Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen. In diesem Fall ist es zwar keine Spinne, sondern eine Art Käfer, aber allein die Vorstellung am Morgen aufzuwachen und im Bett ein „ungeheure[s] Ungeziefer“ vorzufinden, entspricht sehr wohl der „Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt ist“ und damit dem vom Menninghaus erklärten „Muster des Ekels“, das eine wie auch immer geartete Form der Abwehr auslöst.
Der „braune[...] Fleck auf der geblümten Tapete“ [1]
- Im Spannungsfeld zwischen Ekel und Mitleid
Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen. In diesem Fall ist es zwar keine Spinne, sondern eine Art Käfer, aber allein die Vorstellung am Morgen aufzuwachen und im Bett ein „ungeheure[s] Ungeziefer“[2] vorzufinden, entspricht sehr wohl der „Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt ist“[3] und damit dem vom Menninghaus erklärten „Muster des Ekels“[4], das eine wie auch immer geartete Form der Abwehr auslöst.
Doch die literarische Figur Gregor Samsa, die in Kafkas „Die Verwandlung“ zum „Mistkäfer“[5] mutiert, erfährt vom Leser weniger eine Reaktion des Ekels als vielmehr des Mitleids. Und das, obwohl Kafka mit negativ konnotierter Wortwahl wie „Ungeziefer“[6], „häßliche Flecken“[7], „kriechen“[8] und „Schreckgestalt“[9] arbeitet, die durch das wiederholte Präfix UN- semantisch verstärkt wird. Dieser sprachlich „unruhige Traum[ ]“[10] von „panzerartig harten“ „Versteifungen“ dringt in die „vier wohlbekannten Wände[ ]“ und müsste einen „Kälteschauer“[11] verursachen. Aber nur die anderen literarischen Figuren der Geschichte begegnen der „gegenwärtigen traurigen und ekelhaften Gestalt“[12] Gregors mit „Widerwillen“[13]. Der Leser dagegen wird durch Kafkas typisch „einsinnige Erzählperspekte“[14] an Gregor gebunden und erfährt so von seinen Gedanken, Sorgen und Hoffnungen[15]. Dieser Einblick in diese menschlichen Wesensarten erinnern den Leser nicht nur an Gregors ursprüngliches Menschsein, sondern bewirkt, dass Gregor dem Leser trotz seines tierischen und damit befremdlichen Äußeren vertraut wird. Damit ist gemäß Julia Kristeva dem Leser die Möglichkeit gegeben, Gregor immer noch als einen Menschen wie du und ich zu erkennen und damit seine Abscheu zu verhindern[16]. Der Leser kann also nur dann Ekel empfinden, wenn er die Perspektive wechselt und die Situation durch die unwissenden Augen der anderen Figuren sieht. Diese Umstellung gestaltet sich schwierig, da die auf Gregor fokussierte Erzählperspektive nicht ignoriert werden kann.
Das Mitleid verstärkt sich natürlich auch durch das aggressive Verhalten des Vaters gegen seinen käferigen Sohn - Gregor wird nicht nur getreten[17], sondern auch mit Äpfeln „bombardier[t]“[18]. Doch abgesehen von Gregors Größe sollte sich der Leser fragen, ob und wie er selbst nicht auch schon mal einer Fliege was zuleide getan hat.
Die grundsätzlich ablehnende Reaktion der Familie auf die veränderte Situation ist menschlich nachvollziehbar, wenn auch nicht human. Aber Familie Samsa hat es nun mal rein äußerlich mit einem Tier zu tun.
Der ausgrenzende Umgang der Familie, der eher eine Eingrenzung durch „Gefangenschaft“[19] ist, beruht auf der gestörten Kommunikation, die die Familie als solche zwar erkennt, aber auf völlig verdrehte Weise. Der Vater sagt „Wenn er uns verstünde“[20], doch paradoxerweise versteht Gregor auch in Tiergestalt seine Familie - akustisch wie auch menschlich -, sie ihn dagegen überhaupt nicht. Der Einblick, den die Erzählperspektive dem Leser eröffnet, bleibt der restlichen Familie Samsa (und den anderen Personen in der Erzählung) verwehrt und so wird ihnen das Familienmitglied Gregor immer fremder. Sie sehen und hören nach und nach nur noch das Tier. Der Mensch, der bekannte Bruder und Sohn, verschwindet durch die Verdrängung, dass der Käfer und Gregor ein und das selbe Wesen sind. Diese Prozess ist besonders deutlich bei der Schwester zu beobachten. Sie, die sich anfangs noch um Gregors Ernährung und Räumlichkeit kümmerte, verfällt erst in eine Nachlässigkeit um dann letztlich sogar die Forderung zu stellen „Weg muss es“[21]. Sie ist es, die Gregor endgültig die vertraute Menschlichkeit abspricht, indem sie aus dem „er“ (Gregor) das „es“, das „Untier“[22] macht. (Ist ein Untier überhaupt ein Tier, da es das Tierische durch das UN verneint?)
