Diese Arbeit hat den Anspruch, sich daran messen zu lassen, ob sie für Gymnasiallehrer und zukünftige Lehramtsanwärter gleichermaßen einen hilfreichen Anstoß bietet, Paradoxien im Mathematikunterricht zur Anwendung zu bringen und ein Konzept zu bieten, wie eine lohnende Anwendung erfolgen kann. Auf dieser Grundlage soll es dem Lehrer leichter fallen, alle Schüler gleichermaßen für mathematische Probleme zu interessieren und diese gemäß der mathematischen Kompetenz der Lernenden zu lösen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Vorbetrachtungen
2.1 Begriffsklärung
2.2 Paradoxien im gymnasialen Lehrplan Mathematik
2.3 Paradoxien in Schullehrbüchern
3. Empirische Analyse zur Bedeutung von Paradoxien im Unterricht
3.1 Ziel und Inhalt der Untersuchung
3.2 Präsentation der Ergebnisse und Diskussion
3.3 Resümee
4. Vorstellung ausgewählter stochastischer Paradoxien
4.1 Das Ziegenproblem
4.2 Das Ankunftsproblem
4.3 Geburtenverteilung und Bridge-Spiel-Paradoxa
4.4 Paradoxien mit Würfeln
4.5 (Un)Faire Spiele
5. Paradoxien im Unterricht - Eine didaktische Aufbereitung für verschiedene Klassenstufen
5.1 Prinzipien eines modernen Mathematikunterrichts
5.2 Vorschläge zur Einbindung in den Unterrichtsalltag
5.3 Zusammenfassung und Ausblick
6. Behandlung von Paradoxien im größeren Rahmen – Ein Projektentwurf
6.1 Die Projektmethode aus theoretischer Sicht
6.2 Ein Entwurf eines möglichen Projekts
7. Resümee und Perspektiven
8. Ausführliches Literaturverzeichnis und Anlagen
(darunter: Primärliteratur, weiterführende Sekundärliteratur, Erklärung des Verfassers, Original Fragebogen zu Abschnitt 3)
1. Einleitung
„Ein Mathematiker sagte“, so schrieb L.N. Tolstoi, „dass der Genuss nicht in der Entdeckung der Wahrheit, sondern in der Suche nach ihr besteht.“ (A.G. Konforowitsch, 1996, Seite 3: 2) Das trifft wohl auf nichts mehr zu als auf das die letzten Jahre dominierende und zu weit reichender Bekanntheit gelangte Ziegenproblem. Die Kontroversen über Sinn oder Unsinn der von der klügsten Frau der Welt vorgestellten Lösung dieses Problems ebben bis heute nicht ab. Frau Marylin vos Savant musste sich von vielen Wissenschaftlern und sogar betagten Mathematikern höchsten Rufes mit „Dummerchen“ oder „Spinnerin“ beschimpfen lassen. Dabei hatte die Frau mit dem höchsten jemals gemessenen IQ doch Recht.
Es ging um folgendes - hier sinngemäß von Gero von Randow wieder gegebenes - pikantes Problem: Man nimmt an einer Spielshow im Fernsehen teil, bei der man eine von drei verschlossenen Türen auswählen soll. Hinter einer Tür wartet ein großer Preis, ein Auto, hinter den anderen beiden stehen Ziegen. Man entscheidet sich für eine Tür, sagen wir Nummer eins. Diese bleibt allerdings vorerst geschlossen. Der Moderator weiß, hinter welcher Tür sich das Auto befindet, er öffnet daher zuerst eine andere Tür, zum Beispiel Nummer drei, und eine meckernde Ziege schaut ins Publikum. Nun fragt er, ob man bei Nummer eins bleiben oder lieber zu Nummer zwei wechseln möchte. (Gero von Randow, 1999, siehe Seite 6 ff.: 3)
Wie anfangs für die meisten schwer einsehbar, bleiben sich die Chancen für beide Türen nicht gleich, man sollte besser zu Tür zwei wechseln. Auf den mathematischen Hintergrund dieses „ersten Appetithäppchens“ wird in einem späteren Teil dieser wissenschaftlichen Arbeit ausführlich eingegangen.
Mit dem hier skizzierten Ziegenproblem befinden wir uns nunmehr bereits mitten im breiten Feld der stochastischen Paradoxien, das zum Schwerpunkt dieser Arbeit auserkoren wurde. Warum gerade dieses Gebiet? – Nun, in wohl keinem anderen Bereich der Mathematik gibt es so viele Fußangeln und Fallgruben wie in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Es sind ohne Zweifel mehr falsche Antworten auf Fragen der Wahrscheinlichkeitstheorie gedruckt worden als in jedem anderen Zweig der Mathematik. Selbst Fachleute haben sich gelegentlich in die Irre führen lassen. So argumentierte bereits der berühmte französische Mathematiker D`Alembert falsch, als er die Frage nach der Wahrscheinlichkeit dafür, mit einer idealen Münze bei insgesamt 2 Würfen mindestens einmal Kopf zu werfen, mit 2/3 beantwortete (Gábor J. Székely, 1990, siehe Seite 13: 4). Die Stochastik ist damit der vermeintlich trügerischste Bereich der Mathematik überhaupt, sie ist gespickt mit paradoxen Phänomenen, die im Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit zu Tage befördert, beackert und damit für das Unterrichten von Mathematik in sinnvoll anwendbare und gewinnbringende Form gebracht werden sollen.
Allerdings soll zuerst mit einigen Vorbetrachtungen begonnen werden, in denen wesentliche, benötigte Begriffe geklärt werden und eine Einordnung des Stellenwertes von Paradoxien im heutigen Mathematikunterricht versucht werden soll. Unterstützt wird dieser Versuch durch die Ergebnisse einer eigens entworfenen und durchgeführten empirischen Untersuchung, die den Gründen für die offensichtliche Diskrepanz zwischen Kosten und Nutzen des Einbringens von Paradoxien in den Mathematikunterricht auf den Grund gehen soll. Genau so viel Aufmerksamkeit richtet diese Arbeit im Anschluss auf die Vorstellung einiger zentraler stochastischer Paradoxien, deren mathematischer Hintergrund intensiv beleuchtet werden soll. Im Mittelpunkt steht bei diesen Betrachtungen die Frage, worin die Ursache für das eigentlich paradoxe zu sehen ist, warum es den meisten Menschen so leicht fällt, Trugschlüssen zu erliegen.
