Bei dieser Arbeit handelt es sich um die Zusammenfassung von sehr heterogenen Studien mit eigenen Schlussfolgerungen. Abgesehen von dem uneinheitlichen Studienmaterial, ist die Entwicklung von Kindern von Eltern mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis von genau soviel Faktoren abhängig, wie die Entwicklung von Kindern mit nicht erkrankten Eltern. Das heißt, daß die Anzahl der Variablen so groß ist, daß nur durch viele Langzeitstudien, die miteinander vergleichbar sind, allgemeine Aussagen über diese Gruppe gemacht werden können. In Bezug auf die schizophrenen Erkrankungen sind folgende Faktoren mitbestimmend: das Alter der Kinder bei Ersterkrankung, die Dauer der Krankheit, die Ausprägung, d.h. die Art des Wahns und die Häufigkeit der Akutphasen, die Art der Behandlung der Eltern (Medikamententherapie, Hospitalisierung, Einbeziehung des sozialen Umfelds inklusive der Kinder und die Rolle des nicht erkrankten Elternteils und des sozialen Umfeldes.
Für die Zusammenfassung dieser Arbeit ordne ich die Hauptaspekte, die in den verschiedenen Studien genannt wurden, in der Reihenfolge ihres zeitlichen Auftretens in der Entwicklung der Kinder. Das wesentliche Ergebnis für diese Diplomarbeit ist die Erkenntnis, daß das zentrale Problem der Kinder die Zuordnung der Gefühle zum eigenen Selbst und zum erkrankten Elternteil ist. Dieser Vorgang bildet eine Art von Grundmuster für die Probleme in den verschiedenen Lebensphasen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Einordnung des Begriffs der „psychischen Krankheit“ / „Schizophrenie“ unter gesellschaftlichen und subjektiven Aspekten
1.2 Eigene Einschätzung von Normalität und Abweichung:
2. Definition von den Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis Theorien zur Diagnostik des Wahns
2.1. Theoretische Ansätze für die Diplomarbeit
3. Bindungstheorie
3.1. Bindungstypen
3.2 Bindungsrepräsentanzen bei Kindern
3.3 Bindungstheorie und Psychoanalyse
4. Affekttheorie
5. Zusammenfassung der Studien
5.1 Häufigkeit schizophrener Erkrankungen, Erkrankungsrisiko der Kinder schizophrener Eltern in Bezug auf Schizophrenie
5.2 Häufigkeit der psychischen Störungen/Auffälligkeiten
5.3 Evaluierte psychische Störungen
5.4 Zusammenfassung und Vergleich der Interpretationen: Quantitative Aspekte
5.5 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse: Qualitative Aspekte
6. Zentrale Probleme der Kinder schizophrener Eltern und Mechanismen der Beziehung
7. Therapieansätze und Erreichbarkeit der Kinder
8. Zusammenfassung, Fazit und Ausblick
Fazit und Ausblick
Literaturliste
1. Einleitung
Die Motivation für diese Diplomarbeit ergab sich aus dem Kontakt mit Kindern von Eltern mit einer schizophrenen Erkrankung während meines Halbjahrespraktikums im Zentralen Psychologischen Dienst in der Kinderklinik des Zentralkrankenhauses X[1].
Diese Motivation birgt aber in sich schon die Gefahr für einen systematischen Fehler. Da ich als persönliches Erlebnis Kinder gesehen hatte, die ihr psychisches verbunden mit einem physischen Leiden sogar in ein Krankenhaus geführt hatte, besteht das Risiko der Vorannahme, alle Kinder von Eltern mit genannter Störung entwickelten Psychopathologien.
Bei der Literaturrecherche für das Thema bin ich oft an dieses Vorurteil erinnert worden, weil sich die meisten Studien mit Kindern befassen, die schon in irgendeiner Weise psychische Störungen entwickelt haben, oder sie werden als sog. "High-Risk“-Kinder in den dazugehörigen Studien stigmatisiert.
