkung nur dann zulässig seien, wenn sie aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt und zur Verwirklichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich seien[15].
2.2. Die Daily Mail-Entscheidung
Mit der Entscheidung in Sachen Daily Mail and General Trust PLC gegen das britische Finanzministerium[16] hat der EuGH festgestellt, dass die Art. 52 und 58 EWG-Vertrag den Gesellschaften nationalen Rechts kein Recht darauf gewähren, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Gründungsstaates in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen[17]. Mithin sind Wegzugsbeschränkungen mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar.
2.3. Die Centros-Entscheidung
Anders war die Fallkonstellation in Sachen Centros Ltd. gegen Erhvervs- og Selskabsstyrelsen[18],[19]. Hier ging es um die Frage der Vereinbarkeit von Zuzugsbeschränkungen mit der sekundären Niederlassungsfreiheit. Die Zentralverwaltung lehnte damals die Eintragung der Centros Ltd. ab, weil diese keine Geschäftstätigkeit in England entfaltet habe und sie somit de facto keine Zweigniederlassung, sondern einen Hauptsitz in Dänemark errichten wolle[20]. Zweck dieser Vorgehensweise sei die Umgehung der dänischen Gründungsvorschriften, insbesondere über die Einzahlung eines Mindestkapitals. Der EuGH entschied aber entgegen dessen, dass ein Mitgliedstaat zwar grds. berechtigt sei, Maßnahmen gegen Missbrauch und betrügerische Berufung auf die Gemeinschaftsvertragsvorschriften zu ergreifen, in der vorgenannten Sache handele es sich aber gerade nicht um einen solchen Fall des Rechtsmissbrauchs[21]. Maßnahmen zu Beschränkung der im EG garantierten Grundfreiheiten seien nämlich nur dann zulässig, wenn sie – und hier greift der EuGH auf die Begründung der Klopp-Entscheidung zurück[22] – (1) in nicht diskriminierender Weise, (2) zwingenden Gründen des Allgemeininteressen entsprechen, (3) zur Zielerreichung geeignet und (4) erforderlich sind[23] ; diese vier Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall mithin nicht erfüllt.
2.4. Die Überseering-Entscheidung
Im Jahre 2002 hat der EuGH diese Linie schließlich noch weiter konkretisiert: Es ging um die seit langem strittige[24] Frage, ob im deutschen Gesellschaftskollisionsrecht der Gründungs- oder der Sitztheorie zu folgen ist, also ob Gesellschaftsstatut das Recht des Gründungsstaates oder das Recht des Staates ist, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hat. In seinem Urteil hat der EuGH einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit bejaht, indem er das Herkunftslandprinzip auf Gesellschaften anwendet[25]. Jede Gesellschaft leite ihre Existenz von ihrer Heimatrechtsordnung ab und solange der Heimatstaat die Gesellschaft als existent ansehe, müsse sie auch von allen anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anerkannt werden[26]. Der EuGH hat sich im Ergebnis also nicht hinreißen lassen, über die Sitztheorie an sich eine Entscheidung zu treffen; er hat dennoch im Ergebnis unmissverständlich festgestellt, dass Zuzugsbeschränkungen auch bei nachträglicher Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes mit der primären Niederlassungsfreiheit unvereinbar sind[27].
2.5. Die Inspire Art-Entscheidung
Der Sache nach ging es bei der Inspire Art-Entscheidung[28] um einen ähnlichen rechtlichen Fall wie bei der Centros-Entscheidung[29]: auch hier war um die Vereinbarkeit von Zuzugsbeschränkungen mit der sekundären Niederlassungsfreiheit gestritten worden. Der entscheidende Unterschied bestand nun darin, dass bei Inspire Art nicht wie bei Centros die Eintragung in das Register als solche vom Zuzugsstaat verweigert wurde, sondern mit der Eintragung gewisse Bedingungen und besondere Rechtsfolgen, sog. Sonderanknüpfungen, verbunden werden sollten. Zum Sachverhalt in concreto:
2.5.1. Die Ausgangslage von Inspire Art
Die Niederlande hatte, um den Zuzug von Scheinauslandsgesellschaften zu begrenzen, das Gesetz über formal ausländische Gesellschaften (Wet op de formeel buitenlandse vennotschappen = WFNV[30]) erlassen. Hiernach mussten Kapitalgesellschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit, die nach ausländischem Recht gegründet sind und ihre Tätigkeit vollständig oder nahezu vollständig in den Niederlanden ausüben und von einer tatsächlichen Bindung an den Gründungsstaat frei sind[31], sich als formal ausländische Gesellschaft in das niederländische Handelsregister eintragen lassen und im Schriftverkehr ausdrücklich als solche firmieren. Zudem schreibt das WFBV weitgehende Offenlegungs- und Publizitätspflichten vor und bestimmt schließlich, dass die Anforderungen an die Mindestkapitalausstattung der inländischen Gesellschaften gem. Art. 178 II Burgerlijk Wetboek (Zivilgesetzbuch) auch für formal ausländische Gesellschaften gelten[32]. Rechtsfolge der Nichterfüllung dieser Voraussetzungen ist die gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer neben der Gesellschaft[33]. Die Inspire Art Ltd. ist eine nach englischem Recht gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung, dessen satzungsmäßiger Sitz im Vereinigten Königreich (Folkstone) liegt. Geschäftstätigkeit entfaltet die Gesellschaft hingegen nur in den Niederlanden, wobei eine zukünftige Änderung dessen nicht geplant war[34]. Die Handelskammer Amsterdam verlangte nun die soeben genannte besondere Eintragung und Behandlung der Inspire Art Ltd. nach Maßgabe des WFBV. Das mit dem sich anschließenden Rechtsstreit befasste Kantongerecht Amsterdam legte schließlich dem EuGH die Frage vor, ob die Bestimmungen der WFBV mit den Art. 43 und 48 EG vereinbar und ggf. auf der Basis von Art. 46 EG oder aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein könnten[35].
