Wie fühlt sich ein Patient auf einer Intensivstation?Wie fühlen sich Krankenpfleger und Arzt dort, sofern sie sich überhaupt noch mit ihren Gefühlslagen beschäftigen? Wie wirkt sich ein so extremes Arbeitsumfeld wie das einer Intensivstation auf seine Akteure aus? Das Buch beschäftigt sich praxisnah mit der gewöhnlichen Dramatik in der Todeskampfarena des intensivmedizinischen Alltags. Die Folge ist fast zwangsläufig: Eine erweiterte Auseinandersetzung mit der Frage nach der Ethik, der Würde und dem Stellenwert von übergeordeten und persönlichen humanitären Positionen im Alltag der Medizin.Was hat dort noch Bestand?
Inhalt:
1. Einleitung
1.1. Methodik
2. Vorüberlegungen zur Ethik in der Medizin
2.1. Zur aktuellen politischen Diskussion
2.2. Ethik im Alltag der Medizin
3. Rahmenbedingungen in der Intensivpflege
3.1. Arbeitsorganisation
3.2. Krankheitsbilder und Belastungsfaktoren
4. Sozialverhalten und Interaktion zwischen Mitarbeitern und Patienten
4.1. Das Verhältnis Arzt - Pflegepersonal
4.2. Eine Zwischenbemerkung zur Forschungslage
4.3. Gestörte Beziehungen
4.4. Interaktion Personal - Patient
4.4.1. Die Patientenrolle - Ein Szenenwechsel
4.4.2. Zur Sicht des Patienten
4.4.3. Zur psychischen Situation des Intensivpatienten
5. Zur psychischen Situation der Pflegenden
6. Der Todesfolgenberuf
7. Zusammenfassung
8. Schlußbemerkung
1. Einleitung
Nach Beendigung meiner Sozialisation zum Krankenpfleger habe ich mich in den Universitätskliniken Göttingen um eine Anstellung beworben. Da ich gerne eigenverantwortlich arbeite und bereits während meiner Ausbildungszeit im Bereich Intensivmedizin eingesetzt war, konnte ich direkt nach meinem Krankenpflegeexamen eine Vollzeitstelle auf der Neurologischen Intensivstation annehmen. Ich wußte, welche Art von Arbeit mich dort erwartete und daß mit einigen Schwierigkeiten zu rechnen sein würde. Mir war klar, daß ich nach Abschluß meiner Ausbildung ein "hermetischeres" Arbeitsfeld aufsuchen würde, um mich dort langsam professionalisieren zu können. Als Neuanfänger mit eigener Weltsicht und Grundeinstellung stieß ich jedoch sehr schnell an für mich zumutbare Grenzen. Ich setzte meine Tätigkeit nach 6 Monaten mit halber Stundenzahl fort und nutzte die neu gewonnene Freiheit, um mir Gedanken über den Systemdefekt der Intensivtherapie zu machen. Ich beobachtete, was um mich herum geschah, wie auf den unterschiedlichen Ebenen agiert wurde und welcher Stellenwert mir und den zu versorgenden Patienten zuerkannt wurde. In den Stellenausschreibungen für die neu zu besetzende Position der Stationsleitung stolperte ich immer wieder über den Begriff der "Ganzheitlichkeit", die in der Patientenversorgung eine übergeordnete Rolle zu spielen habe. Dieser Anspruch ist in den versorgenden Institutionen und besonders in den stroke units extrem weit von seiner Realisierung entfernt geblieben.
Ein besonderes Charakteristikum von Universitätskliniken ist, daß dem Primat von Lehre und Forschung eine besondere Stellung eingeräumt wird, wodurch insbesondere im Bereich der universitären neurologischen Intensivmedizin eine Art Negativauslese stattfindet. Es kommt zur Aufnahme vieler Fälle, deren Prognose infaust ist. Ebenso zieht die Arbeit ein bestimmtes Klientel von Mitarbeitern an und prägt diese in auffallender Weise.
1.1. Methodik
Nach einigen einführenden ethischen Überlegungen zur Hirntoddiagnostik und zu Aspekten der Sterbehilfe (Kapitel 2) nehme ich Bezug auf die Verabschiedung des neuen Organtransplantationsgesetz im Juni 1997. Im Anschluß daran gehe ich zu der Darstellung spezieller intensivmedizinischer Arbeitsbedingungen (Kapitel 3) über. Danach möchte ich im vierten Abschnitt über Sozialverhalten und Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Patienten berichten. In diesem Kapitel wird auch versucht, die intensive care units aus der Sicht der Patienten und unter Berücksichtigung ihrer psychischen Reaktionsmuster und der äußerern Bedingungen wahrzunehmen. Im fünften Teil möchte ich wiedergeben, welche besonderen Verhaltensauffälligkeiten ich bei Mitarbeitern und Kollegen beobachten konnte, die teilweise über viele Jahre auf der Intensivstation beschäftigt sind.
