Die Forschungsarbeit über die Motive des 29. Kapitels im "Stechlin" entstand während des Sommersemesters 2002 im Rahmen eines germanistischen Hauptseminars zu „Theodor Fontane und Preußen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Innerhalb von Fontanes letztem Roman kommt dem 29. Kapitel mit dem auch politisch brisanten Dialog zwischen der Gräfin Melusine und dem Pfarrer Lorenzen eine zentrale Bedeutung zu. Im Rahmen einer Zusammenfassung des Textabschnitts werden zunächst deren zentrale Motive wie die Bezüge zu João de Deus und dem Alt-Neu-Thema interpretiert. Besondere Berücksichtigung erfährt die von Melusine verwendete Formel vom „großen Zusammenhang der Dinge“, deren philosophiegeschichtliche Einordnung (Christian Wolff, Hermann Lotze) unternommen wird. Im Zentrum der politischen Debatte steht die von Lorenzen artikulierte Preußenkritik; der Prestigeverlust von Militär und Adel wird mit der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung von (Natur-) Wissenschaft und Technik kontrastiert.
Daraufhin werden unter Zuhilfenahme der kontroversen Forschungsliteratur die zeitgeschichtlichen Implikationen des Diskurses sowie die politischen Positionen der beiden Protagonisten erörtert. Dabei wird insbesondere auf die inhaltliche Kongruenz von Lorenzens Ansicht mit brieflichen Äußerungen Fontanes hingewiesen. Schließlich werden die diversen Themen des 29. Kapitels mit dem See Stechlin als dem Titelgebenden und zentralen Romanmotiv in Verbindung gebracht.
Eine umfangreiche Bibliographie rundet die aufschlussreiche Untersuchung ab.
Inhalt
I. Einleitung
II. Hauptteil
A. Inhalt des 29. Kapitels
1. Die Ouvertüre
2. Der „große Zusammenhang der Dinge“
3. Die politische Debatte
4. Das finale Thema „Adel“
B. Einordnung des 29. Kapitels in den Gesamtkontext
1. Melusine und die Politik
2. Lorenzens politische Position
3. Der Stechlinsee und die anderen Motive des 29. Kapitels
III. Nachbemerkung
Literaturverzeichnis
I. Schriften Fontanes
II. Sonstige Texte
Anhang
I. Einleitung
Vorliegende Untersuchung hat das 29. Kapitel von Theodor Fontanes Alterswerk Der Stechlin zum Gegenstand. Diesem Abschnitt mit dem Dialog zwischen der Gräfin Melusine und dem Pfarrer Lorenzen kommt wegen seiner diversen Themen innerhalb des Romans eine zentrale Bedeutung zu. Besonders gilt dies für die politischen Aussagen der Protagonisten. In diesen Kontext gehört auch die Frage, ob und inwieweit der Autor eigene Ansichten durch seine Figuren artikuliert.
Die Studie beginnt mit einer Zusammenfassung von Kapitel 29; erforderlichenfalls werden Texterläuterungen gegeben. Auf Forschungsresultate wird in diesem Stadium nur spärlich Bezug genommen, um die Einheitlichkeit der Darstellung nicht zu sehr zu beeinträchtigen. Die Sekundärliteratur steht im Zentrum des zweiten Teils: Mit ihrer Hilfe werden die zeitgeschichtlichen Hintergründe der politischen Debatte herausgearbeitet; auch die kontroversen Charakterisierungen der literarischen Gestalten bleiben nicht ungenannt.
Schließlich leitet die Abhandlung mit einer Gesamtwürdigung der diversen Motive des 29. Kapitels in das Fazit über.
II. Hauptteil
Zunächst wird das Kapitel 29 inhaltlich vorgestellt. In diese Zusammenfassung fließen bereits einige Interpretationsansätze ein.
