Als der 19-jährige Robert Steinhäuser, vor nunmehr etwas mehr als drei Jahren, am Vormittag des 26. April 2002 an seiner ehemaligen Schule, dem Johannes-Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, 13 Lehrer, zwei Schüler, einen Polizisten und anschließend sich selbst erschoss, versetzte dies Deutschland in einen Schockzustand. War diese Tat doch die bis dato schlimmste anzunehmende Steigerung schulischer Gewalt in unserem Land. Allerdings kam dieser „Amoklauf von Erfurt“, wie er in vielen Zeitungen bezeichnet wurde, nach Meinung einiger Journalisten, welche Artikel in Printmedien mit einer hohen Publikumsauflage veröffentlichten, auch nicht so unerwartet, wie insbesondere einige ranghohe Politiker propagierten. Wurde doch schon seit Beginn der 90er Jahre das Thema „Gewalt in der Schule“ vermutlich auch als Folge der allgemeinen Gewaltdiskussion im Zusammenhang mit den ausländerfeindlichen Gewalttaten (z. B. Hoyerswerda, Mölln, Rostock) vermehrt von den Medien aufgegriffen , welche die öffentliche Meinung ja nachhaltig beeinflussen und dieses Thema in den Fokus dieser Öffentlichkeit rückten („Noch 1989 hat man wohl über »aggressive Schüler« und über »Disziplinschwierigkeiten«, nicht aber über »Gewalt an Schulen« gesprochen. Seit 1990 hingegen finden wir aber auch in Deutschland eine Flut von Veröffentlichungen zu diesem Thema.“ ). Im europäischen Ausland hingegen wurde mit dieser Diskussion bereits zehn Jahre früher begonnen. So berichtete Ende 1982 eine norwegische Zeitung, dass drei 10-14jährige Jugendliche aus Nordnorwegen sehr wahrscheinlich als Folge schwerer Gewalttätigkeit durch Gleichaltrige Selbstmord begangen hatten. Dies setzte daraufhin eine Kettenreaktion in Gang, die zu einer landesweiten Kampagne gegen das Gewaltproblem an norwegischen Schulen führte. Insbesondere nach dem Amoklauf von Erfurt verschärfte sich diese Diskussion jedoch auch in Deutschland; während einige gar „amerikanische Verhältnisse“ an deutschen Schulen ausmachten, sprachen andere von einem tragischen singulären Ereignis, aus dem nicht eine symptomatische Zeichnung des Gewaltbildes an deutschen Schulen erschlossen werden kann. Gegenstand dieser Diskussion waren auch die möglichen Ursachen für ein solches Verhalten, wobei Computerspielen und Gewalt verherrlichenden Filmen von vielen sehr schnell eine Hauptschuld zugeschrieben wurde.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsklärungen
2.1. Aggression
2.2. Angst
2.3. Gewalt
2.4. Prävention
3. Ursachen und Moderatoren für Aggression und Gewalt (Bedingungsfaktoren aggressiven Schülerverhaltens)
3.1. Frustrations-Aggressions-Hypothese
3.2. Die Lerntheorie
3.3. Sozialisationstheorien
3.4. Trieb- und instinkttheoretisches Erklärungsmodell aggressiven Verhaltens
3.5. Genetische Faktoren
3.6. Moderatoren
3.6.1. Schulstrukturelle Problemfelder
3.6.2. Gewaltdarstellung in den Medien
3.6.3. Familiäre Einflüsse
4. Erscheinungsformen und Dimensionen von Aggression und Gewalt
4.1. Typisierung der Jugendlichen hinsichtlich ihrer Gewaltbereitschaft
4.2. Der Gewaltbegriff aus subjektiver Sicht – kann man auch verbal Gewalt ausüben?
4.3. Gewalt gegen Schüler und Gewalt gegen Sachen
4.4. Gewalt gegen Lehrer
4.5. Schulartspezifische Unterschiede
4.6. Geschlechts- und altersspezifische Unterschiede
4.7. Weitere Unterschiede
5. Darstellung schulischer Gewalt in den Medien
6. Präventionsmöglichkeiten und Maßnahmen bezüglich Aggression und Gewalt
6.1. Maßnahmen auf der Schulebene
6.2. Maßnahmen auf der Klassenebene
6.3. Maßnahme auf der individuellen Ebene
7. Zusammenfassung und Ausblick
8. Literaturverzeichnis
9. Schriftliche Versicherung
Die Diplomarbeit wurde gemäß den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angefertigt. Eine Ausnahme hierbei bilden Zitate, die aus Quellen übernommen wurden, welche nach den vorhergehenden orthografischen Regeln abgefasst wurden.
Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird bei Personenbezeich-nungen i.d.R. die männliche Form verwandt. Es sind jedoch jeweils männliche und weibliche Personen gemeint.
1. Einleitung
Als der 19-jährige Robert Steinhäuser, vor nunmehr etwas mehr als drei Jahren, am Vormittag des 26. April 2002 an seiner ehemaligen Schule, dem Johannes-Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, 13 Lehrer, zwei Schüler, einen Polizisten und anschließend sich selbst erschoss, versetzte dies Deutschland in einen Schockzustand. War diese Tat doch die bis dato schlimmste anzunehmende Steigerung schulischer Gewalt in unserem Land. Allerdings kam dieser „Amoklauf von Erfurt“, wie er in vielen Zeitungen bezeichnet wurde, nach Meinung einiger Journalisten, welche Artikel in Printmedien mit einer hohen Publikumsauflage veröffentlichten, auch nicht so unerwartet, wie insbesondere einige ranghohe Politiker propagierten. Wurde doch schon seit Beginn der 90er Jahre das Thema „Gewalt in der Schule“ vermutlich auch als Folge der allgemeinen Gewaltdiskussion im Zusammenhang mit den ausländerfeindlichen Gewalttaten (z. B. Hoyerswerda, Mölln, Rostock) vermehrt von den Medien aufgegriffen[1], welche die öffentliche Meinung ja nachhaltig beeinflussen und dieses Thema in den Fokus dieser Öffentlichkeit rückten („Noch 1989 hat man wohl über »aggressive Schüler« und über »Disziplinschwierigkeiten«, nicht aber über »Gewalt an Schulen« gesprochen. Seit 1990 hingegen finden wir aber auch in Deutschland eine Flut von Veröffentlichungen zu diesem Thema.“[2]). Im europäischen Ausland hingegen wurde mit dieser Diskussion bereits zehn Jahre früher begonnen. So berichtete Ende 1982 eine norwegische Zeitung, dass drei 10-14jährige Jugendliche aus Nordnorwegen sehr wahrscheinlich als Folge schwerer Gewalttätigkeit durch Gleichaltrige Selbstmord begangen hatten. Dies setzte daraufhin eine Kettenreaktion in Gang, die zu einer landesweiten Kampagne gegen das Gewaltproblem an norwegischen Schulen führte.[3] Insbesondere nach dem Amoklauf von Erfurt verschärfte sich diese Diskussion jedoch auch in Deutschland; während einige gar „amerikanische Verhältnisse“ an deutschen Schulen ausmachten, sprachen andere von einem tragischen singulären Ereignis, aus dem nicht eine symptomatische Zeichnung des Gewaltbildes an deutschen Schulen erschlossen werden kann.[4] Gegenstand dieser Diskussion waren auch die möglichen Ursachen für ein solches Verhalten, wobei Computerspielen und Gewalt verherrlichenden Filmen von vielen sehr schnell eine Hauptschuld zugeschrieben wurde.