Ich werde versuchen, die psychologische Entwicklung der Kinder von chronisch schizophrenen Eltern zu beschreiben. Dabei geht es mir nicht so sehr um Risiko- oder Schutzfaktoren in Bezug auf die Entwicklung eines Leidens, sondern mehr um den Mechanismus, die Vorgänge, die sich bei der Beziehung zwischen Kind und Eltern abspielen. Dabei verwende ich zwei entwicklungspsychologische Theorien, die am wichtigsten für die Erklärung der Probleme der Kinder zu sein scheinen:
a) die Bindungstheorie
b) die Affekttheorie
Um der Reziprozität der Beziehung zwischen Eltern und Kind aber gerecht zu werden, ist die Einbeziehung einer Theorie der inneren Welt des psychotischen Elternteils unbedingt notwendig.
Dieser Teil entlehnt sich weitgehend aus neueren psychoanalytischen Sichtweisen über Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis. Außerdem fließen noch Teile von psychoanalytischer Entwicklungspsychologie ein (v.a. Objektbeziehungstheorie).
Im Hauptteil werde ich die Probleme der Kinder, die mit psychotischen Eltern aufwachsen zunächst zusammentragen und die nach meiner Meinung zentralen Punkte dann unter den oben genannten Gesichtspunkten analysieren.
1.1 Einordnung des Begriffs der „psychischen Krankheit“ / „Schizophrenie“ unter gesellschaftlichen und subjektiven Aspekten
In der Einleitung zu diesem Thema ist es mir wichtig, eine kurze Einführung über die Begriffe von Normalität und Abweichung zu geben. Dabei ist es aber nicht meine Absicht die gesamte Diskussion von Psychiatrie versus Anti-Psychiatrie umfassend darzustellen.
Vereinfacht dargestellt stehen sich in dieser Diskussion zwei Lager gegenüber.
Auf der einen Seite stehen die Vertreter einer bürgerlichen, medizinisch-psychiatrischen, normativen Auffassung. Seit Kraepelin und K. Schneider wurde versucht, eine Objektivierung und Klassifizierung von abnormen Verhalten und Erleben zu erzielen. Dieser Versuch war und ist von großem Erfolg gekrönt, da Klassifikationssysteme wie der ICD sich auf der ganzen Welt als die Darstellung einheitlicher allgemeingültiger Krankheitseinheiten durchgesetzt haben. Die Anwendung dieses Systems obliegt aber allein professionell geschulten Psychologen oder Medizinern, wobei es bestimmte Bereiche von Erscheinungsbildern, wie z. B. auch die Schizophrenie, gibt, die nur von Medizinern diagnostiziert werden dürfen.
Der Sinn dieser Klassifizierung besteht in der Einteilung der Gesellschaft in „krank“ und „gesund“ oder auch in „arbeitsfähig“ und „nicht arbeitsfähig.“
Der zuletzt genannte Punkt ist vor allem vor dem ökonomischen Hintergrund zu sehen. In der modernen Industriegesellschaft besteht das primäre Ziel in der Nutzung menschlicher Arbeitskraft.
Um die Menschen wieder der Erwerbsarbeit zuzuführen, müssen Krankheiten (somit auch psychische Leiden) erkannt, klassifiziert und nach Möglichkeit geheilt werden.
Auf der anderen Seite stehen die Vertreter eines kritischen, soziologischen, anti-psychiatrischen Standpunktes.
Das Hauptaugenmerk liegt hier auf der Entstehung und/oder der Bewertung des „Andersseins“.
Diese Punkte weisen der Gesellschaft, in der die „verrückten“ Menschen leben, eine Mitschuld, wenn nicht sogar die ausschließliche Schuld der Probleme der Menschen zu.
Es wird von diesen Vertretern eine normative Einteilung in „gesund“ und „verrückt“ strikt abgelehnt. Zu nennen sind hier Autoren wie Foulcaut, Adorno, Horkheimer, Elias, Marcuse und viele mehr.
Wenn man aktuelle Literatur zu dem Thema ansieht, dann findet man oft die Auffassung, daß es die einheitlich Norm in unserer modernen, individualisierten, flexibilisierten Gesellschaft gar nicht mehr gibt.