A. Inhalt des 29. Kapitels
Der in Rede stehende Romanabschnitt befindet sich innerhalb der Kapitelgruppe „Verlobung“[1], nachdem Armgard und Woldemar sich gegenseitig die Ehe versprochen haben, aber bevor dieses Versprechen in dem folgenden mit „Hochzeit“ titulierten Komplex[2] eingelöst wird. Unmittelbar voraus geht dem 29. Kapitel ein Gruppenausflug von Mitgliedern der Familien Barby und Stechlin unter Geleit der lokalen Funktionsträger Schulze Kluckhuhn und Gendarm Uncke zum See Stechlin.
1. Die Ouvertüre
Auf dem Rückweg trennen sich Melusine und Woldemar von den übrigen und suchen das Pfarrhaus auf, an dessen Vorgarten sich der Schwager in spe zurückzieht, um der Gräfin einen Dialog mit dem Pastor Lorenzen zu ermöglichen. Müller-Seidel[3] interpretiert dieses Verhalten als Ausdruck einer Rangordnung zwischen Melusine und Woldemar: Letzterer ist aufgrund des frühen Todes seiner Mutter primär von dem Pfarrer erzogen worden; seine künftige Ehepartnerin Armgard wuchs aus dem gleichen Grund unter der pädagogischen Obhut ihrer Schwester auf. Vor dem Eintritt in den Ehestand hätten sich beider Erzieher unter vier Augen zu unterhalten.
Die Gräfin betritt also allein das Haus, in welchem der seit geraumer Zeit jeglicher Kommunikation mit dem anderen Geschlecht entbehrende Seelsorger schnell seine ursprüngliche Beklemmung verliert und dem Besuch eine Sitzgelegenheit auf dem Sofa unter dem Bücherregal offeriert. Melusine bevorzugt jedoch das ihr altersgemäßer erscheinende Ruhemöbel gegenüber den beiden Bildern der Pfarre. Die Existenz dieser Kunstobjekte ist der Gräfin bereits vom Hörensagen bekannt; Woldemar hatte ihr im sog. Eierhäuschen, einem Gartenlokal an der Oberspree,[4] von diesen berichtet.[5] Bei den Kopien handelt es sich um die Kreuzabnahme des holländischen Malers Peter Paul Rubens und um ein Aquarellporträt der als „schwedische Nachtigall“ berühmt gewordenen Koloratursängerin Jenny Lind (1820-1887)[6]. Als Koloratur werden längere rasche Passagen in der Gesangsstimme einer vokalsolistischen Komposition bezeichnet.[7] Eine Koloratursängerin hat demnach eine Stimme mit einer speziellen Affinität zum Gesang solcher Koloraturen.[8] Unumwunden teilt Melusine nun ihren Informationsstand bezüglich der Bilder sowie ihre durch die Schilderung Woldemars entfachte Liebe für den Pastor diesem mit. Nicht zuletzt dieses Bekenntnis dürfte Müller-Seidel dazu bewogen haben, im Dialog des 29. Kapitels eine „versteckte und sublime Erotik“[9] zu konstatieren. Die Freimütigkeit der Gräfin findet eine Fortsetzung in ihrer Anspielung auf Lorenzens Lind-Faszination, welche sie in verblüffender Souveränität gegenüber ihrem von Berufs wegen eingeweihten Gesprächspartner als „himmlische Bewegung nach oben“ charakterisiert. Eine derartige Aussage verfehlt ihre Wirkung auf den Pfarrer nicht; Melusine entzieht sich endgültig des Verdachts einer standestypischen Oberflächlichkeit.
