In den Kapiteln sieben bis neun des zehnten Buches der Nikomachischen Ethik stellt Aristoteles zwei Lebensweisen vor, welche beide Glückseligkeit (eudaimonia) beinhalten sollen. Zum einen spricht er von der theoretischen Lebensweise, dem bios theôretikos und zum anderen von einer politischen Lebensweise, dem bios politikos. Aristoteles wägt beide Lebensformen gegeneinander ab und kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass der theoretischen Lebensform ein höherer Grad an Glückseligkeit zukommt, als der politischen Lebensform. Hinter diesem Ergebnis steht nun Aristoteles' Bild von der menschlichen Seele, deren Teile hierarchisch angeordnet sind und an deren Spitze die Vernunft (nous) steht. Diese Vernunft ist nach Aristoteles der "göttliche Teil" im Menschen und kommt in ihrer Eigentümlichkeit hauptsächlich in der theoretischen Lebensform zum Tragen.
In in der vorliegenden Arbeit soll zunächst der psychologische Hintergrund der Bestimmung der beiden Lebensformen näher hinterleuchtet werden. Dabei soll auch kurz auf die hierarchische Anordnung der Seelenteile und areté eingegangen werden. Vor diesem Hintergrund sollen dann die beiden Lebensformen dargestellt werden, wobei deutlich werden soll, dass diese verschiedene Stufen der Glückseligkeit einnehmen. Im Anschluss sollen Kritikpunkte und offene Fragen bezüglich des Abschnitts Buch X Kapitel 7-9 der Nikomachischen Ethik gestellt werden.
Inhaltsübersicht
I. Einleitung
II. Der psychologische Hintergrund der Bestimmung der beiden Lebensweisen
a. Aristoteles’ Bild von der Seele
b. Die Vernunft (nous) und ihre Eigentümlichkeit
c. Hierarchie der Seelenteile und areté
III. Die theoretische Lebensform (bios theôretikos)
a. Die vollendete Glückseligkeit
b. Vertreter der theoretischen Lebensform
IV. Die politische Lebensform (bios politikos)
a. Die zweite Stufe der Glückseligkeit
b. Vertreter der politischen Lebensform
V. Kritikpunkte und Fragen
VI. Literaturübersicht
Anhang
Skizze 1: Aristoteles Bild der Seele
Skizze 2: Inhaltsübersicht der Kapitel NE Buch X, Kapitel 7-9
I. Einleitung
In den Kapiteln sieben bis neun des zehnten Buches der Nikomachischen Ethik stellt Aristoteles zwei Lebensweisen vor, welche beide Glückseligkeit (eudaimonia) beinhalten sollen. Zum einen spricht er von der theoretischen Lebensweise, dem bios theôretikos und zum anderen von einer politischen Lebensweise, dem bios politikos. Aristoteles wägt beide Lebensformen gegeneinander ab und kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass der theoretischen Lebensform ein höherer Grad an Glückseligkeit zukommt, als der politischen Lebensform. Hinter diesem Ergebnis steht nun Aristoteles’ Bild von der menschlichen Seele, deren Teile hierarchisch angeordnet sind und an deren Spitze die Vernunft (nous) steht. Diese Vernunft ist nach Aristoteles der „göttliche Teil“ im Menschen und kommt in ihrer Eigentümlichkeit hauptsächlich in der theoretischen Lebensform zum Tragen.
Im folgenden soll zunächst der psychologische Hintergrund der Bestimmung der beiden Lebensformen näher hinterleuchtet werden. Dabei soll auch kurz auf die hierarchische Anordnung der Seelenteile und areté eingegangen werden. Vor diesem Hintergrund sollen dann die beiden Lebensformen dargestellt werden, wobei deutlich werden soll, dass diese verschiedene Stufen der Glückseligkeit einnehmen. Im Anschluss sollen Kritikpunkte und offene Fragen bezüglich des Abschnitts Buch X Kapitel 7-9 der Nikomachischen Ethik gestellt werden.
II. Der psychologische Hintergrund der Bestimmung der beiden Lebensweisen
Als kurze Zusammenfassung der Bestimmung der beiden Lebensweisen lässt sich sagen: Die theoretische Lebensweise wird vorrangig der dianoetischen areté (aretê dianoêtikê) der theoretischen Vernunft gewidmet. Die dianoetischen areté, die hier gemeint sind, sind die Wissenschaftliche Erkenntnis (episteme) und auf ranghöherer Ebene die Weisheit (sophia). Die Hauptbeschäftigung der theoretischen Lebensweise ist das Denken (theôria). In dieser Tätigkeit wird der Mensch der Eigentümlichkeit seiner Vernunft (nous), als „göttlichen Teil“ seiner Seele und eigentlichem Spezifikum des Menschen, am meisten gerecht. Die politische Lebensweise wird vorrangig gemäß der areté der Klugheit (phronesis) und der ethischen areté (aretê êthikê) geführt. Die Haupttätigkeit der politischen Lebensweise besteht im politischen Handeln.