Dabei möchte ich mich mit den Faktoren befassen, die unabhängig von der individuellen Prädisposition der Mitarbeiter auslösend für bestimmte Verhaltensmuster sein können.
Im 6. Kapitel wird die Konfrontation mit dem Tod thematisiert.
Gefragt wird in dieser Arbeit danach, welche Faktoren das psychosoziale Gefüge einer Intensivstation beeinflussen und auf welche Weise sich diese Faktoren auswirken.
Mit "psychosozialem Gefüge" ist gemeint: Arbeitsabläufe,Arbeitsatmosphäre, Konfliktfähigkeit und Belastbarkeit der Mitarbeiter und Patienten, Schwierigkeiten, die sich für alle Beteiligten aus dem intensivmedizinischen Alltag ergeben und die körperlichen und seelischen Befindlichkeiten der dort Agierenden.
Ziel ist es, mit Hilfe von Material aus Fachzeitschriften, medizinischen und philosophischen Dissertationen, überregionalen Tageszeitungen und Aufsatzsammlungen sowie einer Vorlesungsreihe Klarheit über Fragen zu erhalten, die sich aus Beobachtungen persönlicher und beruflicher Art ergeben haben. Um einen lebensnahen praktischen Bezug herzustellen, ist eine deskriptive Form gewählt worden.
Die Arbeit ist absichtlich realitätsnah konzipiert und enthält einige plastische Schilderungen, die als Kontrast zur rein wissenschaftlichen Darstellung dienen sollen.
2. Vorüberlegungen zur Ethik in der Medizin
2.1 Zur aktuellen politischen Diskussion
Die medizinethische Debatte entzündet sich paradigmatisch immer wieder an den Themen Sterbehilfe und Definition des Todes. Weil ich während meiner Arbeit direkt mit den Betroffenen dieser Auseinandersetzung konfrontiert bin, drängt sich die Auseinandersetzung mit dem Thema geradezu auf.
Am 25.06.97 mußte der deutsche Bundestag darüber entscheiden, nach welchen Regeln menschliche Organe entnommen und weitergegeben werden können. Seit über 20 Jahren wurden in Deutschland praktisch ohne gesetzliche Grundlage Organe entnommen und verpflanzt. Es wurde in einem Transplantationsgesetz festgelegt, wann Organe aus einem Toten entnommen werden dürfen und unter welchen Voraussetzungen. Als erstes ist zunächst im Einzelfall zu entscheiden, wann ein Mensch überhaupt tot ist. Mit dieser Entscheidung ist an erster Stelle der Arzt gefordert, der eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen fällt.
Bisher gab es keine eindeutige Rechtssicherheit für Ärzte, die mit Entscheidungen dieser Art konfrontiert sind. Der Arzt muß davon überzeugt sein können, daß es sich bei einem cerebral massiv geschädigten Patienten tatsächlich um einen Toten handelt, dessen Organe explantiert werden dürfen.
Handelt es sich bei dem "verstorbenen" Menschen tatsächlich um einen "Hirntoten", ist an zweiter Stelle sicherzustellen,
ob von ihm oder einem Angehörigen eine Entscheidung darüber getroffen worden ist, ob er mit einer Organentnahme einverstanden ist.
Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang zwei Positionen, die im Bundestag und in der Öffentlichkeit als Modell "enge Zustimmungslösung" und "erweiterte Zustimmungslösung" gelten.
Bei dem ersten Modell ist nur der Wille des Patienten für die Entscheidung einer Organentnahme maßgeblich. Die bisher praktizierte erweiterte Zustimmungslösung sieht vor, daß die Angehörigen des Spenders auch dann eine Organentnahme erlauben können, wenn eine Einwilligung des Sterbenden weder direkt noch indirekt vorliegt. Vorraussetzung für die erweiterte Zustimmungslösung soll sein, daß der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird.
Die enge Zustimmungslösung legt den Zeitpunkt des Todes nicht fest.