Möchte man sich jedoch mit dem Thema „Gewalt“, speziell „Gewalt in der Schule“ ausführlich befassen, so sind zunächst die verwendeten zentralen Begriffe näher zu spezifizieren. Was versteht man unter dem Begriff Gewalt eigentlich? Versteht man darunter nur physische Gewalt oder auch psychische Gewalt? Können Sachbeschädigungen und Vandalismus auch in diesem Sinne als Gewalt aufgefasst werden? Auch die Frage, was man unter Aggression und Angst versteht und in welchem Zusammenhang diese Begriffe mit Gewalt stehen, bedarf vorab einer Klärung. Hierauf soll im Gliederungspunkt 2. näher eingegangen werden.
Eine weitere Frage, die sich aufdrängt, ist aber auch die nach den Ursachen für gewalttätiges Verhalten. Ist ein solches Verhalten angeboren, oder wird es im Laufe der Erziehung angelernt? Entsteht es aufgrund der Sozialisation oder ist es ein Ausdruck von Frustration, welcher in Gewalt mündet? Diesen Fragen soll ausführlich im Gliederungspunkt 3. nachgegangen werden. Dabei soll auch erörtert werden, ob jede dieser Theorien gewalttätiges Verhalten alleine erklären kann, oder ob auch mehrere Hypothesen zusammen wirken und in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit einer späteren Delinquenz erhöhen können. Weiter soll hier auch auf mögliche Moderatoren eingegangen werden, welche die Stärke eines möglichen Zusammenhangs beeinflussen. In diesem Kontext sollen auch einige bedeutende schulstrukturelle Problemfelder näher angesprochen werden. Aber auch der, oben bereits kurz angerissenen, Darstellung der Gewalt in den Medien und dessen Einfluss auf das spätere Verhalten von Kindern und Jugendlichen soll ausgeleuchtet werden. Schließlich sollen in diesem Zusammenhang auch noch eventuelle familiäre Einflüsse dargestellt werden.
Nach der Definition und Abgrenzung der zentralen Begriffe, sowie einer Erörterung möglicher Ursachen und der Betrachtung verschiedener Moderatoren für Aggression und Gewalt sollen dann schließlich im Gliederungspunkt 4. dieser Arbeit die Erscheinungsformen und Dimensionen von Aggression und Gewalt behandelt werden. Dabei soll neben einer Typisierung der Jugendlichen hinsichtlich ihrer Gewaltbereitschaft aber nicht nur die Frage nach den Erscheinungsformen sondern auch nach der jeweiligen Häufigkeit beantwortet werden, mit der gewalttätiges Verhalten an deutschen Schulen zu Tage tritt. Dies soll auch durch eine Reihe von Zahlen aus Studien, welche sich mit diesem Thema beschäftigt haben, veranschaulicht werden. Dabei wird zunächst auf die Gewalt der Schüler untereinander (physische und psychische Gewalt) näher eingegangen um im Anschluss auch die Gewalt gegenüber Lehrern darzustellen. Neben der Art und Häufigkeit von Aggression und Gewalt stellt sich aber auch die Frage, ob diesbezüglich schulart-, aber auch geschlechtsspezifische Unterschiede existieren, was im Anschluss erforscht werden soll. Ausdrücklich nicht eingegangen werden soll jedoch auf die Bereiche Rechtsextremismus/Ausländerfeindlichkeit, sowie auf die besondere Gewaltform „Mobbing“ bzw. „Bullying“[5], da es sich hierbei um spezielle Formen bezüglich der Ursachen und Erscheinungsformen von Gewalt handelt, und zum anderen dies den quantitativen Rahmen der Arbeit um ein Vielfaches sprengen würde.
Einen weiteren wichtigen Aspekt stellt aber auch die sehr ausführliche Darstellung des Themas „Gewalt“ und speziell gewalttätiger Handlungen an Schulen in den Medien dar. Dies erscheint jedoch auch nicht allzu überraschend: Betrifft uns doch kaum ein Thema unmittelbarer, „wühlt Gefühle wie Angst, Abscheu, Ohnmacht, aber auch Wut und Machtphantasien so stark auf wie das Thema Gewalt.“[6] Doch hat die Gewalt an deutschen Schulen tatsächlich sowohl quantitativ, als auch qualitativ zugenommen oder hat lediglich die besondere Aufmerksamkeit, welche diesem Phänomen in den Medien und in der Öffentlichkeit geschenkt wird, dazu beigetragen, dass „sich unser Schreck auch durch unsere gesteigerte Sensibilität und Wahrnehmung erhöht haben könnte und somit größer als das tatsächliche Phänomen ist“?[7] Dieser Überlegung soll im Gliederungspunkt 5. näher nachgegangen werden.
Nach der Darstellung möglicher Ursachen, sowie den Erscheinungsformen und Dimensionen von Aggression und gewalttätigen Handlungen an deutschen Schulen drängt sich natürlich die Frage nach der optimalen Prävention und der richtigen und angemessenen Intervention auf. Wie sollten sich also Lehrer gegenüber gewaltbereiten Schülern verhalten und wie können sie bereits im Vorfeld, also bevor gewalttätige Handlungen überhaupt begangen wurden, tätig werden. Daher sollen im Gliederungspunkt 6. verschiedene, häufig diskutierte Lösungsmöglichkeiten diesbezüglich ausführlich aufgezeigt werden.