Das Hauptaugenmerk dieser wissenschaftlichen Arbeit liegt dann auf den eigen kreierten Vorschlägen zum Anwendbarmachen von paradoxen Phänomenen im Unterricht, im Entwurf einer Projektwoche zum Thema Paradoxien, bei der dann auch eine längere vertiefte Beschäftigung mit Paradoxien möglich ist. Diese Arbeit hat daher den Anspruch, sich daran messen zu lassen, ob sie für Gymnasiallehrer und zukünftige Lehramtsanwärter gleichermaßen einen hilfreichen Anstoß bietet, Paradoxien in ihrem eigenen Mathematikunterricht zur Anwendung zu bringen und was als noch viel wichtiger erachtet werden soll, ein Konzept zu bieten, wie eine lohnende Anwendung erfolgen kann. Auf dieser Grundlage soll es dann dem Lehrer leichter fallen, alle Schüler gleichermaßen für mathematische Probleme zu interessieren und diese Probleme auch gemäß der mathematischen Kompetenz der Lernenden zu lösen.
Zum Abschluss soll noch darauf hingewiesen werden, dass im Anhang ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis vorliegt. Viele der Bücher weisen das Thema Paradoxien leider nur bruchstückhaft auf, einige wenige sind dagegen viel detaillierter mit dem Thema umgegangen. Es steht jedem interessierten Leser deswegen offen, sich auf Grundlage des großen Literaturverzeichnisses ausführlicher mit der Thematik auseinander setzen zu können.
2.Vorbetrachtungen
2.1 Begriffsklärungen
Im jetzigen Gliederungspunkt sollen all jene zentralen Begriffe der Arbeit aufgegriffen und grundlegend erläutert werden, um im folgenden Hauptteil begrifflichen Missverständnissen vorzubeugen. Der zentrale Begriff dieser Arbeit ist zweifelsohne das Paradoxon. Darunter wird im Folgenden „ein Sachverhalt“ verstanden, „der der Erwartung zuwiderläuft“ (G. Vollmer, 1990, siehe Seite 49: 5).
Dieser aus der Etymologie abgeleitete Begriff besteht im Griechischen aus dem Wort παρά (pará, mit Akkusativ), was etwa dem deutschen Wort „entgegen“ gleichkommt und dem Wort δόξα (dóxa), was man mit „Meinung“ oder „Erwartung“ übersetzen kann. Damit heißt ab jetzt eine Aussage, die einen paradoxen Sachverhalt problematisiert, eine Paradoxie. Dass der menschliche Verstand eine besondere Tendenz aufweist, solche Probleme auflösen zu wollen, macht insbesondere den Reiz dieser Arbeit aus. An dieser Stelle ist es wichtig, anzumerken, dass die Auffassung des Begriffes Paradoxon dem Betrachter obliegt. Kann auf den Sechstklässler schon paradox wirken, dass die Multiplikation echter Brüche tatsächlich Produkte erzeugen kann, die kleiner als die beiden einzelnen Faktoren sind, was vorher nie auftrat, so stellt sich für begabte und mathematisch versierte Schüler, Lehrer oder Mathematikprofessoren die Welt der mathematischen Paradoxien als ganz klein dar, da sie mit ihrem reichen mathematischen Kenntnisfundus schnell den vermeintlichen Problemgehalt eines Paradoxons zu durchschauen und lösen imstande sind. Für den einen kann also ein Paradoxon eine richtige Kopfnuss darstellen, dem anderen ringt das Problem möglicherweise nur ein müdes Lächeln ab. Auch auf diese Schwierigkeit, den Unterricht so zu gestalten, dass man in einer leistungsheterogenen Klasse nicht wenige überrascht und viele langweilt, sondern alle Schüler versucht, individuell durch Fragestellungen variierenden Schwierigkeitsgrades und durch weiterführende Betrachtungen zu fördern, soll diese Arbeit in späteren Kapiteln Bezug nehmen.
Eng verwandt mit dem Begriff der Paradoxie ist eine Antinomie. Aus mathematischer Sicht versteht man darunter „eine bestimmte Klasse von Widersprüchen, bei denen sich sowohl These als auch Antithese gleich gut begründen lassen“ (G. Vollmer, 1990, siehe Seite 49: 5). Trifft man beim Lesen mathematischer Texte auf eine Antinomie, so kann man sich sicher sein, den vermeintlichen Denkfehler in den Voraussetzungen jener Aussage suchen zu müssen, da genau dort der Widerspruch begründet ist. Überraschend mag sein, dass Antinomien überall anzutreffen sind, bereits bei Wertungsversuchen oder Konventionen, und auch bei beschreibenden Sätzen trifft man auf sie. Ihren höchsten Stellenwert erlangen sie freilich dort, wo sie am wenigsten erwartet und daher auch am wenigsten erwünscht sind, in den Grundlagen einer Disziplin.
Festzuhalten bleibt für diese Arbeit, dass die oft im selben Kontext verwendeten beiden Begriffe Paradoxie und Antinomie einer strengen Trennung bedürfen. Paradox sollen also sich unerwartet als wahr herausstellende Sachverhalte heißen, als Antinomien Widersprüche gelten, deren beide Seiten gleich gute Begründungen zu haben scheinen. Historisch haben Paradoxa und Antinomien immer wieder die positive Rolle gespielt, auf verborgene logische Probleme hinzuweisen. Sie haben daher Mathematiker und Logiker dazu gezwungen, Fragestellungen zu überdenken und Theorien neu zu begründen.