Für die Entnahme von "qualitativ hochwertigen" Organen ist der Zeitpunkt des Todes eines Menschen jedoch von größter Bedeutung, weil eine längere intensivmedizinische Kreislaufstabilisation zu einer Schädigung der für eine Explantation vorgesehenen Organe führen kann. Es kristallisieren sich also mehrere Problemschwerpunkte heraus:
1. Wann ist ein Mensch tot?
2. Unter welchen Vorraussetzungen dürfen ihm, wenn er tot ist, seine Organe entnommen werden?
3. Gibt es eine Verpflichtung den Menschen gegenüber, die dringend ein Organ benötigen, um weiter existieren zu können?
In Deutschland warten derzeit 13.000 Menschen auf eine Organtransplantation. Bei der derzeitigen Praxis gibt es in Deutschland einen Stand von ca. 3300 Organtransplantationen im Jahr (Vgl. FAZ v. 21.06.97).
Hauptkonflikt in der politischen und ethischen Auseinandersetzung war und bleibt die Frage nach der Definition des Todes. An diese Frage schließt sich die Diskussion darüber an, ob der dringende Bedarf von Organen wie Herz, Leber, Niere, Lunge, Pankreas (u.a.) eine moralische Verpflichtung nach sich zieht, eine arithmetische Bedarfsdeckung zu erwägen.
Im Bundestag[1] waren die Positionen dementsprechend konträr.
"Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, wann menschliches Leben beginnt, nicht nach lebensweltlichen, theologischen, philosophischen oder emotionalen Erfahrungen beantwortet, sondern entsprechend dem naturwissenschaftlich-medizinischen Kenntnisstand. Für die Frage nach dem Lebensende kann es keine andere Entscheidungsgrundlage geben". H.Seehofer (CSU)
Demgegenüber der Bundesjustizminister
Schmidt-Jortzig (FDP)
"Es ist einfach nicht so, daß Hirntod gleich Gesamttod ist. Wer so etwas behauptet, leugnet, daß es Unterschiede gibt."
Rupert-Scholz (CDU), ebenfalls Jurist, entgegnete
"Die Frage des Todes kann aber nicht, Herr Schmidt-Jortzig, nach metapyhsischen, religiösen, ethischen oder sonstwie moralischen Vorstellungen in diesem Bereich entschieden werden, der einen Auftrag der Rechtsordnung formuliert ..."
Noch größer waren die Differenzen bei der zur Entscheidung stehenden Frage, wer über die Organspenden entscheiden soll und ob der Blick auf den Menschen darauf reduziert wird, wodurch er für andere nützlich werden kann.
Am Ende der Debatte entschied sich der Bundestag mit Zweidrittel-Mehrheit für die Beibehaltung der bisherigen Praxis. Dieser Abstimmung unmittelbar vorausgegangen war ein Wortbeitrag des SPD-Abgeordneten Dreßler, der tatsächlich eine direkte zahlenmäßige Gegenüberstellung von Bedarf und Realität vornahm:
"1996 sind in Deutschland 3228 Organe (...) transplantiert worden. Nur in 34 Fällen lag eine höchstpersönliche Zustimmung der Betroffenen vor, also in gerade 1% der Transplantationen."
Die Verabschiedung des Gesetzes ist im Hinblick auf den klinischen Alltag besonders wichtig, weil die Definition des Todeszeitpunktes alle weiteren Schritte erheblich vereinfacht. Aus politisch-juristischer Perspektive geht damit scheinbar eine lange Phase der Unsicherheit zuende. Nach Abschluß der Hirntoddiagnostik kann medizinisch eindeutiger verfahren werden, das Konzept selbst bietet jedoch einigen Anlaß zum Mißtrauen, weil das moralische Koordinationssystem selbst davon betroffen ist. Die bioethische Diskussion stellt - "unterstützt von einer verbreiteten utilitaristischen Grundströmung der Philosophie[2] " - überkommene Wertvorstellungen und Tabus in Frage. In Zeiten knapper Budgets gibt es außerdem ein Klima gesellschaftlicher Akzeptanz für neue Todeskonzeptionen.
Dabei galt noch vor 25 Jahren ein Mensch dann als tot, wenn sein Herz zu schlagen aufhörte.
Der Siegeszug der Begrifflichkeit "Hirntod" begann mit einem Artikel einer ad-hoc-Kommission der Harvard Medicial School, die zum Zwecke der Erarbeitung eines neuen Todeskriteriums gebildet worden war. Die Gründe wurden von den Kommissionsmitgliedern selbst benannt:
1. Der medizinische Fortschritt (Wiederbelebung, Aufrechterhaltung vitaler Funktionen durch Maschinen) hat dazu geführt, daß immer mehr Menschen mit zerstörten Gehirnen überleben können.
2. Überholte Kriterien für die Definition des Todes könnten zu Kontroversen bei der Beschaffung von Organen zur Transplantation führen.