Dietmar Schulte teilt in seinem Aufsatz in dem Buch von Davison / Neale (1998) die allgemeine Norm in folgende Subgruppen ein: statistische Norm, Idealnorm, Sozialnorm, subjektive Norm, funktionale Norm. Andere Autoren wie z.B. v. Kardorff (in: Grubitzsch /Weber 1998) meinen, daß sich die Norm nur auf die jeweilige Subkultur beziehe, in der man sich gerade bewege und daß auch mehrere Normen bei einer Person nebeneinander existieren könnten.
1.2 Eigene Einschätzung von Normalität und Abweichung:
Als ich anfing die Diplomarbeit zu schreiben, war der 11. September noch nicht lange her und in Afghanistan wurden Bomben vom reichsten Land der Welt auf das ärmste Land der Welt geworfen, damit der Terrorismus aufhören sollte. Diese Vorgänge gehören auch zu der „normalen“ Welt, bzw. zu der Welt, wie sie sich uns im Moment präsentiert. Oder auch präsentiert wird. Wenn durch die Medien vermittelt wird, der Krieg sei ein legitimes Mittel, dann wird dies auch sehr wenig in Frage gestellt oder wenn es in Frage gestellt wird, dann ohne Auswirkungen auf die Strukturen, die solche „Normalitäten“ schaffen.
Das bedeutet für mich, daß die Herrschafts-und Machtstrukturen immer auch einen Teil von Normalität konstruieren. Unter diesen Aspekten sehe ich auch das Konstrukt der „psychischen Krankheit“, das nur unter diesen historisch gewachsenen Machtverhältnissen in der jetzigen Form entstehen konnte. Anders ausgedrückt: Die sozialen Normen, die die historisch jeweils geltenden Standards von Normalität konstituieren, sind Relationsbegriffe, die in Bezug auf die religiös oder sakulär begründeten Wertordnungen Unterscheidungen treffen.
Auf der anderen Seite sehe ich aber auch die Notwendigkeit und die Verpflichtung der Gesellschaft, Menschen zu helfen, die unter Problemen leiden, seien diese seelischer, körperlicher oder sozialer Natur.
Im Falle der von mir gewählten psychischen Störung fällt mir ein Erkennen des Leidens der Menschen unabhängig von der Gesellschaftsform nicht schwer:
Die Störung erschwert oder verhindert die Kommunikation, den Kontakt und die Beziehung zu anderen Menschen. Wie weiter unten noch angeführt wird, haben Säuglingsforscher, Bindungsforscher und Vertreter der modernen Psychoanalyse erkannt, daß der Wunsch nach Nähe, Geborgenheit, Zugehörigkeit, emotionaler Gemeinsamkeit und Intimität als primäre Motivationssysteme des Säuglings wirken.
Wenn nun diese Bereiche maßgeblich gestört sind, bleiben die Menschen, die davon betroffen sind, allein. Sie sind sogar in doppelter Hinsicht von anderen Menschen isoliert. Auf der einen Seite gelingt es ihnen nicht, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen. Sie sind durch ihr Leiden nicht einmal in der Lage sich anderen Menschen verständlich zu machen. In der Literatur die ich gesichtet habe (u.a.Fünfgeld 1993, Stassen 1986), wird deutlich, daß die expressive Sprache und die Sprachverarbeitung von der elementaren Ebene bis hin zum Symbolcharakter der Sprache beeinträchtigt ist. Dazu kommen noch Phänomene wie die Störung des inhaltlichen Denkens, Affektstörungen, usw.
Die andere Art der Isolation findet durch die Gesellschaft statt. Auf der einen Seite tragen oben genannte Phänomene sicher dazu bei, daß die „normalen Menschen“ Angst vor den „schizophrenen Menschen“ bekommen. Auf der anderen Seite trägt die Institution „geschlossene Psychiatrie“ dazu bei, daß solche Menschen gar nicht mehr der alltäglichen Welt zugeordnet werden können, sondern nur noch als Menschen gesehen werden, vor denen sich die Gesellschaft schützen muß.