Schließen soll die Arbeit dann mit einer Zusammenfassung der zentralen Punkte, sowie einem Ausblick hinsichtlich der Entwicklung von Gewalt an deutschen Schulen.
2. Begriffsklärungen
Bevor der eigentliche Einstieg in die Materie erfolgt, sollen vorweg noch zentrale Begriffe, wie „Aggression“, „Angst“, „Gewalt“, und „Prävention“ eingegrenzt und definiert werden, da diese in der Alltagssprache oft unterschiedlich weit gefasst und insbesondere die beiden erstgenannten Begriffe oft synonym verwendet werden. Da diese Begriffe aber natürlich nicht nur im Zusammenhang mit schulischer Gewalt verwendet werden, kann dennoch ein gewisses Abstraktionsniveau nicht unterschritten werden.
2.1. Aggression
Das Wort Aggression leitet sich vom lateinischen Verb „aggredere“ ab, welches drei verschiedene Bedeutungen hat:
1. herangehen, sich begeben, sich an jemanden wenden, ihn angehen
- zu gewinnen suchen
- zu bestechen suchen
2. angreifen
3. unternehmen, beginnen, versuchen, an etwas (Werk) gehen.
Im lateinischen Ursprung beinhaltet dieser Begriff also zwei verschiedene Aspekte: Einerseits versteht man darunter das Zugehen auf jemanden, das Gewinnen-Wollen, was positive Eigenschaften, wie „selbstsicher“, „tatkräftig“ „bestimmt“ und willensstark“ impliziert. Andererseits versteht man darunter aber ebenso das unmittelbare Angreifen, was negative Verhaltensweisen wie „streitsüchtig“, „dominant“, „laut“ oder „rücksichtslos“ beinhaltet. In allen Bedeutungen ist aber die Zielgerichtetheit der Aktion, das Verhalten deutlich. Im Deutschen hingegen enthält die Bedeutung des Wortes Aggression keine Gerichtetheit mehr, hier steht das Destruktive, das Zerstörerische im Vordergrund.[8] Unter Aggression sollen daher alle Verhaltensweisen subsumiert werden, welche das Ziel haben Individuen oder Sachen aktiv und zielgerichtet zu schädigen, zu schwächen oder in Angst zu versetzen.[9] Zentrales Merkmal ist also stets die Schädigungsabsicht des Täters.[10] Wichtig erscheint hier, darauf hinzuweisen, dass sich die betreffende Person, also der Täter, mit bestimmten Verhaltensweisen auch gegen sich selbst wenden kann, was ebenfalls unter den Begriff der Aggression fällt. Dies reicht vom „sich auf die Lippen beißen“ zum Extremfall (wie auch bei Robert Steinhäuser nach seinem Amoklauf in Erfurt) Suizid.
Björkqvist, Lagerspetz und Kaukiainen unterschieden bei einer Gruppe von 15-jährigen Jungen und Mädchen vier verschiedene Erscheinungsformen aggressiven Verhaltens:
- „Direkte physische Aggression“ (andere schlagen, stoßen, treten, etc.)
- „Indirekte Aggression“ (über andere schlecht reden, bösartige Gerüchte verbreiten)
- „Direkte verbale Aggression“ (jemanden beschimpfen)
- „Rückzug“ (vorgeben, die andere Person nicht zu kennen oder schmollen).
Neue entwicklungspsychologische Forschungsbefunde belegen, dass es sich bei aggressivem Verhalten, egal in welcher Form, um das wohl am schwersten veränderbare Verhalten überhaupt handelt[11] (ca. die Hälfte der aggressiven Kinder behält dieses Verhalten über mehrere Jahre hinweg bei), welches sich von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter fortsetzen kann. Dabei weisen positive Beziehungen zwischen aggressivem Verhalten in der Kindheit und kriminellem Verhalten im späteren Jugend- und Erwachsenenalter darauf hin, dass Aggression in delinquentes Verhalten münden kann.[12]
Obwohl der Begriff der Aggression, wie oben erwähnt, im deutschen Sprachgebrauch negativ besetzt ist, ist aber dennoch eine gesunde Aggression notwendig, „damit der Mensch sich entwickeln kann, seine Umwelt explorieren und sich und sein Selbst verteidigen kann.“[13]
Sehr wichtig ist, in diesem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, dass die Motivation, aus der schließlich Aggression resultiert, sehr unterschiedlich sein kann. Offensichtlich wird dies bei einem Vergleich der folgenden Verhaltensweisen: Vergewaltigung, Stehlen von Lebensmitteln, Raub, Notwehr. So sind bei der Vergewaltigung Sex oder Dominanzstreben, beim Lebensmitteldiebstahl Hunger, beim Raub Besitzstreben und bei der Notwehr die Verminderung von Angst die (sehr wahrscheinlich) zugrunde liegenden Motivationen (auf, auch existierende, Aggressionen, welche auf pathologische Störungen zurückzuführen sind, kann und soll dabei im Folgenden bewusst nicht eingegangen werden, da dies zum einen den quantitativen Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, und zum anderen auch nur in einem Bruchteil der Fälle, in denen aggressives Verhalten von Schülern beobachtet wird, die zu Grunde liegende Ursache darstellt).[14]
2.2. Angst
Wer sich mit der Aggressivität als persönliches und gesellschaftliches Phänomen beschäftigen möchte, kommt jedoch nicht umhin, sich auch mit der dazugehörigen Angst auseinanderzusetzen, denn der Umgang mit Aggressionen (seien es die eigenen oder die von anderen) ängstigt. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Erwachsene sich nur selten trauen sich spontan zusammenzuschließen um bei Straftaten einzugreifen und dem Opfer zu helfen. Dieser Zustand wird oft mit der zunehmenden „Mentalität des Wegschauens“ umschrieben und sogleich wird für mehr Zivilcourage in unserer Gesellschaft plädiert. Ein solcher Zustand spiegelt aber auch die Angst vor der Aggressivität auf beiden Seiten wider. Einerseits die Angst der Kinder und Jugendlichen, welche versuchen, über eine aggressive Abwehr ihrer Angst Herr zu werden und andererseits die Angst der Gesellschaft, also der Erwachsenen und der Eltern, welche sich aufgrund der latent spürbaren Angst ebenfalls überfordert fühlen. Dies wird auch, insbesondere nach der Meldung schwerer Straftaten in den Medien, in der nahezu reflexartig geäußerten Forderung vieler Bürger an die Politiker nach härteren Gesetzen mit „schärferen“ Bestrafungen und besonderen Spezialeinheiten der Polizei deutlich: Diese sollen sich mit dem Gewaltproblem in der Öffentlichkeit auseinandersetzen und damit solche Konflikte von den Bürgern wegschaffen und fernhalten.[15]
Der Begriff selbst leitet sich vom lateinischen Wort „angustia“ ab und hat in seiner Ursprungsform die Bedeutung Enge, Kürze, Beschränktheit. In einigen Lehrbüchern wird die Angst von der Furcht abgegrenzt. Von Furcht wird demnach gesprochen, wenn eine Gefahrenquelle eindeutig identifiziert ist, wie etwa die Furcht vor dem schlagenden Vater. Von Angst hingegen wird gesprochen, wenn die Reizkonstellation mehrdeutig ist und die betreffende Person Schwierigkeiten hat, auf die subjektiv empfundene Bedrohung adäquat und zielgerichtet zu reagieren, da diese nicht lokalisiert werden kann. Im Folgenden sollen diese beiden Begriffe jedoch, wie in der Mehrzahl der Veröffentlichungen zu diesem Themenbereich, synonym verwendet werden.[16]
Aber wie wird nun konkret Angst ausgelöst? Fürntratt (1974) unterscheidet hierbei drei verschiedene Arten:
- direkte Angstauslösung durch das Auftreten eines unbedingten Angstreizes, wie etwa körperliche Schläge, Schmerzreize oder plötzlich auftretenden Lärm
- direkte Angstauslösung durch das Auftreten eines bedingten Angstreizes, wie beispielsweise Drohung mit Aggression oder Schmerz ankündigende Signale (das Geräusch des Bohrers beim Zahnarzt, etc.)