Das neue Todeskonzept gewann schnell an Popularität, fand in Deutschland die Anerkennung der Bundesärztekammer und die Zustimmung der großen christlichen Kirchen.
In der Diskussion um die Hirntodkonzeption sind nach Höflinger, der sich mit verfassungsrechtlichen Fragen der Organtransplantation beschäftigt, drei Ebenen zu unterscheiden:
a) Auf der definitorischen Ebene geht es um das Todesverständnis, um das Subjekt des Todes;
b) Die kriteriologische Ebene bezieht sich auf die erste Ebene, sie setzt sich mit den Todeskriterien auseinander;
c) Zur Kriterienfeststellung bedarf es der Diagnostik (diagnostische Ebene).
Auf den letzten beiden Ebenen dominieren eindeutig die Biowissenschaften. Die Diskussionsebene, die mit dem Subjekt des Todes und dem Todesverständnis zu tun hat, wird von den Naturwissenschaften jedoch auch beherrscht.
Ihre Anmaßungen stellen einen
"radikalen Bruch mit der traditionellen Pluralität an Entwürfen und Vorstellungen von Leben, Sterben und Tod dar. Im Begriffskostüm der Ganzheitsmedizin propagiert die Hirntodschule eine partikularistische, eindimensionale Zerebralideologie (...) Das Gehirn gilt als das Ganzheitsorgan, das den Menschen schlechthin konstituiert".[3]
Die Praxis bestätigt solche Vermutungen. Sich den betroffenen Menschen rein theoretisch-naturwissenschaftlich zu nähern, wird ihrem Mensch-Sein nicht gerecht. Der hirntote Mensch ist ein sterbender Mensch, der so lange stirbt, bis die ihn umgebenden Respiratoren, Infusomaten, Perfusoren und Monitore abgestellt werden. Organe werden nicht von Toten entnommen.
Sehr eng verbunden mit der Verabschiedung eines Transplantationsgesetzes bzw. der Hirntoddebatte ist die Frage, wann und in welcher Form Behandlungsverzicht bzw. Verzicht auf Maximaltherapie ein ethisches Moment darstellen könnten. Welche Meinungsverschiedenheiten es in diesem Problembereich gibt, soll deshalb im folgenden erörtert werden.
2.2 Ethik im Alltag der Medizin
Dazu ein Beispiel aus dem klinischen Alltag: Ein etwa 46-jähriger Patient wird an einem Abszeß im Zentralen Nervensystem operiert. Der Eingriff findet auf Höhe der Halswirbelsäule statt. Er erleidet eine Tetraparese ohne Aussicht auf Reversibilität.
Der Patient gerät im Verlauf seines Aufenthaltes auf der neurologischen Intensivstation in lebensbedrohliche Zustände und dekompensiert mehrmals vollständig.
Er erleidet eine sogenannte "reaktive Depression" und äußert (auf Befragen[4] ) den Wunsch, nicht mehr weiter leben zu wollen.
Mehrere Herzstillstände folgen. Der Patient wird jedesmal reanimiert und maximal weitertherapiert. Seine individuellen Körperschemata lösen sich immer weiter auf, er entwickelt Suizidphantasien. Aber selbst diese letzte, konsequenteste autonome Handlungsweise kann er nicht eigenständig ausführen.
Die ausgewählte Schilderung offenbart viel von der Ambivalenz moderner Medizin, die von der Verpflichtung und Kompetenz zur Lebensrettung bis hin zur Ignorierung von Willensäußerungen (und Patientenverfügungen) und subjektiv sinnlos empfundener Lebenserhaltung reichen kann.
Als Reflex auf ein medizinisch-technisches System, das uns von unserer Geburt an bis zu unserem Erkranken und Sterben unablässig verfolgt, bewegt die Sterbehilfedebatte die medizinische, ethische und juristische Fachwelt genau so stark wie eine interessierte und aufmerksame Öffentlichkeit.
Im Oktober 1994 fand eine beachtete Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission statt[5], auf der der Versuch unternommen wurde, die vielschichtigen Argumente zu dem Themenkomplex zu sortieren und zu besprechen. Obwohl sicherlich auch auf der juristischen Ebene Handlungsbedarf zur Klärung vieler Grauzonen besteht, warnten die Teilnehmer vor einer "Verrechtlichung" der Medizin[6] und vor zu großer Regelungsdichte durch den Gesetzgeber. Die Teilnehmer setzten überwiegend auf einen fachübergreifenden Meinungsaustausch und forderten gerade für den Arzt, der aus seinem "Technikerverständnis" heraustrete, die Möglichkeit, Spielräume für verantwortliche Entscheidungen wahren zu können.