Das Verhalten der Mutter dagegen kommt noch dem am nächsten, was Kafka laut Menninghaus mit der „abstoßend-widerlichen“ Darstellung paradoxerweise bezweckte: Einen „Mitleidseffekt“[23]. Während der Leser Mitleid empfindet, weil er in Gregor noch das Menschliche erkennt, bemitleidet die Mutter ihren Sohn, weil er in ihren Augen das Menschsein verloren hat.
Gregors Familie verweigert sich der Aussage von Julia Kristevas, dass das Fremde in uns selbst sei[24], weil sie nicht erkennen (können oder wollen), dass Gregors neues Dasein als Käfer kein rein zufälliger Vorfall, sondern ein Symptom ihrer Familienidentität ist. Waren sie vor Gregors Verwandlung nicht selbst eine Art von Schmarotzer? Der Vater ist es, der „Zischlaute“ ausstößt „wie ein Wilder“[25]. Und Gregors Zimmer verwandelt sich nicht nur durch seine Körperflüssigkeiten, sondern auch durch die Handhabung der Familie - durch „schmutzigen Kram“ zur „Abfallkiste“[26] - in einen Hort des Ekels.
Es ergeben sich weitere Fragen zur Reaktion - Ekel oder Mitleid für den Käfer. Die Größe des Käfers wirft die Frage auf, ob durch ein ‘Mehr’ an Ekelauslöser der Effekt stärker gemacht wird als es bei einem Käfer der natürlichen Biologie oder ob diese riesige Gestalt das Tier zu etwas Greifbarerem macht, das man nicht übersieht, das man wahrnimmt und damit als Projektionsfläche wie bei üblichen Haustieren, nicht aber bei Insekten, benutzten kann.
Außerdem ergibt sich mit Menninghaus’ These, dass Kafka in „Die Verwandlung“ eine Wunschphantasie umsetzen würde, sich von ekelhafter verwandtschaftlicher Nähe zu entfernen[27], eine ‘Gegenfeuer’-Methode: Um den Ekel vor der Familie loszuwerden ohne sich dabei schuldig zu machen[28], verwandelt Kafka seinen Protagonisten in eine ekelhafte Gestalt, damit die Familie sich von selbst entfernt.
Diese Absicht deutet jedoch auf folgenden Schluss: Um die Unschuld des Protagonisten zu wahren, wird der Leser an ihn gebunden und mit Blindheit gegen die - wenn auch negative - Menschlichkeit der unwissenden anderen Figuren ausgestattet, so dass der Leser in keinem Fall Mitleid, sondern nur Widerwillen gegen diese empfindet.
Literaturverzeichnis
- Kafka, Franz. Die Verwandlung. Reclam Universal-Bibliothek. Ditzingen, 1996.
- Kristeva, Julia. Fremde sind wir uns selbst. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 1990.
- Menninghaus, Winfried. Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 1999.
[...]
[1] Kafka, Franz. Die Verwandlung. Reclam Universal-Bibliothek. Ditzingen, 1996. S. 40.
[2] Ebd. S. 5.
[3] Menninghaus, Winfried. Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 1999. S. 7.
[4] Ebd. S. 7.
[5] Kafka, Franz. Die Verwandlung. S. 49.
[6] Ebd. S. 5.
[7] Ebd. S. 23.
[8] Ebd. S. 35.
[9] Ebd. S. 53.
[10] Ebd. S. 5. Alle folgenden Zitate bis zur nächsten Fußnote sind ebenfalls dieser Seite entnommen.
[11] Ebd. S. 6.
[12] Ebd. S. 44.
[13] Ebd. S. 44.
[14] Menninghaus, Winfried. Ekel. S. 375.
[15] Vgl. Kafka, Franz. Die Verwandlung. S. 25 und 26.
[16] Vgl. Kristeva, Julia. Fremde sind wir uns selbst. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 1990. S. 11.
[17] Kafka, Franz. Die Verwandlung. S. 23.
[18] Ebd. S. 43.
[19] Ebd. S. 30.
[20] Ebd. S. 57.
[21] Ebd. S. 57.
[22] Ebd. S. 56.
[23] Menninghaus, Winfried. Ekel. S. 370.
[24] Vgl. Kristeva, Julia. Fremde sind wir uns selbst. S. 11.
[25] Kafka, Franz. Die Verwandlung. S. 22.
[26] Ebd. S. 50.
[27] Vgl. Menninghaus, Winfried. Ekel. S. 357.
[28] Ebd. S. 375 f.
- Quote paper
- Anja Keller (Author), 2011, Zwischen Ekel und Mitleid in der Literatur. Der „braune Fleck auf der geblümten Tapete“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/428187