- indirekte Angstauslösung durch das Verschwinden (oder dem Ausbleiben) eines (subjektiven) Sicherheitsreizes, wie die Beendigung von körperlichem Kontakt oder der Verlust eines nahe stehenden Menschen durch Tod oder Trennung.[17]
Während die bedingten angstauslösenden Reize bei Erwachsenen i.d.R. eine weitaus größere Rolle spielen (Konkurrenz im Berufsleben, Prüfungsangst, etc) als die unbedingten, kommt den beiden Facetten der direkten Angstauslösung bei der Thematik „Gewalt in der Schule“ eine gleichbedeutende Rolle zu, während indirekte angstauslösende Reize in diesem Zusammenhang und daher im Folgenden vernachlässigt werden können.[18]
2.3. Gewalt
„Von dem Begriff der Aggression muß die Gewalt abgetrennt werden. Gewalt ist zwar ein Bestandteil von Aggression, kann sich aber auch völlig losgelöst davon innerseelisch und im Verhalten etablieren.“[19] Im deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff Gewalt nur schwer einzugrenzen und umfasst verschiedene Phänomene. Auch im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland wird der Gewaltbegriff nicht expressis verbis definiert, wenngleich er hier sinngemäß in enger begrifflicher Nähe zum Tatbestand der Nötigung (§ 240) steht.[20]
Unter Gewalt soll im Folgenden daher in Anlehnung an Stickelmann (1996) die versuchte oder tatsächliche Verletzung der psychischen oder physischen Integrität (Unversehrtheit) verstanden werden. Gewalt erscheint als gegen Personen oder gegen Sachen gerichtet oder als strukturelle Gewalt durch Institutionen. Dabei wird unterschieden zwischen
- physischer Gewalt, z. B. Fixierung, Schlagen unter Schülern und der Lehrer durch die Schüler
- psychischer und verbaler Gewalt, z. B. Beleidigung oder obszöne Gesten
- und struktureller Gewalt. Unter struktureller Gewalt versteht man im schulischen Kontext die Gewalt, welche von der Schule als Institution ausgeübt wird. Hierunter wird beispielsweise das Ess- und Trinkverbot während der Stunde oder die Tatsache, dass alle Schüler einer Klasse gleichzeitig dasselbe lernen sollen, verstanden.[21] Die strukturelle Gewalt soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nur insofern angesprochen werden, als dass danach gefragt wird, ob diese einen Moderator für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens gewalttätiger Handlungen durch Schüler darstellt (Gliederungspunkt 3.6.1.). Die von der Institution Schule ausgehende strukturelle Gewalt soll aber in diesem Kontext nicht im Sinne des Titels dieser Arbeit, „Gewalt in der Schule“, aufgefasst werden.
Während physische und psychische Gewalthandlungen als personale oder direkte Gewalt bezeichnet werden (da diese Formen der Gewalt durch einen unmittelbaren Akteur ausgeübt werden), spricht man bei der strukturellen Gewalt von indirekter Gewalt, da diese Form derselben nicht von einem unmittelbaren (personalem) Akteur ausgeübt wird.
In Abgrenzung zum Begriff der „Aggression“, bzw. „aggressivem Verhalten“ kann der Gewaltbegriff nicht so leicht auf konkrete Verhaltensweisen bezogen werden. Dennoch soll im Folgenden dem Begriff „Gewalt“ der Vorzug gegeben werden, da diese auch völlig losgelöst von Aggression auftreten kann (beispielsweise in Form der oben erörterten strukturellen Gewalt) und aufgrund dessen einige Aspekte von Gewalt a priori ausgeklammert blieben.
„Mit der Abgrenzung des Phänomens »Gewalt« auf den Raum der Schule darf dabei nicht unterstellt werden, daß immer auch die Anlässe und Ursachen von Gewalthandlungen im schulischen Bereich zu suchen sind.“[22] Diesem Aspekt soll daher im nächsten Hauptgliederungspunkt (4.) größere Beachtung geschenkt werden. Weiter soll hier auch betrachtet werden, was die Schüler selbst unter Gewalt verstehen und wie sie die verschiedenen Facetten von Gewalt kategorisieren. Dies ist insofern von Bedeutung, da sich der Gewaltbegriff der Schüler in manchen Bereichen nicht vollständig mit obiger Definition deckt.