Um den fachübergreifenden Meinungsaustausch anzuregen, sind zahlreiche Monographien und Aufsätze zum Thema veröffentlicht worden, mehrere Zeitschriften wurden gegründet, Kongresse und Symposien wurden abgehalten, medizinische Institute und Lehrstühle wurden eingerichtet, Ärztekammern, medizinische Fakultäten und Kliniken besitzen spezifische Ethikkommissionen, und seit 1988 gibt es in der BRD eine "Akademie für Ethik in der Medizin" (Vgl. D.v.Engelhardt, Lübeck 1989).
Renommierte und publikumswirksam agierende Standesangehörige der Medizin sorgen in jeder Talkshow für hohe Einschaltquoten und erhöhen die Auflagenstückzahlen diverser Druckerzeugnisse.
Julius Hackethal, der im Rahmen einer vielbeachteten Vorlesungsreihe zum Thema Tod, Sterben u. Sterbehilfe an der Georg-August-Universität in Göttingen[7] zum ärztlichen Hippokratischen "Mein-Eid" Stellung bezog, argumentiert mit dem Verweis auf dringend notwendige Reformen in der Medizin dahingehend, daß es in der Geschichte der Medizin niemals der eigene Stand selbst war, der Reformen initiiert hat. Interdisziplinäre Veränderungen habe es immer erst durch Intervention von außen gegeben. Er spricht sich deshalb für eine stärkere Reglementierung der in vielen Fällen ungehemmt, unmenschlich und inkompetent agierenden Ärzteschaft aus. Seiner Ansicht nach ist es gefährlich, einige Ärzte mit ihrem rudimentären Ethikverständnis allein zu lassen.
Mit der zunehmenden Pharmakalisierung und Technisierung unserer Lebenswelt steigt die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung und bringt für viele , wenn schon keine Optimierung, so doch immerhin eine Verlängerung ihrer Lebenserwartung mit sich. Mit dieser Erhöhung der zeitlichen Dauer ist oftmals auch eine zunehmend defizitäre Phase eines Lebens verbunden. Mit der Verlängerung von Biographien und einem individuelleren Freiheitsverständnis stellt sich immer öfter die Frage, ob es nicht mehr als legitim ist, wenn der Einzelne über den Zeitpunkt seines Sterbens selbst bestimmen können soll. Wo die "Automatik biologischer Zerfallsabläufe"[8] mit technischer Vehemenz blockiert wird, wird allerdings jede sinnvoll erscheinende Grenze verwischt.
Nach A. Auer zeichnet sich jedoch ein Grundkonsens in der Ethik insgesamt ab:
Dort, wo der Sterbeprozeß lange andauert und
"wo die psychische Kraft zur Bewältigung einer unheilbaren, aber voraussichtlich sich noch lange hinziehenden Krankheit nicht mehr vorhanden
oder der Prozeß des Sterbens ganz und gar auf das allmähliche Erlöschen der letzten biologischen Funktionen eingeengt ist, müssen auftretende Komplikationen nicht mehr mit allen möglichen Mitteln bekämpft werden, auch wenn der Tod dann möglicherweise beschleunigt herbeigeführt wird."[9]
Ein weiteres Praxisbeispiel zeigt, daß es einen Handlungsspielraum für Ärzte gibt, der über die bloße Verpflichtung zu lebensrettenden und lebenserhaltenden Maßnahmen hinausgeht.
Ich habe vor ein paar Monaten einen Spätdienst mit der Identifizierung einer vierundachtzig-jährigen Frau begonnen, die mir irgendwie bekannt vorkam. Mir fiel ein, daß es sich um eine ehemalige Nachbarin von mir handelte, die ich allerdings nur sehr flüchtig kennengelernt hatte.
Nach einem Suizidversuch mit Sedativa ist die alte Dame, die bis zu diesem Zeitpunkt selbständig und allein lebte, von einer Pflegerin ohnmächtig in ihrer Wohnung aufgefunden und im Verlauf der Ereignisse auf die Intensivstation gebracht worden. Da auf den ärztlichen Therapieplänen, die in den Intensivboxen hängen, in der Regel nur stark verallgemeinernde Bemerkungen zur psychischen Situation eines Menschen vermerkt sind ("Depressionen"), erkundigte ich mich bei Kollegen und dem diensthabenden Arzt nach der aktuellen Situation.
Es war - wie immer - wenig über die Patientin bekannt.