Das intellektuelle Niveau des vorliegenden Dialogs unter Beteiligung einer Dame kontrastiert zum damaligen Rollenverständnis der Frau, wie es sich beispielsweise in der Ausfertigung des Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 18.8.1896 spiegelt.[10] Dieses am 1.1.1900 in Kraft getretene Gesetzeswerk sah als gesetzlichen Regelgüterstand für die Ehe ein System der Gütertrennung vor.[11] Jedoch hatte hiernach der Ehemann das Verwaltungs- und Nutznießungsrecht sowohl an seinem Vermögen als auch an den eingebrachten Gütern der Gattin inne. Diese nicht nur von den zeitgenössischen Frauenrechtlerinnen als Entmündigung ihres Geschlechts betrachtete,[12] nur nominelle „Verwaltungsgemeinschaft“ konnte allein in einer noch gänzlich der Tradition des Patriarchats verhafteten Zeit als eine solche aufgefasst werden.[13]
Die Gräfin thematisiert nach der Lind mit dem portugiesischen Dichter und Pädagogen João de Deus (1830-1896)[14] eine weitere vom Pastor favorisierte Figur der Zeitgeschichte, dessen erste Nennung ebenfalls bereits durch Woldemar im Eierhäuschen[15] erfolgt war. Jener hatte unter Berufung auf Lorenzen das Staatsbegräbnis dieses wegen seiner Bescheidenheit zum Volkshelden avancierten Poeten dargestellt; Fontane wiederum dürfte sein Wissen um Leben, Werk und Tod des Portugiesen einem Ende Februar 1896 erschienenen Nachruf zu verdanken haben.[16] Nürnberger[17] sieht das João de Deus-Thema im Kontext der christlich-sozialen Motive des Stechlin; der Roman vermittele ein durch das Neue Testament bestimmtes Christentum. Neben Lorenzen vertrete vor allem Armgard mit ihrer Sympathiebekundung für Elisabeth von Thüringen[18] das Gebot der Nächstenliebe als oberstes Prinzip ihres Glaubens.
Im Gegensatz zur Schwester bekennt sich Melusine im 29. Kapitel zum Unglauben, welcher ihrem Naturell entspreche. Zwecks moralischer Kompensation artikuliert sie aber ihren Willen zur Demut. Den zunächst konkludent und dann ausdrücklich geäußerten Zweifeln des Pfarrers an Existenz und Effektivität von Demut begegnet die Gräfin mit folgender Gleichung: Demut sei eine christliche Tugend und impliziere Toleranz, da auch der Demütige um seine Abhängigkeit von der Duldung durch andere weiß. Mithin ermögliche erst die Demut die Entdeckung menschlicher Qualitäten beim Artgenossen. Lorenzen reagiert einstweilen mit Zufriedenheit, interpretiert die Mimik seiner Gesprächspartnerin jedoch dahingehend, dass selbige hinter ihren Äußerungen noch konkretere Erkenntnisse verberge. Diese Vermutung wird von Melusine freudig bestätigt. Bezugnehmend auf den Ausflug zum See, wo sie ein Aufstemmen der Eisfläche verhindert hatte, postuliert die Gräfin die Akzeptanz des Gegebenen bei parallelem Respekt vor dem Entstehenden. In der Praxis solle das Alte geliebt und das Neue gelebt werden. Insbesondere lehre der See Stechlin die Achtung vor dem „großen Zusammenhang der Dinge“.
2. Der „große Zusammenhang der Dinge“
Grundsätzlich wird Fontane von der Forschung nicht als philosophischer Kopf eingestuft.[19] Nichtsdestotrotz diskutiert sie Herkunft und Bedeutung der Formel vom „Zusammenhang der Dinge“ hinsichtlich ihrer Inspiration durch die Philosophie.
Ihre rein willkürliche Verwendung durch den Autor bestreitet Nürnberger.[20] Vielmehr handele es sich hierbei, ähnlich wie im Falle der von Nietzsche entliehenen Wendung von der „Umwertung aller Werte“,[21] um eine kalkulierte Setzung eines Ausdrucks, der am Ende des 19. Jahrhundert weit verbreitet war. Dieser gehe zurück auf Christian Wolff (1679-1754)[22], einen Philosophen der deutschen Aufklärung. Wolff trat vor allem durch seine Leibniz-Rezeption in Erscheinung; dessen zentrale Ideen erfuhren durch ihn eine Systematisierung und Anwendung auf sämtliche Wissensgebiete.[23] Darüber hinaus führte Wolff aufgrund seines damals noch nicht selbstverständlichen Gebrauchs des Deutschen als Wissenschaftssprache eine bedeutende Menge von philosophischen Begriffen in das seitdem generell übliche Fachvokabular ein.[24] Nach Nürnberger[25] bedienten sich die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert des „Zusammenhangs der Dinge“ als Bekräftigungsformel für ihr mechanistisches Weltbild. Wilhelm Raabe habe diesen Umstand in seiner Erzählung Prinzessin Fisch parodiert. Dagegen sei die Wendung bei Fontane weder naturgesetzlich noch ironisch zu verstehen. Melusines Appell gelte vielmehr einer aktiven und sozialen Lebensgestaltung des Individuums als Schlüssel zum Lebensglück.