Der besseren Unterscheidung und Vorstellung wegen, werden an dieser Stelle noch zwei Beispiele für Antinomien angeführt: So gelten die „Lügner - Antinomie“ („Dieser Satz ist falsch“ – aus: G. Vollmer, 1990: 5) oder auch das in zahlreicher Literatur aufgegriffene Barbierproblem, bei dem die Frage aufgeworfen wird, ob ein Barbier eines Dorfes, der alle rasiert, die sich nicht selbst rasieren, sich nun selbst rasiert oder nicht (u. a. in Franco Agostini, 2001, siehe Seite103f.: 6) als zwei der berühmtesten Antinomien. Beispiele für paradoxe Phänomene, insbesondere die stochastischen Vertreter, werden im nächsten Abschnitt ausreichend aufgegriffen, so dass daher zu diesem Zeitpunkt darauf verzichtet werden soll.
An dieser Stelle ist es aber notwendig, darauf hinzuweisen, dass im Allgemeinen Paradoxa ganz klar von anderen ähnlich lautenden Begriffen abzugrenzen sind: So ist unbedingt darauf zu achten, zwischen einem Trugschluss und einem Paradoxon klar zu unterscheiden. „Denn das letztere ist eine richtige – wenn auch überraschende – mathematische Aussage. Das erstere aber ist ein falsches Ergebnis, das man auf Grund scheinbar korrekter Überlegungen gewonnen hat“, beschreibt Székely in seinem Werk „Paradoxa“ (Gábor J. Székely, 1990, siehe Seite 9f.: 4) treffend.
2.2 Paradoxien im gymnasialen Lehrplan Mathematik
Im folgenden Abschnitt soll aufgezeigt werden, welche Rolle Paradoxien im gymnasialen Lehrplan des Landes Sachsen spielen. Als problematisch und spannend zugleich ist dabei die gegenwärtig stattfindende Umstrukturierung der Lehrpläne anzusehen. Von den alten gymnasialen Lehrplänen im Fach Mathematik in der Fassung vom 1.August 1992 (Sächsisches Staatsministerium für Kultus, 1992: 7) besitzen nur noch die Klassenstufen 8-12 ihre Gültigkeit und werden schrittweise von den neuen Lehrplänen in der Fassung von 2004 (Sächsisches Staatsministerium für Kultus, 2004: 8) bis zum Jahr 2009 verdrängt.
Die neuen überarbeiteten Lehrpläne unterscheiden sich von den alten in wesentlichen Grundzügen. Auch wenn sich das Grundgerüst des zu lehrenden Stoffes kaum verändert hat, so hat es doch erhebliche Verschiebungen in Behandlungsdauer, der Jahrgangsstufe der Behandlung und in diversen gestrichenen und neu hinzugefügten Themenbereichen gegeben, um dem Anspruch eines modernen, zeitgemäßen und praxis- sowie techniknahen Unterrichts Rechnung zu tragen. Der Lehrer bekommt nun deutlich mehr und vor allem präzisere Anreize, was er wie behandeln kann, auch wenn es in seiner Eigenverantwortlichkeit liegt, sich selbst neue Themenaspekte erst erarbeiten zu müssen. Problematisch sind beim Übergang vom alten zum neuen Lehrplan vor allem die Klassenstufen 6 und 7 zu sehen, da hier teilweise gemäß dem alten Lehrplan nicht behandelter Stoff der Klassenstufe 5 bzw. 6 als Grundlage für den Unterricht nach dem neuen Lehrplan vorausgesetzt wird.
Paradoxien haben im alten Lehrplan überhaupt keine Rolle gespielt, es findet keine namentliche Erwähnung des Begriffs Paradoxie oder eines ausgewählten Beispiels statt. Ganz im Gegenteil dazu der neue Lehrplan: Hier taucht zwar der Begriff „Paradoxie“ auch nicht auf, ist aber trotzdem an mehreren Stellen durch praktische Beispiele oder in den Zielstellungen für die einzelnen Klassenstufen präsent. Schon in den Zielen und Aufgaben des Faches Mathematik heißt es nämlich: „Insbesondere bei der Beurteilung von Lösungen, der kritischen Wertung von Modellen und Verfahren, der Begegnung von Mathematik im Alltag und dem Umgang mit zufälligen Ereignissen entwickeln Schüler ihr Weltbild weiter. Sie verstehen es, Lösungen und Lösungswege sowie Aussagen und Argumentationsketten kritisch zu hinterfragen“. (Sächsisches Staatsministerium für Kultus: Lehrplan Mathematik, Fassung von 2004, im Abschnitt „Ziele und Aufgaben des Faches Mathematik“: 8)
Damit wird ein erster Verweis auf das Reizvolle an Paradoxien deutlich: Man erwartet nicht, dass genau die Lösung eintrifft, sie sich mathematisch begründen lässt. Weiter heißt es in diesem Abschnitt auch: „Der Mathematikunterricht benötigt eine Aufgabenkultur, die sich neben den in angemessenem Umfang eingesetzten formalen Aufgaben insbesondere durch die Verwendung folgender Aufgaben auszeichnet: Sach- und anwendungsbezogene Aufgaben, problemorientierte Aufgaben und offene Aufgaben...“. Offene, nicht eindeutig lösbare Aufgaben, könnten z.B. Antinomien wie „Lügner – Antinomie“ oder „Barbier“ sein.