Sie sei in der letzten Zeit zunehmend vereinsamt, da sie die meisten ihrer Freunde und Bekannte bereits überlebt hatte. Sie sei früher einmal Tänzerin gewesen und unverheiratet geblieben. Alle spärlichen Informationen ließen darauf schließen, daß sie ein sehr eigenständiges Leben geführt haben muß. Ihr Entschluß, sich im Vollbesitz ihrer noch vorhandenen Kräfte zu suizidieren, wurde nicht akzeptiert. Die Pflegerin alarmierte den Notarzt, die alte Frau wurde ins Klinikum eingeliefert, entgiftet und mit maximalem Aufwand stabilisiert. Ihr Wunsch zu sterben war bekannt . Sie hatte sich gegenüber der Pflegerin, die sie zu Hause versorgte, mündlich wiederholt darüber geäußert[10] .
Ihr Allgemeinzustand nach der Rettung war an Trostlosigkeit nicht zu überbieten. Sie war in einem katastrophal schlechten Zustand und mußte jetzt außerdem die üblichen unangenehmen bis qualvollen obligatorischen intensivmedizinischen Prozeduren über sich ergehen lassen.
Nachdem sie wieder zu sich gekommen war und nach weiteren zwei Wochen auf Befragen wiederum den Wunsch äußerte, zu sterben, hat man schließlich auf weitere Interventionen verzichtet und ihr sozusagen offiziell die Erlaubnis dazu erteilt. Sie starb bald darauf.
1982 hat der Arzt und Theologe D.Rössler seinen Beitrag bei den Humanismusgesprächen mit der Bemerkung eröffnet :"Die ärztliche Ethik ist krank".[11] In seinem Referat geht er von einer umfassenden Ergänzungs- und Behandlungsbedürftigkeit der ärztlichen Ethik aus. Hartmann zeigt auf, daß gegenüber den Ethik-Kommissionen, die ständig einer Alibifunktion bezichtigt werden, berechtigterweise Skepsis angebracht zu sein scheint, weil diese sich in der Regel vorwiegend oder sogar ausschließlich mit Anträgen für diagnostische und therapeutische Verfahren beschäftigen, "in denen der Mensch Versuchsperson ist, keineswegs mit den Wertbezügen ärztlichen Handelns."[12]
Er erklärt, was er unter ärztlicher Ethik versteht:
"Wenn man von ärztlicher Ethik oder Ethik des Arztes spricht, so ist damit gemeint, daß der Medizin als Wissenschaft und dem Arzt als Beauftragten der Öffentlichkeit - und von dieser überwacht - eine Gruppe menschlicher Werte zu besonderer Pflege und Fürsorge anvertraut ist ."[13]
Im klinischen Alltag lassen sich diese Ansprüche leider nicht immer verwirklichen, wie folgendes drastisches Beispiel zeigt, das leider kein Einzelfall ist.
Auf "unsere" Intensivstation wurde vor einiger Zeit ein etwa 80-jähriger Mann zur Diagnostik seines neurologischen Status gebracht. Er kam aus einem Altersheim aus der weiteren Umgebung Göttingens und nun aus einem Krankenhaus in dessen Nähe. Der alte Herr war schon äußerlich in einem so schlechten Zustand, daß die durch zahlreiche Neuaufnahmen und Abgänge an diesem Nachmittag völlig überforderten Assistenzärzte, Krankenpfleger/innen und studentischen Aushilfskräfte eine situationsbedingt ablehnende Haltung ihm gegenüber einnahmen. Das Aussehen des Mannes läßt sich wie folgt beschreiben: Er lag verschnürt auf einer Trage des Deutschen Roten Kreuzes, war kachektisch, unrasiert, Zähne und Mund waren auffällig ungepflegt, sein Bewußtseinszustand war schwer einzuschätzen und er hatte trotz Inkontinenzproblemen keinen Blasenkatheter und keine Windel. Er roch entsprechend.
Außerdem belegte er als überraschend angekündigter dritter Neuzugang das dreizehnte Intensivbett, das nur im äußersten Notfall zu belegen ist. Da ein vernünftiges Gespräch mit ihm in Hektik und allgemeiner Aufgeregtheit und Gereiztheit nicht möglich war, beobachtete ich, wie er als Willenssubjekt in den Augen aller Anwesenden immer mehr verblaßte und schon nach Minuten als kaum mehr als ein alter degenerierter Organismus wahrgenommen wurde.
Die Arbeit - die ohnehin oft genug durch eine geradezu erbarmungslose Funktionalität gekennzeichnet ist - vollzog sich an ihm wie an einem Körper, von dem man sich nicht mehr allzuviel verspricht.
So schnell es ging waren die Handhabungen vollzogen, die einen kranken Patienten offiziell zu einem intensivmedizinischen Patienten machen.