2.4. Prävention
Der Begriff „Prävention“ leitet sich vom lateinischen Verb „praevenio“ ab und bedeutet übersetzt „zuvorkommen“. Hierunter versteht man also die Vorbeugung und Verhütung von gewalttätigen Handlungen. Durch entsprechende präventive Maßnahmen (welche im Gliederungspunkt 6. ausführlich dargestellt werden sollen) soll es also gar nicht erst zu Gewalt in der Schule kommen. Diese Maßnahmen können kollektiv (also im Klassenverband) erfolgen. Hiervon zu unterscheiden ist die „Intervention“. Ebenfalls aus dem lateinischen, vom Wort „intervenio“ (Dazwischenkommen, Dazwischentreten) abstammend, versteht man hierunter das unmittelbare (korrigierende) Eingreifen, wenn gewalttätige Handlungen begangen werden oder wurden. Solche, auch als Sekundärintervention bezeichneten Maßnahmen, müssen dabei individuell, also auf den jeweiligen Schüler und dessen soziales Umfeld bezogen, durchgeführt werden.
3. Ursachen für Aggression und Gewalt (Bedingungs-faktoren aggressiven Schülerverhaltens)
Nach einer Eingrenzung der, im Rahmen dieser Arbeit, wichtigsten Begriffe, soll nun im Folgenden der Frage nach den Ursachen von gewalttätigen Verhaltensweisen im schulischen Umfeld nachgegangen werden. Hierzu existieren eine Reihe verschiedenster Hypothesen und Theorien, welche aufgezeigt werden sollen. Eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufwirft, ist, ob sich diese Ansätze widersprechen und losgelöst voneinander, betrachtet werden müssen, oder ob sich einige dieser Bedingungsfaktoren gegenseitig ergänzen und gewalttätiges Verhalten besser prognostizieren können, als eine isolierte Betrachtung der einzelnen Hypothesen. Weiter soll auch eine Reihe möglicher Moderatoren für gewalttätiges Verhalten, wie etwa schulstrukturelle Problemfelder, die Darstellung von Gewalt in den Medien, sowie familiäre Einflüsse, betrachtet werden. Solche Moderatoren sind nicht ursächlich für gewalttätige Verhaltensweisen, doch können diese den Zusammenhang zwischen den Bedingungsfaktoren und der Wahrscheinlichkeit von auftretenden abnormen Verhaltensweisen verstärken.
So nannten im Rahmen einer Untersuchung in Hamburg die Schüler folgende Bedingungen und Ursachen von gewaltförmigem Verhalten von Schülern:
1. Gewalt in den Medien (der Stärkere zeigt keine Ethik und setzt sich immer durch)
2. Vernachlässigung im Elternhaus
3. Ursachen im Schulsystem selbst (Zunahme von Anonymität und Leistungsdruck, Abnahme der Autorität der Lehrer)
4. Unterschiedliche gesellschaftliche Werte und Normen (hierunter wurden auch Probleme von und mit ausländischen Mitbürgern gezählt)[23]
Doch zunächst zu den gängigsten wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien bezüglich der Ursachen von Gewalt:
3.1. Frustrations-Aggressions-Hypothese
Diese Hypothese wurde Ende der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts postuliert und geht grundsätzlich für viele Phänomene menschlichen Verhaltens davon aus, dass diese Verhaltensweisen erlernt sind.
Im Rahmen dieses Modells wird Gewalt als Ergebnis von Frustrationen, Ohnmachts- und Angstgefühlen und als Reaktion auf unbefriedigende Bedürfnislagen erklärt.[24] Unter Frustration versteht man dabei die Emotion, die dadurch entsteht, wenn man an der Durchführung einer beabsichtigten Handlung oder eines angestrebten Ziels gehindert wird. Diese Hypothese geht davon aus, dass jede Frustration Aggression erzeugt. Aggression dient, im Rahmen dieses Erklärungsversuchs, dazu, dem jeweiligen Individuum Kraft zu verleihen, um das ursprünglich angestrebte Handlungsziel doch noch zu erreichen. Es werden dabei vier Bereiche für Frustrationen unterschieden: Hindernisse, Misserfolge, schädigende Reize und Mangelzustände. Die hierdurch aufgebaute Aggression bedingt wiederum eine erhöhte Wahrscheinlichkeit im Hinblick auf gewalttätiges Verhalten, welches zusätzlich durch die fehlende Fähigkeit, Konflikte verbal zu lösen, begünstigt wird. Im Rahmen der Misserfolgs-Frustration können im schulischen Kontext beispielsweise schlechte Noten dazu führen, dass sich im betreffenden Schüler Aggressionen anstauen, welche dann durch gewalttätiges Verhalten zum Ausbruch und –druck kommen können. Hierdurch entstandene Aggressionen können auch auf ein (schwächeres) Ersatzziel verschoben werden, wie beispielsweise auf „Sündenböcke“ oder Randgruppen, welche nicht den eigentlichen Ursprung der Frustration darstellen. Während gewalttätiges Verhalten gegenüber dem Lehrer, der die schlechten Noten vergeben hat, eine entsprechende Bestrafung nach sich ziehen würde, reagieren schlechte Schüler gewalttätig gegenüber den/dem Klassenbesten, da dieser dann nach dieser Hypothese als „Ersatz-Sündenbock“ fungiert, auf welchen sich die Aggression überträgt. Das Übertragen von Aggressionen muss aber nicht zwangsläufig immer nur auf andere Menschen stattfinden, vielmehr kann sich dies auch auf Sachen beziehen und in vandalischen Verhaltensweisen zum Ausdruck kommen. Im Rahmen dieser Frustrations-Aggressions-Hypothese spielen auch frustrierende Vorerfahrungen sowie auch die Dauer und die Intensität der jeweiligen Frustration eine bedeutende Rolle.[25]
Ein Versuch, welcher bereits mehrmals zur Untermauerung dieser Theorie durchgeführt wurde, soll an dieser Stelle kurz geschildert werden. Man brachte eine Gruppe Kindergartenkinder in einen Raum, in dem sich sehr viele und attraktive Spiele befanden und ließ sie eine bestimmte Zeit spielen. Die Kinder waren dabei sehr beschäftigt und in ihr Spiel vertieft. Nach einiger Zeit wurde von den Forschern und Aufsichtspersonen das Spiel der Kinder unterbrochen und ihnen das attraktive Spielzeug weggenommen. Die Spielsachen wurden dabei jedoch hinter einem Gitter so abgelegt, dass sie nach wie vor von den Kindern gesehen werden konnten. Bei der sich anschließenden Beobachtung der Kinder zeigten einige von ihnen schon nach kurzer Zeit aggressive Verhaltensmuster, indem sie zu schimpfen begannen und/oder gegen das Gitter, hinter welchem sich das Spielzeug befand, traten. Es wurde im Rahmen dieses Experiments also festgestellt, dass Aggression eine mögliche Auswirkung von Frustration sein kann.