Noch deutlicher wird es z.B. in den Zielen des Lehrplans für die Klassenstufe 7: „Die Schüler gehen kritisch mit Prozentangaben in Veröffentlichungen um“. Fortsetzung findet dieses Ziel in den Zielen der Klassenstufe 9: „Die Schüler sind für die Wahrnehmung von Manipulationen in statistischen Veröffentlichungen sensibilisiert und prüfen Wahrheitswerte von Aussagen“. An diesen Stellen sind schöne Bezüge zu paradoxen Phänomenen sichtbar, vielleicht gerade im Bezug auf das Simpson-Paradoxon, falscher Schlüsse, die man aus Statistiken ziehen kann. Direkter Bezug zu Paradoxien wird im Wahlpflichtbereich 2 „Unterhaltsame Geometrie“ der Klassenstufe 6 genommen, wo das Zeichnen optischer Täuschungen eine Rolle spielt. Auch in Klassenstufe 9 wird im Lernbereich 4 „Auswerten von Daten“ direkt von einem Projekt zu statistischen Manipulationen gesprochen. Mit faszinierenden Paradoxien lässt sich freilich auch in Klasse 5 im Lernbereich 4 „Mathematik im Alltag“ beim Lesen von Statistiken oder beim „vernünftigen Umgang mit Näherungswerten und Größen“ im Teilbereich „Fahrpläne“ arbeiten. In diesem Teilbereich ist es sehr wohl möglich, zu klären, warum eine Versuchsperson von zwei Bussen deutlich öfter den einen benutzt, obwohl beide in dieselbe Richtung fahren und die Person zu immer wieder unterschiedlichen, vom Zufall bestimmten, beliebigen Zeitpunkten an der Haltestelle eintrifft. (Vorlesungsaufzeichnungen „Paradoxien im Mathematikunterricht“ im Sommersemester 2004: aufgeführt unter dem Namen „Ankunftsproblem“: 9) In Klasse 8 könnten im Lernbereich 2 „Zufallsversuche“ in den Bereichen „Stabilisierung der relativen Häufigkeit“ und „Durchführung von Realexperimenten“ paradoxe Zufallswege und eine erste einfache Betrachtung des „Ziegenproblems“ (nach Gero von Randow, 1999, Seite 6 ff.: 3) mathematische Überlegungen sinn- und reizvoll untermauern. Als schönes passendes Realexperiment kann an dieser Stelle auch die Paradoxie „Sternendeuteranekdote“ (Vorlesungsaufzeichnungen „Paradoxien im Mathematikunterricht“ im Sommersemester 2004: aufgeführt unter dem Namen „Sternendeuteranekdote“: 9) dienen, mit der die Schüler sich, selbständig probierend, dessen richtige Lösung erarbeiten könnten. In Klasse 10 kann im Lernbereich 2 „Diskrete Zufallsgrößen“ das Ziegenproblem wieder aufgegriffen werden, diesmal unter noch besserer Heranziehung neu erlangter mathematischer Fähigkeiten und damit besserer Veranschaulichung. Vielleicht kann so einem Schüler, der die richtige Lösung in Klasse 8 trotz aller Bemühungen nicht nachvollziehen konnte, jetzt geholfen werden. In der Sekundarstufe II ist der Lernbereich 1 „Differentialrechnung“ prädestiniert dafür, Grenzwerte und Untersuchungen des Verhaltens im Unendlichen durch das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte zu illustrieren. Und in Klasse 12 kann durch eine abermalige Behandlung des Ziegenproblems und eine Erklärung mit Hilfe des Satzes von Bayes auch der letzte Uneinsichtige von der richtigen Lösung überzeugt werden.
Besondere Hervorhebung verdient auch die Abschaffung des Verweises Z auf Zusatzstoff im alten Lehrplan, der durch die neu konzipierten Wahlpflichtbereiche abgelöst wird. Grundanliegen dieser Stoffgebiete ist es, dem Lehrer in von ihm selbst gewählten zum Lehrplanthema passenden Bereichen, die Möglichkeit zu geben, vertiefende Betrachtungen zu einem besonderen Aspekt der Mathematik anzustellen. Dabei sind von Seiten des Kultusministeriums Vorschläge entworfen worden, und trotzdem steht es jedem Lehrer frei, so das Grundanliegen des Konzeptes, eigene Themenvorschläge für die acht Unterrichtsstunden Wahlpflicht jeden Schuljahres zu unterbreiten. Begründet ein Lehrer z.B. in einem Antrag an den Schulleiter, dass er das Thema „Stochastische Paradoxien“ in einer 9. oder 10. Klasse im Wahlpflichtbereich behandeln möchte, weil er einen großen didaktischen Reiz darin sieht und jede Menge Material auf Grund eines eigenen großen Expertenwissens zu diesem Thema besitzt, dann wird dieser Antrag keine Ablehnung finden.
Es bieten sich also zahlreiche Potenzen im neuen Lehrplan Mathematik, Paradoxien mehr Gewicht im Unterrichtsalltag als zuvor einzuräumen. Und das scheint im heutigen oftmals trockenen und abstrakten Mathematikunterricht auch nötig. Zuviel praxisferne Aufgaben rufen bei den Schülern Fragen nach dem Sinn derartiger Betrachtungen auf, anstatt Interesse für Lösung und Gehalt einer mathematischen Aufgabe zu wecken. Deswegen bleibt es zwar nach wie vor jedem Lehrer freigestellt, wie er seinen Unterricht gestaltet und ob er auf paradoxe Phänomene zurückgreift. Doch die Grundstruktur des neuen Lehrplans bietet reichlich Anreiz dafür, die eigenen womöglich veralteten Unterrichtskonzepte zu überdenken und gegebenenfalls auch Paradoxien als exotischen und würzenden Zutaten im Sinne eines motivierenden, herausfordernden Unterrichts mehr Beachtung zu schenken.
2.3 Paradoxien in Schullehrbüchern
Bei genaueren Recherchen der heutigen Schullehrbuchlandschaft fällt auf, dass paradoxen Phänomenen nur unzureichend Rechnung getragen wird. In einer von mir durchgeführten Untersuchung von über 30 Schulbüchern verschiedener Verlage (u. a. Klett, Schroedel, Oldenbourg etc. – siehe Verzeichnis der Sekundärliteratur unter „Schullehrbücher“) für die Sekundarstufen I und II im deutschsprachigen Raum besaßen nur wenige eine eindeutige Affinität zu dieser Thematik.
Der eigentliche Begriff Paradoxie taucht dabei in kaum einem dieser analysierten Lehrbücher auf. Wenigstens greifen einige der Lehrbücher auf Aufgabenbeispiele aus dieser Thematik zurück. Bezeichnend dabei ist, dass in den Lehrbüchern, in denen paradoxe Phänomene aufgeführt werden, die Reichhaltigkeit und Verschiedenartigkeit dieser paradoxen Sachverhalte als sehr dürftig und kaum vorhanden eingestuft werden muss.