Das bittere Resumee ist: Der alte Mann war uns allen - gelinde gesagt - lästig, denn jeder von uns hatte an diesem Tag auch ohne ihn ein Arbeitspensum zu verrichten, das kaum zu bewältigen war.
Während wir uns nach Leibeskräften bemühten, entbrannte im Hintergrund ein telephonisches Kompetenzgerangel zwischen Uniklinik, Pflegeheim und Heimatkrankenhaus des Patienten. Niemand wollte ihn eigentlich, der neurologische Status, der suggeriert werden sollte, um eine Aufnahme auf der Intensivstation sicherzustellen, war überdies mehr als fragwürdig.
Nach 2 Stunden wurde der alte Mann auf die für ihn sicherlich lange Reise in „sein Heimatkrankenhaus“ geschickt.
Sein Platz wurde innerhalb kurzer Zeit von einem 30-jährigen Patienten belegt, der eine schwere intracerebrale Massenblutung mit Ventrikeleinbruch erlitten hatte. Ein neuer medizinischer Körper ist gegen einen alten eingetauscht worden.
Dieses ist ein weiteres, recht typisches Beispiel für den Stellenwert, den die Ethik im Alltag der großen Wissenschafts-u. Medizinbetriebe zugewiesen bekommt. Eine wesentliche Veränderung zugunsten von Humanisierungstendenzen ist in überdimensionierten Universitätskliniken spürbar noch nicht zu erwarten. Hartmann bemerkt :
"Man wird Wertfragen in der Medizin nicht ohne den allgemeinen kulturellen Hintergrund des Normengefüges einer Gemeinschaft erörtern können."[14]
Mit diesen plastischen Schilderungen will ich zeigen, was jedermann längst weiß. Der Apparat der Medizin leidet an seinen eigenen Strukturen und ist nicht zuletzt infolge der Umstrukturierung im Gesundheitswesen wieder einmal mehr mit sich als mit den Patienten beschäftigt. Während dringend an Konzepten für ein auf eine andere Art segensreicheres Selbstbild der teilweise ihrer Zukunftschanchen beraubten Medizin gearbeitet werden sollte, gerät das System der Versorgung selbst durcheinander und die Desillusionierung der Ärzte nimmt zu. Der Vertrauensverlust, den die Ärzteschaft hinnehmen muß, ist dabei hochgradig selbstverschuldet. Viele Patienten wenden sich nach jahrzehntelang am eigenen Leibe erfahrener Ignoranz den weniger etablierten Heilverfahren zu. Eine für jeden verwirrende Debatte über komplizierte Dinge wie "Gentechnologie", "Organtransplantation" und "Teilhirntod" läßt den hilfesuchenden Patienten in dem empathisch zugewandten Heilkundigen[15] eine echte Alternative sehen. Statt jedoch Ursachenforschung zu betreiben, gerät die Medizin in immer unruhigere Gewässer. Führende Vertreter der Schulmedizin ergehen sich in Legitimationsritualen, statt Therapiestrategien zu entwickeln. So ist es nicht verwunderlich, daß die Ärzteschaft mit Abwehr und selbstgefälligem Mißtrauen auf die Überlegungen sogenannter paramedizinischer Berufsgruppen reagiert und ihre hellhörig gewordene Klientel durch ein solches Verhalten immer weiter von sich wegtreibt. Offenbar wird jetzt jederzeit damit gerechnet, daß ein
"mistelschneidender Druide aus den Baumwipfeln fallen könnte, dessen Wunderelixier nicht nur die Patienten einer unkonventionellen Behandlung zuführt, sondern auch die geläufigen Vorgehensweisen der Schulmedizin obsolet werden läßt."[16]
Die Methoden des Erkenntnisgewinns in der Medizin und die Frage, wie gesichert ärztliches Wissen überhaupt ist, müssen hingegen selbst überprüfbarer werden. Daß auch Ärzte gegen Dogmen und Mythen nicht gefeit sind und ihr Handeln nicht immer auf einer rationalen Grundlage steht, war zuletzt Thema eines Seminars, das auf dem Internistenkongreß in Wiesbaden angeboten wurde. Ein Medizininformatiker gab zu bedenken, daß ein Allgemeinmediziner täglich mindestens neunzehn Artikel lesen müßte, um sein Wissen auf den neuesten Stand zu bringen. Da er dies in der Regel nicht tut, arbeitet er nach veralteten Methoden. Vertreter der "Evidence- based-medicine", die eine strikte Anwendung wissenschaftlich gesicherter Forschungsergebnisse durchzusetzen versuchen, sind davon überzeugt, daß 70 - 90 % der Patienten nicht in Übereinstimmung mit wissenschaftlich gesicherten Erkennntissen behandelt werden (gerade in Universitätskliniken!).