Diese Hypothese konnte allerdings in einer Vielzahl weiterer empirischer Versuche nicht für allgemeingültig erklärt werden. So war eine vorausgehende Frustration nicht immer eine notwendige oder gar hinreichende Bedingung, um eine Aggression auszulösen. Auch Depression kann beispielsweise als Folge von Frustration statt Aggression die Folge sein.
Daher erfuhr dieses Konstrukt in den darauf folgenden Jahren einige Modifikationen. Die wichtigste, aufgrund dieser Kritik, veränderte Annahme war hierbei, dass jede Frustration zu einer Neigung von Aggression führt. Diese Neigung kann dann diese und gewalttätiges Verhalten hervorrufen, muss dies aber nicht. Unter Umständen kann eine solch hervorgerufene Neigung nämlich zu schwach sein, um eine Aggression zu bedingen. Umgekehrt kann diese Neigung aber auch durch ungünstige Faktoren im Umfeld des betreffenden Schülers (an dieser Stelle soll auf den Gliederungspunkt 3.6. dieser Arbeit verwiesen werden) verstärkt werden.[26]
Eine weitere ernstzunehmende Kritik an dieser Hypothese stellt aber auch der Einwurf dar, dass aggressives Verhalten auch erlernt werden kann und keinerlei vorhergehender Frustration bedürfe.
3.2. Die Lerntheorie
Aus diesem Grund wird neben der Aggressions-Frustrations-Theorie auch die Lerntheorie zur Erklärung von Aggression und gewalttätigen Verhaltensweisen herangezogen. Es existieren hierzu eine Reihe von Ansätzen, wobei deren wichtigster die sozial-kognitive Theorie, welche auf Albert Bandura (geb. 1925) zurückgeht, darstellt. Hierin wird Gewalt „als Ergebnis eines erlernten Verhaltensmodells, das sich entweder als erfolgreich bewährt hat oder zu dem (noch) keine als tragfähig erwiesene Alternative aufgebaut werden konnte“[27] erklärt. Im Rahmen des Modell-Lernens wird also davon ausgegangen, dass aggressives Verhalten durch Lernen erworben und aufrechterhalten wird. Die Lerntheorie geht dabei von zwei entscheidenden Lernprozessen aus: dem Verstärkungs- und dem Modelllernen. Dabei wird unter Lernen allgemein die relativ überdauernde Änderung der Verhaltensmöglichkeiten eines Individuums aufgrund von Informationen verstanden. Gelernt wird dabei an den Modellen der Umwelt (also an Eltern, Geschwistern, Lehrern, Gleichaltrigen, Vorbildern, etc.). Ob, und wenn ja, inwieweit aggressives Verhalten auch durch das Fernsehen, Videos/DVDs und andere Medien gelernt werden kann, soll im Gliederungspunkt 3.6.2. eruiert werden. Diese Modelle der Umwelt können dabei aggressives Verhalten auf drei verschiedene Arten verstärken:
- Sie können das gezeigte Verhalten des Kindes positiv verstärken. Das Kind erreicht hierdurch ein bestimmtes angestrebtes Ziel. So erfährt es beispielsweise durch die Anerkennung aggressiver Verhaltensweisen durch Gleichaltrige („Toll, dem hast du es aber gegeben“, etc.) eine immaterielle Belohnung und damit eine positive (soziale) Verstärkung.
- Bei der negativen Verstärkung gelingt es dem Kind durch sein aggressives und gewalttätiges Verhalten unangenehme oder bedrohliche Ereignisse zu meiden oder zu beseitigen (so traut sich z. B. niemand mehr, das Kind anzugreifen), wodurch es wiederum eine Art von Belohnung erfährt. Aus diesem Grund wird diese Form der Verstärkung in der Literatur auch oft als Vermeidungslernen bezeichnet. Anzumerken sei in diesem Zusammenhang noch, dass sowohl die positive, als auch die negative Verstärkung ihre beste Wirkung erzielen, wenn sie dem Verhalten unmittelbar folgen.[28]
- Aber auch durch Duldung kann aggressives Verhalten verstärkt werden (Duldung darf dabei allerdings nicht mit Ignoranz verwechselt werden). Wird dem Verhalten der Kinder (insbesondere durch Eltern, Lehrer oder sonstige Erziehungskräfte) tatenlos zugesehen, so kann dies von den Kindern als stillschweigende Zustimmung aufgefasst werden, wodurch sich die Auftretenswahrscheinlichkeit aggressiver Verhaltensmuster erhöht und diese immer wieder gezeigt werden.
Anstelle der unmittelbaren Belohnung, welche das Kind durch Ausübung bestimmter Verhaltensmuster erfährt, reicht aber ebenso die stellvertretende Erfahrung (und Verstärkung) durch die Beobachtung von Modellen (z. B. der Eltern, Freunde, etc.) aus.[29] Erlebt z. B. ein Kind, dass eines seiner Geschwister aggressives Verhalten zeigt, wenn es von der Mutter angewiesen wird sein Zimmer aufzuräumen und daraufhin die Mutter nachgibt, so hat es stellvertretend die Erfahrung gemacht, dass ein solches Verhalten dazu führt, dieser als unangenehm empfundenen Aufgabe zu „entkommen“. Ähnlich verhält es sich mit einem Kind, das ständig erlebt, dass Widerworte bzw. eine abweichende Meinung mit Gewalt gebrochen werden. Es verinnerlicht dieses Prinzip sehr schnell und wird bald in den Bereichen, in denen es ihm möglich erscheint (also beispielsweise in der Schule), diese Strategie ausprobieren.[30]
Eindrucksvoll konnte Albert Bandura mit einem Forscherteam die Theorie des Modelllernens vor 40 Jahren in einer Untersuchung, wie im obigen Beispiel, mit Kindergartenkindern, bestätigen, welche im Folgenden aufgrund der Bedeutsamkeit kurz dargestellt werden soll. Im Rahmen dieses Versuchs wurden 96 Kindergartenkinder im Alter von 3-5 Jahren in vier verschiedene Gruppen eingeteilt, die zehn Minuten lang unterschiedliche Erfahrungen machten:
- Gruppe A: Beobachtung eines aktiv-aggressiven Erwachsenen
- Gruppe B: Beobachtung des gleichen aktiv-aggressiven Erwachsenen in einem Film
- Gruppe C: Beobachtung einer als Katze kostümierten Figur aus einem Zeichentrickfilm mit typischen Bewegungen und gleichem aggressivem Verhalten
- Gruppe D: Kontrollgruppe ohne Wahrnehmung eines aggressiven Modells.