Kaum ein Lehrbuch erläutert ein mathematisches Paradoxon und klärt den vermeintlichen Widerspruch auf, oft wird einfach nur per Fußnote der Verfasser eines in einer Übungsaufgabe versteckten Paradoxons gewürdigt. So wird es auch dem innovativen Lehrer nicht leicht gemacht, sich selbst in den Sachverhalt einzuarbeiten und ihn in den Unterricht einzubauen, zumal selbst viele Lehrer arge Verständnisprobleme mit Paradoxien haben. Einen kurzen Überblick über die Ergebnisse der Lehrbuchanalyse bietet folgende Tabelle:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Man kann anhand der Tabellen schnell ersehen, dass die heute verwendeten Schullehrbücher das Verwenden und Nutzbarmachen von paradoxen Sachverhalten im Mathematikunterricht eher hemmen, als stärken.
Wenn nur jedes zweite Buch der Sekundarstufe II, dass das Thema Stochastik beinhaltet, zumindest eine Paradoxie beinhaltet, in der Sekundarstufe I gar nur jedes 5. Buch, dann ist es leicht zu erklären, dass das Thema Paradoxien im Mathematikunterricht gar nicht erst ins Bewusstsein der Mathematiklehrer rücken kann. Freilich liegt es auf der Hand, dass in höheren Klassenstufen das mathematische Rüstzeug der Lernenden bedeutend vielseitiger ist und sich mehr Ansatzpunkte zur Beleuchtung eines mathematischen Paradoxons bieten. Aber das darf kein Grund für Lehrbücher der Sekundarstufe I sein, dieses Thema gänzlich außen vor zu lassen, wo sich doch wie später noch in den Gliederungspunkten 4, 5 und 6 gezeigt wird, viele stochastische Paradoxien mit einfachen stochastischen Mitteln erklären lassen.
Besonders traurig mag aber auch anmuten, dass bei Lehrbüchern, die paradoxe Sachverhalte aufgreifen, kaum einmal der Begriff Paradoxie fällt und die thematische Abhandlung der Paradoxien nur auf Sparflamme läuft. Eingebaut in eine Übungsaufgabe finden sie zumeist nur oberflächlich Betrachtung und laden dazu ein, ganz übergangen zu werden. Nur ganz selten wird ein paradoxes Phänomen (zumeist das Geburtstagsproblem) näher beleuchtet und dessen mathematischer Hintergrund aufgeklärt. Ein Beispiel für solch eine kurze und wenig sinnvolle Abhandlung des eigentlich so facettenreichen Geburtstagsproblems findet sich im Lehrbuch „Stochastik – Grundkurs“ von August Schmid:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(August Schmid, 1991, siehe Seite 49: 10)
Auffällig und Mut machend ist aber der Trend, dass die Behandlung paradoxer Phänomene derzeit eine kleine Renaissance erfährt. Im Zuge der Forderung nach einer mehr herausfordernden und komplexeren Aufgabenkultur, die von Seiten des aktuell vorherrschenden konstruktivistischen Ansatzes in der allgemeinen Didaktik bewusst gefördert wird, finden in neueren und neuesten Lehrbüchern wieder mehr Paradoxien ein zu Hause.
Dieser Trend lässt sich bei genauer Betrachtung auch in meiner Lehrbuchstudie erkennen: Von den 16 Lehrbüchern, die Paradoxien beinhalten, sind 12 Lehrbücher seit 1990, nur vier davon vor 1990 erschienen. Dagegen sind von den 20 Lehrbüchern ohne ein einziges Paradoxon 9 vor 1990 erschienen, 11 in diesem Jahr oder danach. Das heißt, 12/16 (=75%) der Lehrbücher mit Paradoxien sind seit 1990 erschienen, bei den Lehrbüchern ohne Paradoxien sind nur 11/20 (=55%) nach oder im Jahr 1990 publiziert worden. Die Trendwende hin zu einer neuen mathematischen Aufgabenkultur, die nicht nur auf das Einbläuen von auswendig gelernten Lösungsstrategien zielt, wird auch durch die Ergebnisse von PISA 2000 und PISA 2003 begünstigt. Zunehmend übt auch die Politik Einfluss auf das Ziel einer neuen zukunftsorientierten modernen und stimulierenden Lehrtätigkeit aus. Reformen der bisher viel zu theoretischen Lehrerausbildung an den Universitäten werden ins Leben gerufen. Das kann auch der Thematik „Paradoxien im Mathematikunterricht“ nur gut tun. Dieser thematische Kontext wird später unter Punkt 5 noch genauer behandelt und intensiviert.
3. Empirische Analyse zur Bedeutung von Paradoxien im Unterricht
3.1 Ziel und Inhalt der Untersuchung
Die Voraussetzungen, die der Lehrplan zur freien Umsetzung des curricular vorgeschriebenen Wissens durch einen jeden Mathelehrer schafft, stehen oft in herber Diskrepanz zur Realität des tatsächlichen Vermittlungsprozesses. Um zu untersuchen, welche Rolle Paradoxien nicht nur in theoretischer Form des Lehrplans, sondern in praktischer Form des Unterrichtens spielen, sind einige Lehrer aus verschiedenen Bundesländern befragt worden, ob und in welchem Kontext paradoxe Phänomene in ihrem Unterricht Anwendung finden.
Dabei ist besonders darauf Wert gelegt worden, herauszufinden, wie Paradoxien in den Unterrichtsprozess eingeflochten werden, und ob die Parameter regionale Gesichtspunkte, Dauer der Berufserfahrung oder verwendetes Lehrbuch für den Gebrauch oder Nichtgebrauch im Unterricht eine Rolle spielen. Ein Exemplar des kompletten Fragebogens ist im Anhang zu finden. Der Fragebogen ist an modernen Methoden der Empirischen Sozialforschung orientiert, um möglichen Befragungsfehlern von vornherein vorzubeugen. Eng anlehnend an ein Forschungsprojekt über den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe II von Uwe-Peter Tietze aus dem Jahr 1986 (Uwe-Peter Tietze, 1986, siehe Seite 68ff.: 11) ist der entworfene Fragebogen konzipiert und mehrmals überarbeitet worden, um tatsächlich aussagekräftige und hilfreiche Aussagen der ausfüllenden Mathematiklehrer zu erhalten.