[...]
[1] Vgl. Fontane, Theodor: Der Stechlin. Roman. Mit einem Nachwort von Hugo Aust. Stuttgart 1978. Zitierweise: Der Stechlin, Kap... (=S...) . Kapitel 25-31 auf den Seiten 275-335.
[2] Vgl. Der Stechlin, Kap. 32-35 (=S. 336-364).
[3] Vgl. Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Zitierweise: Müller-Seidel, Romankunst, S 2. Auflage Stuttgart 1980. S. 454.
[4] Vgl. Aust, Hugo (Hrsg.): Erläuterungen und Dokumente. Theodor Fontane: Der Stechlin. Zitierweise: Aust, Erläuterungen, S Stuttgart 1978. S. 26.
[5] Vgl. Der Stechlin, Kap. 15 (=S. 176).
[6] Vgl. zu Jenny Lind: Aust, Erläuterungen, S. 33.
[7] Vgl. Metzler Sachlexikon Musik. Auf der Grundlage des von Günther Massenkeil herausgegebenen Großen Lexikons der Musik (1978-1982/1987), einer Bearbeitung des Dictionnaire de la musique von Marc Honegger (1976). Stuttgart Weimar 1998. S. 520: Stichwort „Koloratur“.
[8] Vgl . Metzler, S. 521: Stichwort „Koloratursopran“.
[9] Müller-Seidel, Romankunst, S. 454.
[10] Vgl. Aust, Erläuterungen, S. 55.
[11] Vgl. Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch in sieben Bänden. Band 5: Familienrecht (§§ 1297-1921). Zitierweise: MüKo-Bearbeiter §... Randnummer München 1978. Gernhuber Einl. Zu §§ 1353-1563 Rdnr. 22.
[12] Vgl. Aust, Erläuterungen, S. 55.
[13] Vgl. MüKo-Gernhuber Einl. §§ 1353-1563 Rdnr. 22.
[14] Vgl. zu den Daten: Aust, Erläuterungen, S. 33.
[15] Vgl. Der Stechlin, Kap. 15 (=S. 182).
[16] Vgl. Aust, Erläuterungen, S. 33 f. und Nürnberger, Helmuth: Fontanes Welt. Zitierweise: Nürnberger, Welt, S Berlin 1999. S. 734.
[17] Vgl. Nürnberger, Welt, S. 734.
[18] Vgl. Der Stechlin, Kap. 25 (=S. 286).
[19] Vgl. nur Scholz, Hans: Theodor Fontane. München 1978. S. 43.
[20] Vgl. Nürnberger, Helmuth: „ ‚Der große Zusammenhang der Dinge’. ‚Region’ und ‚Welt’ in Fontanes Romanen. Mit einem Exkurs: Fontane und Storm sowie einem unbekannten Brief Fontanes an Ada Eckermann“. Zitierweise: Nürnberger, Zusammenhang, S In: FBl H. 55 (1993). S. 33-68. S. 36.
[21] Vgl. Der Stechlin, Kap. 9 (=S. 111) und Aust, Erläuterungen, S. 25 .
[22] Vgl. zu den Daten: Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. 17. Auflage Stuttgart Berlin Köln 1999. S. 389.
[23] Vgl. Störig, S. 434.
[24] Vgl. Störig, S. 434.
[25] Vgl. Nürnberger, Zusammenhang, S. 36.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Ass. iur. M.A. Reiner Scheel (Autor:in), 2002, Theodor Fontane: Motive des 29. Kapitels im Stechlin und deren Bedeutung für den Gesamtkontext des Romans, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42650
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.