„Das aggressive Verhalten des Modells in der Gruppe A bis C bestand aus für Kinder neuartigen Formen von Feindseligkeit gegenüber einer großen Spielpuppe, z. B. sich auf die Puppe setzen und sie mit einem Stock verprügeln, sie in die Luft werfen und mit dem Fuß durchs Zimmer stoßen, begleitet von entsprechend aggressiven Ausdrücken wie »Hau sie nieder!«.[31] Daraufhin wurden die Kinder aller Gruppen in einen Raum gebracht, in dem sich nur wenig attraktives Spielzeug befand – hierunter auch die Spielpuppe, gegen die sich die Aggressionen der Modelle gerichtet hatten. Das Verhalten der Kinder wurde nun 20 Minuten beobachtet. Dabei zeigten die Kinder der Gruppen A, B, und C nahezu doppelt soviel aggressive Akte (und zwar häufig genau die gleichen wie die des Modells), wie die Kinder, welche der Gruppe D (Kontrollgruppe) zugeteilt waren.[32] Die Kinder der Gruppen A-C hatten also die aggressiven Verhaltenweisen durch Beobachtung gelernt.
Erwähnung finden soll an dieser Stelle noch, dass es sich beim Lernen am Modell im Gegensatz zum Erklärungsversuch der Frustrations-Aggressions-Hypothese um einen kognitiven Lernprozess handelt, da sich das Individuum neue Verhaltensweisen (bewusst oder unbewusst) aneignet, oder bereits bestehende Verhaltensweisen entsprechend modifiziert.
Die Lerntheorie steht jedoch nicht im Widerspruch zu der oben erörterten Frustrations-Aggressions-Hypothese. So kann ein Schüler beispielsweise aggressive Verhaltensweisen durch die Beobachtung entsprechender Modelle lernen und sich aneignen (beispielsweise Schlägereien gleichaltriger Schüler auf dem Pausenhof) und diese dann als Folge einer vorausgegangenen Frustration (wie etwa schlechter Zensuren) zeigen, indem er die hierdurch bedingte angestaute Aggression an einem Sündenbock, wie etwa dem Klassenbesten oder einem körperlich schwächeren Klassenkameraden „entlädt“.
3.3. Sozialisationstheorien
Sozialisationstheorien erklären gewalttätiges Verhalten „als das Zusammenwirken von Sozialisationsfaktoren, die allesamt eine soziale Entwurzelung und damit eine Orientierungslosigkeit für den einzelnen zur Folge haben.“[33] Gewalttätiges Verhalten ist demnach die Folge einer fehlerhaften Erziehung in den ersten Kindheitsjahren. Im Gegensatz zur Frustrations-Aggressions-Hypothese aber im Einklang mit der Lerntheorie sind bei den Sozialisationstheorien die Ursachen für gewalttätiges Verhalten daher vor allem im Elternhaus, sowie im sozialen Umfeld der betreffenden Schüler zu suchen. Solche Sozialisationsdefizite treten vor allem dann auf, wenn in der Kindheit eine dauerhafte Bezugsperson fehlt und/oder wenn in dieser Zeit der Entwicklung kein Urvertrauen hergestellt worden ist. Aber auch falsche Erziehungsmethoden, Hartherzigkeit oder eine überzogene Verwöhnung (wenn also dem Kind zu enge oder keine Grenzen aufgezeigt wurden) können zu einer misslungenen Sozialisation führen.[34] Olweus (2002) konstatiert daher zu Recht, „daß zuwenig Liebe und Fürsorge und zuviel »Freiheit« in der Kindheit Vorbedingungen dafür sind, daß sich ein aggressives Reaktionsmuster stark ausprägen kann.“[35] Hat beispielsweise ein Kind nie gelernt, dass man Konflikte auch verbal anstatt durch Gewalt lösen kann, so kann nicht erwartet werden, dass es in der Schule keine Gewalt anwendet, wenn sich ein Konflikt ergibt. Weiter resultiert durch fehlende Sozialisationsprozesse eine soziale Desorientierung bei Kindern und Jugendlichen. Dies erfährt durch unsere pluralistische und fortschrittsorientierte Mediengesellschaft noch an Verstärkung. So geben für einige Schüler die Zeit- und Inhaltsraster von Fernsehen und Videofilmen das dominierende und nicht selten einzige Orientierungsmuster vor. Vor diesem Hintergrund muss daher gewalttätiges Verhalten von Kindern und Jugendlichen als soziales Anschlussverhalten verstanden werden. Defizite und Verletzungen auch in der emotionalen Entwicklung können in einem solchen Verhalten ihren Niederschlag finden.[36]
Die Tatsache, dass nach den Sozialisationstheorien die Ursachen für gewalttätiges Verhalten ausschließlich im Elternhaus der betreffenden Schüler zu suchen sind, darf jedoch keinesfalls so verstanden werden, dass das „Kind ja nun schon in den Brunnen gefallen sei“ und die Institution Schule daher nicht mehr korrigierend eingreifen könne. Auf eine solche Vermittlung moral-kognitiver Urteilskompetenzen soll daher im Rahmen der Fragestellung nach Möglichkeiten zur Prävention (Gliederungspunkt 6.) näher eingegangen werden.