Trotzdem muss man sich schon vorher darüber im Klaren sein, dass aus dieser Analyse geringen Stichprobenumfangs kein Bild der Allgemeinheit erstellt werden kann, auch wenn es möglich sein wird, gewisse sich häufende Auffälligkeiten besser einordnen und für das Gesamtbild über Paradoxien heranziehen zu können. Festgehalten werden sollte an dieser Stelle auch, dass der Fragebogen zwar einen kurzen Einleitungstext zur Thematik beinhaltet, aber einigen Lehrenden der Bezug zum Begriff Paradoxie wohl fehlen wird. Deswegen ist einige Male bereits im Vorhinein eine Selektion getroffen worden, um tatsächlich nur diejenigen Lehrer zu befragen, die Paradoxien bzw. derer Beispiele kennen und diese auch wenigstens gelegentlich in ihrem Unterricht zur Anwendung bringen.
Mittels der im nun aufgeführten und ausgewerteten Ergebnisse soll deutlich werden, ob diese bereits vermutete Diskrepanz zwischen Kosten und Nutzen des Einbringens von Paradoxien in den Mathematikunterricht tatsächlich existiert, und es soll geklärt werden, woran das genau liegen kann.
3.2 Präsentation der Ergebnisse und Diskussion
Insgesamt sind im Rahmen der empirischen Untersuchung 13 Fragebögen beantwortet worden. Dabei handelt es sich um drei Fragebögen von Lehramtsanwärtern und zehn von praktizierenden Mathematiklehrern:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Geschlechterverhältnis der befragten Personen ist in etwa gleich, von den 10 Lehrern wurden 6 Frauen und 4 Männer befragt, bei den Lehramtsanwärtern zwei Männer und eine Frau.
Um sich von den Befragungsergebnissen ein besseres Bild machen zu können, sind die Ergebnisse der einzelnen Fragen im Folgenden tabellarisch aufbereitet worden. Als Hinweis sollte noch vorweggenommen werden, dass alle Befragten, die Frage 1 mit „nein“ beantwortet haben, gleich weiter zu Frage 4 springen sollten. Das ist der Grund dafür, dass Frage 2-3 nur jeweils neun Versuchspersonen beantwortet haben:
Frage 1: Greifen Sie auf den Einsatz von Paradoxien im Rahmen ihres Mathematikunterrichts zurück?
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Frage 2a: Welche Paradoxien verwenden Sie im Unterricht? In welchen Klassenstufen werden sie behandelt?
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Frage 2b: Wie genau werden die Paradoxien behandelt, d.h. wie genau ordnen sie sich in den Erkenntnisgang ein?
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Frage 3: Weshalb setzen Sie Paradoxien ein, worin liegt für Sie der didaktische Reiz?
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Frage 4: Welche Probleme sehen Sie beim Einbringen eines Paradoxons in den Unterricht? Was hält Ihrer Meinung nach andere Mathematiklehrer davon ab, Paradoxien in deren Unterricht einzusetzen?
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Frage 5: Denken Sie, dass Schullehrbücher der Mathematik paradoxen Phänomenen genügend Rechnung tragen?
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Frage 6: Welches Lehrbuch / welche Lehrbücher verwenden sie an ihrer Schule?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Frage 7: Nehmen Sie zu folgenden Behauptungen auf einer Skala von 1 (=vollkommen) über 3 (=teils - teils) bis 5 (=ganz und gar nicht) Stellung!
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Frage 8: Statistische Angaben (der 13 befragten Personen)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nimmt man die erfassten Ergebnisse genauer unter die Lupe, fällt auch schon bei diesem geringen Stichprobenumfang einiges auf: Paradoxien spielen im heutigen Unterrichtsgeschehen keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle. Zwar antworten bei Frage eins 9 der 13 Lehrer, dass sie gelegentlich mit Paradoxien arbeiten, aber wenn man bedenkt, dass bei der Vorauswahl der Probanden mindestens noch einmal genau so viele durchs Raster fielen, weil sie mit dem Begriff Paradoxie schon gar nichts anfangen konnten, erhärtet das die Substanz der These.
Interessant sind die Ergebnisse zu fachlichen Gesichtspunkten, die in den Fragen 2 und 3 nur an diejenigen Lehrer gestellt wurden, die wenigstens gelegentlich mit Paradoxien arbeiten. Es fällt auf, dass die Auswahl im Unterricht genutzter Paradoxien stark begrenzt ist. Auch wenn altbekannte Paradoxien wie der Wettlauf von Achilles mit der Schildkröte und das Geburtstags- oder Ziegenproblem mehrmals genannt werden, bleibt die Vielfalt der genannten paradoxen Phänomene weitgehend auf der Strecke. Gründe dafür sind wohl in Frage 5 zu finden, denn hier antworten acht der 13 Lehrer mit „nein“ auf die Frage, ob Schullehrbücher dem Thema Paradoxien genügend Widmung schenken. Bekommt man aber in Schullehrbüchern nicht die Möglichkeit geboten, sich selbst (von Paradoxien) inspirieren zu lassen, schaffen es die wenigsten Lehrer, sich noch selbst außerhalb ihres Schulalltags in Eigeninitiative Unterrichtsanregungen einzuholen. Zu eng gesteckt ist dann die zeitliche Verfügbarkeit eines Lehrertages, zu viel Desinteresse für die Erarbeitung zusätzlicher Unterrichtsinhalte vorhanden, wie die Antworten bei Frage 4 eindrucksvoll belegen.
Führt man sich die Ergebnisse von Frage 2b vor Augen, ist auffällig, dass der Einsatz von Paradoxien im Unterricht zum einen sehr offen, zum anderen aber auch sehr eingeschränkt handhabbar ist. Die wenigsten Probanden legen sich bei der Beantwortung dieser Frage genau fest, die meisten geben an, dass sich der Einsatz von Paradoxien an vielen Stelle anbiete und lohne, ohne detailliert auf die Frage nach dem „Wie“ einzugehen. Daher wird es in den Kapiteln 5 und 6 dieser Arbeit eine spannende und reizvolle Aufgabe sein, genau diesen Aspekt, das Einbinden von Paradoxien in einen realen Unterrichtsprozess, zu vertiefen.