a) Aristoteles’ Bild von der Seele
Aristoteles vertritt eine[1] hylemorphistische Auffassung von Seele und Körper.[2] Dabei sind Körper und Seele als zwei verschiedene Entitäten zu begreifen, welche jedoch wiederum, als Wesen der Lebewesen, eine untrennbare Einheit bilden. Mit dieser Auffassung ist der Hylemorphismus als eigenständige wissenschaftliche Richtung neben Dualismus einerseits und Materialismus andererseits anzusiedeln.[3]
Im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik spricht Aristoteles von verschiedenen „Teilen“ der Seele. Diese lassen sich jedoch, vor dem Hintergrund der hylemorphistischen Auffassung, nicht als materielle Teile, sondern vielleicht eher als verschiedene „Funktionen“ verstehen. Die Seele besteht nun aus einem rationalen Teil, d.h. der Vernunft, und einem irrationalen Teil. Der rationale Teil ist der Sitz der dianoetischen areté. Er ist den verschiedenen Erkenntnisobjekten entsprechend unterteilt in einen wissenden Teil - der theoretischen Vernunft - und einen überlegend-folgernden Teil - der praktischen Vernunft.[4] Die Erkenntnisobjekte der theoretischen Vernunft sind die Objekte der theoretischen Wissenschaften, wie vor allem der Mathematik, Physik und Theologie.[5] Hier kann zunächst die areté der Wissenschaftlichen Erkenntnis und im fortgeschrittenen Stadion die der Weisheit entstehen. Diese areté sind als Anlage oder Potentialität vorhanden und der Mensch kann sie im Laufe seines Lebens durch Belehrung einerseits und aktive Übung andererseits in sich zur Aktualität bringen. Die Erkenntnisobjekte des überlegend-folgernden Teils, d.h. der praktischen Vernunft, sind hauptsächlich die menschlichen Handlungen. Hier kann durch Belehrung und Erfahrung die Klugheit aktualisiert werden. Der irrationale Teil besteht nach Aristoteles aus einem vegetativen Vermögen und einem sinnlich-begehrenden Vermögen. Das vegetative Vermögen steht unverbunden mit dem Vernunftteil. Aus dem sinnlich-begehrenden Teil gehen die Willensbestrebungen und Affekte hervor. Da dieser sinnlich-begehrende Teil mit dem überlegend-folgernden Teil der anderen, rationalen Seelenhälfte in Verbindung steht, können an dieser Schnittstelle die jeweiligen Anlagen der zwei Seelenteile wechselseitig befruchtet werden: Auf der einen Seite kann, wie schon erwähnt, die areté der Klugheit entstehen und auf der anderen Seite die sittlich-guten Handlungen und schließlich die ethischen areté (à die beigefügte Skizze soll anhand der Zackenlinie zeigen, dass Klugheit und ethische areté durch wechselseitige Bedingung mit der Zeit entstehen können).
b) Die Vernunft (nous) und ihre Eigentümlichkeit
Die Vernunft (nous) ist das Erkenntnisorgan des Menschen, sozusagen das „Auge der Seele“. Mit der Vernunft ist der Mensch befähigt auf jedem Wissensgebiet, dem praktischem wie theoretisch-wissenschaftlichem, die Gründe und Prinzipien, bzw. die Wahrheit, zu erfassen.[6] Sie ist dementsprechend auch unterteilt in theoretische und praktische Vernunft. Die eigentümliche Tätigkeit der Vernunft ist das Denken, die theôria. Dieses Denken kann nun in theoretischer Hinsicht die areté der Wissenschaftlichen Erkenntnis und letztlich der Weisheit annehmen und in praktischer Hinsicht die areté der Klugheit und des Weiteren auch des praktischen Könnens (techne/poiesis).
Aristoteles versteht unter der Vernunft aber noch weit mehr. Im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik erklärt er die Vernunft als „das Göttliche“ im Menschen, da sie in ihrer eigentümlichen Tätigkeit der theôria den Göttern gleich ist. Durch die Vernunft steht der Mensch den Göttern von allen anderen Lebewesen am nächsten und er hat mit ihnen die Tätigkeit des Denkens gemeinsam.[7] Aristoteles bestimmt die Vernunft weiter als das „wahre Selbst“ des Menschen.[8] Sie ist nämlich das, was dem Menschen von Natur aus eigentümlich ist und ihn von den Pflanzen und Tieren unterscheidet.
c) Hierarchie der Seelenteile und areté
Aristoteles betrachtet die verschiedenen Seelenteile und areté hierarchisch geordnet. Von den Seelenteilen steht die Vernunft an oberster Stelle, da sie, wie gesagt, dem Menschen eigentümlich ist und „das Göttliche“ im Menschen ist. Der Hierarchie der Seelenteile entsprechend stehen auch die Lebewesen auf verschiedenen Stufen:
[...]
[1] Siehe Skizze 1 im Anhang.
[2] Vgl. Rapp, Christof, Aristoteles zur Einführung, Hamburg 2001, S. 174 ff.
[3] Vgl. Shields, Christopher, Some Recent Approaches to Aristotele’s De Anima, in: Aristoteles, De Anima Books II and III (with Passages from Book I), translated with introduction and notes by D.W. Hamlyn, with a report on recent work and a revised bibliography by Christopher Shields, Oxford 1993, S. 157 ff.
[4] Die Unterteilung in theoretische und praktische Vernunft erfolgt in: Aristoteles, Nikomachische Ethik, auf der Grundlage d. Übers. von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, 4. durchges. Aufl., Hamburg 1985, VI 2, 1139a 27f.
[5] Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Neubearbeitung und Übersetzung von Hermann Bonitz, mit Einl. u. Kommentar hrsg. von H. Seidel, griech. Text in d. Ed. von Wilhelm Christ, Hamburg 1995, VI 1, 1026a 19.
[6] Vgl. NE, VI 6, 1141a 4 f.
[7] Vgl. NE, X 8, 1178b 22 f.
[8] Vgl. NE, X 7, 1178a 2.
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- Anna Sophia Claas (Autor:in), 2003, Die theoretische und die politische Lebensform nach Aristoteles (Nikomachische Ethik, Buch X, Kapitel 7-9), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42419
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