Nach Ansicht von M. Berger von der Klinik für Stoffwechselerkrankungen der Universität Düsseldorf (Der Internist, Bd.30, S.344) trägt vor allem der "Autoritäts-Trugschluß" zur praktizierten Unwissenschaftlichkeit bei. Damit meint er, "daß die Urteile professoraler Autoritäten, die Rituale einer Klinik oder die Erfahrungen von einflußreichen Vorgesetzten ungeprüft übernommen werden"[17].
Eigene Erfahrungen und Klinikstraditionen werden so zum Ersatz für aussagekräftige wissenschaftliche Untersuchungen[18].
Die Abspaltung des Psychischen hat in der Medizin mit der Erfindung wirksamerer Medikamente und besserer technischer Möglichkeiten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer immer stärkeren Trennung der Körper - Geist - Seele- Einheit geführt. Die extreme Orientierung an der medizintechnischen Entwicklung und den pharmazeutischen Möglichkeiten führt seit Jahren noch stärker zu einer fast ausschließlich biologistischen Betrachtung der Phänomene und Krankheitsbilder. Dabei sind nicht nur die Laien, sondern auch die Ärzte selbst durch die Wissensexplosionen und die Datenfluten überfordert. Gleichzeitig führen "die technischen Angebote in moralische Dilemmata"[19], während für die wichtige Auseinandersetzung damit keine Zeit mehr bleibt. Daß ein solcher Trend die Patienten in Hilflosigkeit und Panik ausbrechen läßt, steht am Ende einer langen Tradition von Fehlleistungen der modernen Medizin.
Es ist deshalb wohl auch nicht verwunderlich, wie hochgradig emotional die Fragen des Abbruchs bzw. des Vorenthaltens lebensverlängernder Maßnahmen bei Todkranken diskutiert werden. Bei der Debatte um das "Recht zu sterben" sind Mediziner, Juristen und Ethiker gleichermaßen gefordert.
[...]
[1] In der Bundestagsdebatte vom 26.06.97
[2] Frankfurter Rundschau v. 10.08.1994, W.Höfling, 1994
[3] Ebd.
[4] Er ist tracheotomiert und kann nicht sprechen
5 Frankfurter Rundschau, 8.Okt.1994 (Wissenschaft und Technik)
[6] Mit der Argumentation, die Verantwortung des Arztes reiche weiter als die rechtlichen Normen
[7] Prof.Dr.med.J.Hackethal:Der Hippokratische Eid heute; Gastbeitrag zur Veranstaltungsreihe TOD-STERBEN-STERBEHILFE an der Universität Göttingen vom 5.12.95
[8] A.Auer, 1989, S.175
[9] Ebd.
[10] Meines Wissens hatte sie aber weder ein Patiententestament noch eine Vorsorgevollmacht hinterlegt. Ich habe aber Kenntnis von Fällen, in denen sogar notariell beglaubigte Patiententestamente vorgelegen haben sollen, ohne daß sich nach ihnen gerichtet wurde.
[11] D.Rössel, 1982, Salzburger Humanismusgespräche, zit.n.F.Hartmann,1989, S.1
[12] F.Hartmann, 1989, S.1
[13] A.a.O.,S.2
[14] A.a.O.,S.3
[15] FAZ v. 21.5.97 (Feuilleton)
[16] Ebd.
[17] FAZ v. 14.05.97 (Natur u. Wissenschaft)
[18] Eine Studie des Heidelberger Soziologiestudenten E.Wunder belegt, wie sehr die subjektive Erfahrung trügen kann. Er setzt sich kritisch mit der Verbreitung des "Lunatismus" auseinander. Nach dieser Lehre werden biologische Vorgänge vom ab- und zunehmenden Mond beeinflußt. Eine Umfrage unter Ärzten u. Hebammen in einer Geburtsklinik ergab, daß diese davon überzeugt waren, daß sich in Vollmondnächten die Geburten häufen. Eine Statistik derselben Klinik bewies jedoch, daß die Geburtenrate von den Mondphasen nicht beeinflußt wurde. Die Konfrontation mit den Ergebnissen der Untersuchung führte nicht dazu, daß die Befragten ihre Erfahrungen revidierten.
[19] Beck-Gernsheim, 1995, S.13
- Quote paper
- Wolfgang Steinkamp (Author), 1997, Sozialverhalten, Interaktion und Ethik auf Intensivstationen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42814
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