Meistens scheinen paradoxe Sachverhalte als Motivation und Zielorientierung eine große Rolle zu spielen. Aber die Lehrer denken auch weiter, wie die Antworten bei Frage 3 zeigen. So gehe es auch um das Überschreiten von Denkgrenzen, um unerwartete Ergebnisse und um den Spaß, wenn Teile der Klasse aufgrund des „Aha-Erlebnisses“ für den ersten Moment (und womöglich noch viel länger) verwirrt sind. Das zeigt, dass die Probanden sich sehr wohl der Lernpotenzen von Paradoxien bewusst sind.
Um die wesentlichen Gründe zu erkunden, warum Paradoxien in der schulischen Alltagswelt die bereits erwähnte untergeordnete Rolle einnehmen, lohnt es sich die Antworten von Frage 4 näher zu beleuchten. So geben hier 69% der Befragten an, dass es zeitlich, aufgrund von verbindlichen Verpflichtungen des Lehrplans, nicht möglich sei, paradoxe Phänomene in den Unterricht einzubringen, während nur 38% den triftigsten Grund, nämlich Verständnisprobleme bei den Schülern, aufführen. Ein ebenso wichtiger Faktor für das Ergebnis scheint auch zu sein, dass 23% so mutig sind, zuzugeben, sich selbst überfordert fühlen, Paradoxien zu verstehen, geschweige denn selbst den Lernenden im Laufe eines Unterrichtsprozesses erklären zu müssen. Aber auch das mangelnde Wissen über paradoxe Sachverhalte, wegen des verschwindend geringen Auftretens von paradoxen Sachverhalten in Lehrbüchern und Arbeitsheften, wird angeführt, was gut nachvollziehbar scheint.
Die Art der von den Probanden an deren Schulanstalt verwendeten Lehrbücher ist relativ ähnlich, ein Großteil nutzt die Lehrbuchreihe „Elemente der Mathematik“ von Schroedel, fast genau so viele den Lambacher - Schweizer, der vor allem in Sachsen in Grund- und Leistungskurses verwendet wird. Trotzdem fällt auch hier auf, dass z.B. kein einziger Proband das Buch „Stochastik Leistungskurs“ des Ehrenwirth - Verlages nutzt, das paradoxen Phänomenen von allen Lehrbüchern noch die größte Aufmerksamkeit schenkt. Vielleicht ändert sich das Bild in naher Zukunft, wenn viele Verlage die Überarbeitung ihrer Lehrmaterialien wegen der in Sachsen eingeführten neuen Lehrpläne abgeschlossen haben. Dann könnte ein Hindernis für die Behandlung von Paradoxien im Mathematikunterricht – dass Lehrbücher diesem Thema zu wenig Raum und Inhalt bieten – wegfallen.
In der 7. Frage sollten dann zusammenfassend die Lehrer zu einzelnen Behauptungen Stellung nehmen, die die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchteten. Dabei haben die meisten Probanden keine echte Meinung dazu, ob Paradoxien für den Mathematikunterricht unentbehrlich sind, nur 4 der 13 Befragten sehen das so. Zumindest geben bei der zweiten Behauptung 6 Probanden zu, selbst zumindest teilweise Verständnisschwierigkeiten bei verschiedenen Paradoxien zu besitzen. Die Dunkelziffer wird wohl allerdings noch um einiges höher liegen, was ja aber nicht peinlich, sondern nur menschlich ist und sogar einen der Hauptgründe für den didaktischen Reiz von Paradoxien ausmacht. Die Probanden sind sich dagegen relativ einig darüber, dass die Bedeutung an paradoxen Phänomenen in letzter Zeit nicht zugenommen hat, auch wenn eine Mehrheit es als lohnend und wichtig ansieht, Lernende für solche Sachverhalte zu begeistern. Dass Paradoxien im Allgemeinen zu wenig Bedeutung im Mathematikunterricht besitzen, sehen die dreizehn Befragten nicht so.
Bedenkt man, dass mehr als die Hälfte der Befragten mehr als zehn Jahre Berufserfahrung hat, ist es fragwürdig, warum die Meinungen bei der letzten Frage, ob vor allem leistungsschwächere Schüler durch Paradoxien motiviert werden, so auseinander gehen. Vier Probanden sehen das so, fünf andere nicht und noch einmal vier andere sind geteilter Meinung. In Gesprächen mit den Lehrern gaben viele zu bekennen, dass ihrer Meinung nach besonders leistungsschwächere Schüler demotiviert würden, weil sie zumeist, wie auch im sonstigen Mathematikunterricht, die meisten Probleme hätten, das Paradoxon zu verstehen und aufgrund dieser offensichtlichen Lernschwellen deprimiert seien. Manche Lehrer scheinen dies aber doch anders gesehen zu haben, wie die große Varianz der Antworten zeigt.
3.3 Resümee
Wie bereits angekündigt, kann die empirische Untersuchung nicht stellvertretend für die Mehrheit der Lehrerschaft herangezogen werden, dafür war der Stichprobenumfang viel zu klein, die Breite der Auswahl zu begrenzt. Und doch lassen sich einige Tendenzen festhalten:
1. Die Befragten haben zumeist keine oder wenig Affinität mit mathematischen Paradoxien, sehen dies aber nicht als problematisch an, auch wenn sie deren Verwendung im Unterricht reizvoll finden.
2. Die Probanden sehen vor allem Zeitmangel, Verständnisprobleme bei sich und den Lernenden, aber auch eigene dürftige Kenntnisse über mathematische Paradoxien als Gründe dafür an, warum Paradoxien so wenig Beachtung im Schulalltag finden.
3. Schullehrbücher tragen aus der Sicht der Probanden auch zu wenig dazu bei, den didaktischen Reiz von Paradoxien durch zur Verfügung stellen von geeignetem Material zu erhöhen.
4. Es bleibt weitgehend offen, wie genau Paradoxien im Unterricht Anwendung finden, zu selten werden sie im Unterricht genutzt. Als Motivation und Zielorientierung, indem sie einfach in den Raum gestellt, oder als Hausaufgabe aufgegeben werden, werden sie oft auch abgekoppelt vom eigentlichen Lernprozess stiefmütterlich in den Unterricht eingebaut.
