In literaturwissenschaftlichen Interpretationen ist Anna Seghers’ schriftstellerische Tätigkeit innerhalb der DDR bisher oft vor allem als Bekenntnis zum Sozialismus gewertet worden, welches vor allem ihre jeweiligen Figuren vermittelten. Eine solche Interpretation vernachlässigt Erzählungen, die vermehrt romantische Elemente aufweisen.
Ohnehin sollte man sich vor dem eingeschränkten Blickwinkel einer Suche nach sozialistischer „political correctness“ hüten, weil er der ästhetischen Dimension im Werk der Autorin nicht gerecht würde, wie er sich von den literarischen Anfängen über die Mitgliedschaft im BPRS bis hin zu ihrem Tode entwickelt hat.
Das Spätwerk der Seghers ist meiner Ansicht nach mit den politisch-ästhetischen Direktiven ihrer Anfänge nicht vergleichbar, bei denen sie insbesondere sowjetische Kulturpolitik in ihre Werke einzubinden versuchte, aber auch nicht mit einzelnen Romanen wie „Die Ermittlung“ oder „Das Vertrauen“, die auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in der DDR entstanden und in der westdeutschen Literaturkritik zumeist negativ besprochen worden sind..
In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die Erzählung „Das wirkliche Blau“ in den Kontext politischer wie ästhetischer Vorstellungen einer „späten“ Anna Seghers zu stellen. Ich gehe dabei von der These aus, daß sich ihre Grundgedanken zum Ästhetischen - wie in ihrer expressionistischen Phase! - nicht in der Darstellung politischer Gesamtverhältnisse erschöpfen, sondern individuelles Erleben eben jener Verhältnisse beleuchten. -
Der Forschungsstand um die Erzählung „Das wirkliche Blau“ ist weit gefächert. Andreas Schrade bewertet die Erzählung als eine Beschreibung der Identitätsgewinnung , nach welcher der Protagonist Benito seinen Erfahrungshorizont nicht vergrößere, aber vertiefe. Der Interpret beobachtet, daß sich im Laufe der Geschichte Benitos Identität, die aus der ökonomischen und künstlerischen Bedeutung des Blaus besteht, festigte. Sonja Hilzinger liest andererseits die mexikanische Erzählung als einen Erwerb von Klassenbewußtsein - dargestellt mit romantischen Elementen, deren Formgebung eine Opposition zur DDR Literaturdirektive darstelle.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Die Figurenkonzeption nach Manfred Pfister
- III. Anna Seghers politische Ästhetik des Realismus
- III.a) Die kommunistische Literaturkritik als Basis des ästhetischen Selbstverständnis der jungen Anna Seghers
- III.b) Seghers ästhetisches Selbstverständnis in der Weimarer Republik
- III.c) Anna Seghers ästhetisches Verständnis in der DDR der 60er/70er Jahre
- IV. Benito - die Entwicklung der sozialistischen Gesinnung
- V. Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Anna Seghers' Erzählung „Das wirkliche Blau“ im Kontext ihrer späten politisch-ästhetischen Vorstellungen. Sie hinterfragt die gängige Interpretation von Seghers' Werk als bloßes Bekenntnis zum Sozialismus und analysiert, inwiefern die Erzählung individuelles Erleben politischer Verhältnisse beleuchtet. Die Arbeit nutzt die Figurenkonzeption nach Manfred Pfister, um die Entwicklung der Hauptfigur Benito zu untersuchen.
- Anna Seghers' politische Ästhetik im Spätwerk
- Die Entwicklung der Figur Benito und sein Klassenbewusstsein
- Die Rolle romantischer Elemente in Seghers' Erzählung
- Die Anwendung der Figurenkonzeption nach Manfred Pfister
- Der Vergleich mit der Literaturkritik und den politischen Verhältnissen der Zeit
Zusammenfassung der Kapitel
I. Einleitung: Die Einleitung stellt die Forschungsfrage nach der Interpretation von Anna Seghers' Erzählung „Das wirkliche Blau“ im Kontext ihrer späten politischen und ästhetischen Ansichten. Sie kritisiert reduktionistische Interpretationen, die Seghers' Werk lediglich als sozialistisches Bekenntnis betrachten, und betont die Bedeutung der ästhetischen Dimension. Die Einleitung skizziert die These, dass Seghers' Fokus nicht nur auf der Darstellung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse liegt, sondern auch auf dem individuellen Erleben dieser Verhältnisse. Sie beleuchtet den bestehenden Forschungsstand mit gegensätzlichen Interpretationen der Erzählung, die entweder eine Beschreibung der Identitätsfindung oder den Erwerb von Klassenbewusstsein betonen. Die Autorin argumentiert jedoch, dass die Figur Benito keine Entwicklung hin zu einem historisch-materialistischen Bewusstsein durchläuft, eine These, die im weiteren Verlauf der Arbeit mittels der Figurenkonzeption nach Manfred Pfister untersucht wird.