3.4. Trieb- und instinkttheoretisches Erklärungsmodell aggressiven Verhaltens
Das trieb- und instinkttheoretische Erklärungsmodell aggressiven Verhaltens geht davon aus, dass dieses sowohl angeboren, als auch artspezifisch ist. Der Hauptvertreter dieser Theorie war der Tierforscher und Ethologe Konrad Lorenz (1903-1989). Ausgehend von einer Vielzahl von Tierbeobachtungen vertrat er die Ansicht, dass Aggression auch beim Menschen hauptsächlich als selbst- und arterhaltender Instinkt einzuschätzen ist. Aggressionen, welche innerhalb der Gesellschaft auftreten, dienten der Sozialordnung, also der Aufstellung oder Veränderung einer bestehenden Machthierarchie, so Lorenz. Er argumentierte weiter, dass aber im Gegensatz zu den meisten Tierarten beim Menschen die aggressionshemmende Befriedigungsstrategie verloren gegangen sei, da Menschen eher bereit sind, einen Artgenossen auch tödlich zu verletzen.[37] Auch die Tatsache, dass oft auf einen am Boden liegenden noch weiter eingetreten wird, dürfte diese These unterstützen. Nach Lorenz steht für den Bereich der Aggressionen jedem Menschen ein angeborenes Energiepotenzial zu, welches stets dann neu gebildet wird, wenn es verbraucht ist. Für das einzelne Individuum existieren nun in unseren heutigen Gesellschaftssystemen immer weniger Möglichkeiten, dieses angeborene Aggressionspotenzial zu kanalisieren – gleichzeitig nähmen aber aggressionsauslösende Reize immer mehr zu. Dies kann dann bei einigen Menschen, welchen es nicht gelingt, das hierdurch in ihnen aufgestaute Aggressionspotenzial rechtzeitig bzw. regelmäßig abzubauen, in plötzlichen und unverhältnismäßigen Entladungen resultieren (z.B. in einem Amoklauf). „Besonders in den Gesellschaftskreisen, die sozial benachteiligt sind, ist [dabei] die Möglichkeit zum Abbau der aufgestauten Aggressionen geringer […].“[38]
Für das trieb- und instinkttheoretische Erklärungsmodell aggressiven Verhaltens existieren allerdings keine überzeugenden Beweise. Es kann wahrscheinlich nicht von einer primären angeborenen Ausstattung des Menschen mit einem bestimmten Aggressionspotenzial ausgegangen werden. Es ist zwar, beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht vollkommen auszuschließen, dass Aggression teilweise auf einen inneren Trieb zurückzuführen ist, allerdings lässt es sich jedoch auch nicht allgemein postulieren, dass Aggressionen immer auf inneren Trieben beruhen.[39]
3.5. Genetische Faktoren
Seit etwa zehn Jahren wird verstärkt über die Rolle genetischer Faktoren, im Sinne von Chromosomenabweichungen, für die Entstehung von Aggressionen diskutiert, da oft eine familiäre Häufung aggressiver Verhaltensweisen beobachtet wurde. So haben Eltern von Kindern mit einer Störung des Sozialverhaltens überzufällig häufig eine ähnliche Entwicklung in ihrer Vergangenheit aufzuweisen.[40]
Die Theorie eines „geborenen Verbrechers“, respektive Gewalttäters, ist jedoch keineswegs neu. Sie geht auf den italienischen Arzt Cesare Lombroso (1835-1909) zurück, der die, von Johann Mendel in dieser Zeit entdeckten Vererbungsgesetze, zugrunde legte. Lombroso war der Ansicht den typischen Verbrecher an unveränderlichen Äußerlichkeiten, wie etwa an der Größe der Ohren, der Länge der Nase oder dem Abstand der Augenbrauen, von Geburt an erkennen zu können.[41]
Nach dem jetzigen Stand der Forschung scheint jedoch der Einfluss genetischer Faktoren wesentlich geringer zu sein als angenommen. Befunde aus einer Studie von 1992 „deuten auf einen differentiellen Einfluß genetischer Faktoren in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status hin.“[42] Je höher die soziale Schicht war, welcher die Jugendlichen angehörten, umso mehr bestimmten genetische Einflüsse ihr aggressives Verhalten. Im Gegensatz hierzu prägten bei Jugendlichen benachteiligter Schichten insbesondere negative Umwelteinflüsse deren Sozialverhalten.
[...]
[1] vgl. Busch/Todt, 2001, S. 226
[2] Tillmann, 1995, S. 180
[3] vgl. Olweus, 2002, S. 15f
[4] vgl. Bundesverband der Unfallkassen (Hrsg.), 2005, S. 4
[5] Unter Mobbing versteht man kontinuierlich geplante Aktionen mit dem Ziel der sozialen Ausgrenzung zur eigenen Vorteilnahme zwischen Einzelpersonen und/oder Gruppen. Der Begriff Mobbing wird verwendet, wenn eine Person am Arbeitsplatz bzw. in der Schule Zielscheibe feindseliger und systematischer Attacken, häufig über einen längeren Zeitraum hinweg, ist. (Quelle: http://www.schule-bw.de/unterricht/paedagogik/gewaltpraevention/kbuero/problembereiche.html vom 03.05.2005)
[6] Hurrelmann, 1996, S. 8
[7] Schulte-Markwort, 1994, S. 11
[8] vgl. Schulte-Markwort, 1994, S 16
[9] vgl. Fürntratt, 1974, S. 283
[10] vgl. Petermann/Warschburger, 1999, S. 127
[11] vgl. Sobczyk, kein Jahr, S. 2
[12] vgl. Petermann/Warschburger, 1999, S. 127ff
13 Schulte-Markwort, 1994, S. 82
[14] vgl. Edelmann, 2000, S. 85
15 vgl. Schulte-Markwort, 1994, S. 146
[16] vgl. Edelmann, 2000, S. 43
[17] vgl. Fürntratt, 1974, S. 47f
[18] vgl. Edelmann, 2000, S. 44
[19] vgl. Schulte-Markwort, 1994, S 16
[20] vgl. Rixius, 1996, S. 159
[21] vgl. Stickelmann, 1996, S. 7ff
[22] Hurrelmann, 1996, S. 13
[23] Horn, 1997, S. 27
24 Schirp, 1996, S. 29
[25] vgl. Schulte-Markwort, 1994, S. 79
[26] vgl. Zimbardo und Gerrig, 1999, S. 337
27 Schirp, 1996, S. 30
[28] vgl. Edelmann, 2000, S. 77
[29] vgl. Petermann/Warschburger, 1999, S. 137f
[30] vgl. Schulte-Markwort, 1994, S. 109
[31] Edelmann, 2000, S. 189
[32] vgl. Tausch R./Tausch A.M., 1973, S. 52
[33] Hurrelmann, 1996, S. 30
[34] vgl. Ostendorf, kein Jahr
[35] Olweus, 2002, S. 49
[36] vgl. Hurrelmann, 1996, S. 31f
37 vgl. Zimbardo und Gerrig, 1999, S. 335
[38] Schulte-Markwort, 1994, S. 82
[39] vgl. Schulte-Markwort, 1994, S. 81f
[40] vgl. Schulte-Markwort, 1994, S 137
[41] vgl. Ostendorf, kein Jahr
[42] Schulte-Markwort, 1994, S. 137
- Quote paper
- Andreas Spagert (Author), 2005, Gewalt in der Schule - Ursachen, Erscheinungsformen und Präventionsmöglichkeiten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42889
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