5. Das Desinteresse des Lehrers an neuen Unterrichtsinnovationen und die weitgehende Unkenntnis im Umgang mit Paradoxien stehen für einen angespannten und gestressten Lehrertypus, den Weiter- und Fortbildungen zur Verbesserung der eigenen didaktischen Expertise nur noch mehr unter Druck setzen. Die 37-jährige Mathematiklehrerin Frau Kohlstedt vom Gymnasium Dresden – Cotta bringt es auf den Punkt: „Im Zuge der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt herrscht einzig das Prinzip Leistung vor, es ist keine Zeit mehr nach rechts und links zu schauen, um sich von irgendwas inspirieren zu lassen.“
4. Vorstellung ausgewählter stochastischer Paradoxien
Wie bereits angeführt, besitzt die Stochastik einen wunderbaren Reichtum an paradoxen Phänomenen, da vor allem Glücksspiele und Verteilungsprobleme jede Menge an faszinierenden Fragen aufwerfen. Deswegen muss an dieser Stelle eine Vorauswahl getroffen werden, um nicht quantitative Aspekte auf Kosten einer möglichst intensiven qualitativen Betrachtung zu bevorzugen.
Die Paradoxien sind daher auf Inhalt, Lernhaltigkeit und Aktualität untersucht und anschließend entsprechend dieser Kriterien selektiert worden. So können auch ähnliche Paradoxien gleichen Hintergrundes einer bestimmten Thematik zugeordnet werden, wie das unter den Gliederungspunkten 4.2 bis 4.5 versucht wurde. Die Paradoxien werden wissenschaftlich fundiert erläutert, im nachfolgenden Punkt 5 erfolgt dann eine didaktische Einordnung in den Mathematikunterricht und eine dem Verstehenshorizont der Schüler angepasste Deutung und Begründung.
4.1 Das Ziegenproblem
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Seit 1991 steht das Ziegenproblem (unter anderem Namen auch als „3-Türen-Problem“ bezeichnet) als Inbegriff für zünftigen mathematischen Streit. Ganze Bücher wurden ihm schon gewidmet (siehe Gero von Randow, 1999: 3), und doch sollen bis in die heutige Zeit hinein auch letzte Zweifler noch nicht von der richtigen und mittlerweile auch mathematisch einsichtigen Lösung zu überzeugen sein. Das Problem hat sich zu einem Klassiker entwickelt, seitdem Frau Marylin vos Savant, die Frau mit dem höchsten jemals gemessenen Intelligenzquotienten, ihre Lösung des Problems präsentierte und dafür nur Schmährufe aus allen Teilen der Gesellschaft erntete. Das Problem, um das es ging, stellt sich wie folgt dar:
„Ein Kandidat nimmt an einer Spielshow im Fernsehen teil, bei der er eine von drei verschlossenen Türen auswählen soll. Hinter einer Tür wartet ein Preis, hinter den beiden anderen eine Ziege. Er entscheidet sich nun für eine Tür, sagen wir Nummer eins. Sie bleibt vorerst geschlossen. Der Moderator weiß, hinter welcher Tür sich der Preis befindet und öffnet zuerst eine andere Tür, zum Beispiel Nummer drei, und eine meckernde Ziege schaut ins Publikum. Er fragt nun den Kandidaten, ob er bei seiner Tür bleiben oder lieber wechseln möchte?“ (nach Benno Grabinger, 1997, siehe Seite 32: 12) Frau Marylin vos Savant antwortete damals, es sei günstig zu wechseln und zog dadurch die bereits erwähnte geballte Entrüstung der Gesellschaft auf sich.
Kein Wunder, schließlich argumentiert jeder vernünftige Mensch folgendermaßen: Nachdem der Moderator eine der 3 Türen geöffnet hat, hinter der sich der Preis nicht befindet, muss der Preis hinter einer der beiden noch verschlossenen Türen versteckt sein. Ob ich nun wechsele oder nicht, bleibt sich gleich, da ein Preis hinter zwei möglichen Türen jeweils einer fifty-fifty-Chance gleichkommt.
Diese Argumentation birgt allerdings einen Fehler, denn man hat nicht beachtet, dass der Moderator bereits vorher informiert war, hinter welcher Tür sich der Preis befindet und damit nicht per Zufall, sondern wissentlich eine Tür geöffnet hat, hinter der sich garantiert kein Preis befindet. Wir zeichnen uns zur Lösung des Problems ein Baumdiagramm:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(aus: Benno Grabinger, 1997, siehe Seite 32: 12)
Mit Hilfe der beiden Pfadregeln lässt sich das Problem nun leicht lösen. Wir dürfen ohne Einschränkungen annehmen, dass der Kandidat Tür 1 auswählt. Falls dies nicht der Fall sein sollte, lassen sich die Türen umnummerieren. Es werden nun die Ereignisse A1, A2, A3 und M2 und M3 betrachtet. Dabei sollen A1, A2 bzw. A3 bedeuten, dass der Hauptpreis, ein Auto, hinter Tür 1, 2 bzw. 3 steht. M2 und M3 stehen dafür, dass der Moderator der Spielshow die Tür mit der entsprechenden Zahl öffnet. Damit wird leicht einsichtig, dass bei der Wahl von Tür 1 des Kandidaten der Moderator im Fall A2 und im Fall A3 nur noch eine Möglichkeit hat, eine Tür zu öffnen. – Das heißt, die Wahl des Moderators für die erste von ihm zu öffnende Tür, hinter der eine Ziege steht, ist nun keine mehr, er muss eine der beiden Türen wählen, da der Kandidat mit der gewählten Tür 1 ja die andere Ziegentür in den beiden Fällen A2 und A3 blockiert (siehe Baumdiagramm). Mittels der beiden Pfadregeln, Pfadmultiplikationsregel und Pfadadditionsregel, ergibt sich nun als Wahrscheinlichkeit für das Ereignis „Erfolg durch Türwechsel“:
[...]
- Arbeit zitieren
- Matthias Dietz (Autor:in), 2005, Stochastische Paradoxien und ihre Bedeutung für das Unterrichten von Mathematik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42433
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