[...]
[1] so auch: Grünwald, S. 12
[2] Schleper in Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 14, S. 15.
[3] EuGH, Urteil vom 30.09.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art).
[4] EuGH, Urteil vom 11.07.1974 – Rs. 8/74 (Staatsanwaltschaft / Benoit und Gustave Dassonville).
[5] EuGH, Urteil vom 24.11.1993 – Rs. C-267/91 und C-268/91 (Strafverfahren gegen Bernard Keck und Daniel Mithouard).
[6] EuGH, Urteil vom 20.02.1979 – Rs. C-120/78 (Cassis de Dijon).
[7] EuGH, Urteil vom 03.12.1974 – Rs. 33/74 (Van Binsbergen) = NJW 1975, 1095.
[8] EuGH, Urteil vom 25.07.1991 – Rs. C-76/90 (Säger/Dennemeyer & Co. Ltd.) = EuGHE 1991, I-4221.
[9] Blumenwitz in NJW 1989, 621 (622f).
[10] Während Richtlinien im Gegensatz zu Verordnungen des Gemeinschaftsgesetzgebers de lege nur hinsichtlich ihres Ziel verbindlich und damit umsetzungsbedürftig sind (Art. 249 EG), hat sich der EuGH in mittlerweile gefestigter Rspr. über diese gesetzliche Vorgabe hinweggesetzt und die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien (unter gewissen Voraussetzungen) statuiert.
[11] Verordnung (EG) Nr.2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft(SE) (abrufbar unter: europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2001/l_294/l_29420011110de00010021.pdf).
[12] Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (abrufbar unter: http://europa.eu.int/eur-
lex/pri/de/oj/dat/2001/l_294/l_29420011110de00220032.pdf).
[13] siehe auch FN 102.
[14] EuGH, Urteil vom 12.07.1984 – Rs. 107/83 (Klopp) = EuGHE 1984, 2971.
[15] EuGH, Urteil vom 12.07.1984 – Rs. 107/83 (Klopp) = EuGHE 1984, 2971 (2987).
[16] EuGH, Urteil vom 27.09.1988 – Rs. 81/87 (Daily Mail).
[17] EuGH, Urteil vom 27.09.1988 – Rs. 81/87 (Daily Mail), Rdn. 24.
[18] = dänische Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften.
[19] EuGH, Urteil vom 09.03.1999 – Rs. C-212/97 (Centros).
[20] EuGH, Urteil vom 09.03.1999 – Rs. C-212/97 (Centros), Rdn. 7.
[21] EuGH, Urteil vom 09.03.1999 – Rs. C-212/97 (Centros), Rdn. 39.
[22] siehe oben.
[23] EuGH, Urteil vom 09.03.1999 – Rs. C-212/97 (Centros), Rdn. 34.
[24] Kersting/Schindler in RdW 2003, 621 (621).
[25] EuGH, Urteil vom 05.11.2002 – Rs. C-208/00 (Überseering), Rdnrn. 81f.
[26] EuGH, Urteil vom 05.11.2002 – Rs. C-208/00 (Überseering), Rdn. 55.
[27] Stoller in JuS 2003, 846 (846).
[28] EuGH, Urteil vom 30.09.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art).
[29] EuGH, Urteil vom 09.03.1999 – Rs. C-212/97 (Centros).
[30] Wet vom 17.12.1997, Staatsblad 1997, 697; Art. 1-5 WFBV auch abgedruckt in den Schlussanträgen des Generalanwalts Siegbert Alber vom 30.01.2003 in der Rs. C-167/01 (Inspire Art) (abrufbar unter www.curia.eu.int)..
[31] = formal ausländische Gesellschaft i.S.d. Legaldefinition des Art. 1 WFBV
[32] Art. 4 I WFBV.
[33] Art. 4 IV WFBV; dazu auch: EuGH, Urteil vom 30.09.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art), Rdnrn. 28ff.
[34] Zum Sachverhalt außerdem: Schlussanträge des Generalanwalts Siegbert Alber vom 30.01.2003 in der Rs. C-167/01 (Inspire Art), Rdnrn. 3ff. (abrufbar unter www.curia.eu.int); EuGH, Urteil vom 30.09.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art), Rdnrn. 34ff.
[35] EuGH, Urteil vom 30.09.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art), Rdn. 39; Schlussanträge des Generalanwalts Siegbert Alber vom 30.01.2003 in der Rs. C-167/01 (Inspire Art), Rdn. 9 (abrufbar unter www.curia.eu.int).
- Arbeit zitieren
- Holger Engelkamp (Autor:in), 2005, Europäisches Gesellschaftsrecht nach Inspire Art, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42905
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