II. Die Figurenkonzeption nach Manfred Pfister: Dieses Kapitel erläutert das theoretische Fundament der Analyse: die Figurenkonzeption nach Manfred Pfister. Pfister betont die gegenseitige Abhängigkeit von Handlung und Figur, wobei die Figur sich aus dem Kontext der Handlung definiert. Im Gegensatz zum Drama, wird in Erzählungen das Bewusstsein der Figur vom Erzähler dargestellt, demzufolge kommt dem Erzähler eine zentrale Rolle bei der Charakterisierung zu. Pfister beschreibt Kriterien zur Figurencharakterisierung, unter anderem die Abhängigkeit zu anderen Figuren, die Entwicklung von Eigenschaften im Handlungsverlauf, und die Methode der Merkmalsoppositionen. Er bezieht sich auf Beckermanns Dimensionen der Figurenkonzeption (Tiefe, Weite, Länge), die zwischen statischen und dynamischen Figuren unterscheidet. Die Arbeit verwendet diese Konzepte, um Benitos Entwicklung, oder deren Fehlen, zu analysieren und zu untersuchen, ob er als mehrdimensionale Figur konzipiert ist, die gesellschaftspolitische Erfahrungen verarbeitet und zu neuen Erkenntnissen gelangt.
Schlüsselwörter
Anna Seghers, Das wirkliche Blau, politische Ästhetik, Figurenkonzeption, Manfred Pfister, Benito, Sozialismus, Romantische Elemente, Klassenbewusstsein, DDR-Literatur, Historisch-materialistisches Bewusstsein, Identitätsfindung.
Häufig gestellte Fragen zu: Anna Seghers' "Das wirkliche Blau"
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit analysiert Anna Seghers' Erzählung "Das wirkliche Blau" im Kontext ihrer späten politisch-ästhetischen Vorstellungen. Sie hinterfragt gängige Interpretationen, die Seghers' Werk lediglich als sozialistisches Bekenntnis betrachten, und untersucht, wie die Erzählung individuelles Erleben politischer Verhältnisse beleuchtet. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Entwicklung der Hauptfigur Benito.
Welche Methode wird angewendet?
Die Analyse basiert auf der Figurenkonzeption nach Manfred Pfister. Diese Konzeption betont die gegenseitige Abhängigkeit von Handlung und Figur und die zentrale Rolle des Erzählers bei der Charakterisierung in Erzählungen. Es werden Kriterien wie die Abhängigkeit zu anderen Figuren, die Entwicklung von Eigenschaften und die Methode der Merkmalsoppositionen angewendet, um Benitos Entwicklung zu untersuchen.
Welche Themen werden behandelt?
Die Arbeit behandelt Anna Seghers' politische Ästhetik im Spätwerk, die Entwicklung der Figur Benito und seines Klassenbewusstseins, die Rolle romantischer Elemente in der Erzählung, die Anwendung der Figurenkonzeption nach Manfred Pfister und einen Vergleich mit der Literaturkritik und den politischen Verhältnissen der Zeit.
Wie ist die Arbeit aufgebaut?
Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel: Eine Einleitung, ein Kapitel zur Figurenkonzeption nach Manfred Pfister, ein Kapitel zu Anna Seghers' politischer Ästhetik, ein Kapitel zur Entwicklung der Figur Benito und ein Fazit. Die Einleitung stellt die Forschungsfrage und den Forschungsstand dar. Die Kapitel erläutern die theoretischen Grundlagen und analysieren die Erzählung. Das Fazit fasst die Ergebnisse zusammen.
Welche These wird vertreten?
Die Arbeit argumentiert, dass Seghers' Fokus in "Das wirkliche Blau" nicht nur auf der Darstellung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse liegt, sondern auch auf dem individuellen Erleben dieser Verhältnisse. Die Autorin widerlegt die These, dass die Figur Benito eine Entwicklung hin zu einem historisch-materialistischen Bewusstsein durchläuft.
Welche Schlüsselwörter sind relevant?
Die wichtigsten Schlüsselwörter sind: Anna Seghers, Das wirkliche Blau, politische Ästhetik, Figurenkonzeption, Manfred Pfister, Benito, Sozialismus, Romantische Elemente, Klassenbewusstsein, DDR-Literatur, Historisch-materialistisches Bewusstsein, Identitätsfindung.
Welche Kapitelzusammenfassungen werden angeboten?
Die bereitgestellten Kapitelzusammenfassungen geben einen Überblick über die Inhalte der einzelnen Kapitel. Die Einleitung präsentiert die Forschungsfrage und den Forschungsstand. Kapitel II erklärt die verwendete Figurenkonzeption. Kapitel III analysiert Anna Seghers' politische Ästhetik. Kapitel IV untersucht die Entwicklung von Benito. Die Zusammenfassungen bieten einen detaillierten Einblick in den Aufbau und die Argumentation der Arbeit.
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- Astrid Henning (Author), 2002, Das Private ist Politisch. Anna Seghers politische Konzeption in 'das wirkliche Blau", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42847