Die Statistiken weisen aber aus, daß schizophrene Personen nicht mehr Gewalttaten begehen als die „Normalbevölkerung“.
In diesem Sinne sehe ich idealisiert die Hilfe für die schizophrenen Menschen als Aufgabe der Psychologen und Psychiater. Daß die Hilfe nicht bei der Therapie für die Patienten selbst enden sollte, ist u. a. ein Thema dieser Arbeit.
2. Definition von den Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis
Schizophrenie bedeutet übersetzt „Spaltung des Geistes“ ; dieser Begriff wurde das erste Mal von dem Züricher Psychiater E. Bleuler (1857-1939) 1908 als angemessenere Bezeichnung für die von E. Kraepelin (1854 -1925) „Dementia praecox“ („vorzeitiger Altersschwachsinn“) genannte Gruppe psychischer Störungen vorgeschlagen und eingeführt.
Die Wissenschaft der Psychiatrie versuchte in dieser Zeit sich an die somatische Medizin anzunähern, der es durch eine naturwissenschaftliche Umorientierung gelungen war, große Erfolge in der Klassifizierung bestimmter klinischer Bilder zu erzielen. Dabei war die Vorstellung, daß den seelischen Krankheiten gleichfalls einzelne definierbare Körperkrankheiten zugrunde lägen bei den Forschern der Fachrichtung Psychiatrie eine Selbstverständlichkeit.
Als wichtigstes Maß für die Häufigkeit schizophrener Störungen gilt heute die Anzahl neuer Psychosefälle pro Jahr bezogen auf die jeweilige Population. Die Inzidenzrate wird altersspezifisch ermittelt und ergibt nach der Addition für die Zeit von der Geburt bis zum 80. Lebensjahr das sog. Lebenszeitrisiko oder Morbiditätsrisiko. In Gesellschaften westeuropäischen Typs muß danach 1% der Bevölkerung damit rechnen, mindestens ein Mal im Leben wegen einer Psychose in Behandlung zu kommen.
Das Ersterkrankungsalter liegt bei Männern zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr bei Frauen zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr, deutlich geringfügiger nach dem 40. noch seltener nach dem 60. Lebensjahr.
Die Zweiteilung des gesamten Symptombestandes entsprang zuerst einem klinisch-praktischen Interesse.
In dem Buch von Machleidt (1999) findet sich eine Grafik, die anschaulich die ursprünglichen z.T. heute noch gängigen Klassifikationen von E. Bleuler und K. Schneider abbildet. Die Tabelle folgt auf der nächsten Seite.
Tabelle 1: Symptomatologie der Schizophrenie (entnommen aus Machleidt 1999, S. 310)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In dieser Abbildung sind alle Symptome der Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis genannt. Ich werde deshalb im folgenden Teil nicht näher auf diese eingehen.
Auch die Aufzählung der verschiedenen Arten von Wahnvorstellungen werde ich nicht vornehmen.
Bei dem Studium der Literatur zum Thema „Schizophrenie“ gibt es in der Regel nur ein verbindendes Element: die Multiätiologie der Schizophrenie.
Auch in den einzelnen Richtungen der akademischen und klinischen Psychologie (z.B. Psychoanalyse) herrscht durchaus kein Konsens über die Entstehung der Krankheit. Schlimmer noch: Es besteht nicht einmal ein Konsens über die Klassifikation. Während medizinische Forscher versuchen, anhand der Phänomenologie die Schizophrenie in viele verschiedene Unterformen aufzuteilen, geht Machleidt (1999) so weit, daß er den Ursprung der Störung von schizophrener und affektiver Psychose als denselben deklariert.
Den kleinsten gemeinsamen Nenner bildet die Einteilung im ICD-10, in der unter F 20-F 25 diese Störung einheitlich weltweit diagnostiziert werden soll.
Für die vorliegende Arbeit ist die Klassifikation der Schizophrenie in verschiedene Unterformen nicht notwendig oder sinnvoll. Abgesehen davon, daß ich diese Unterteilung in immer kleinere Subtypen als Abwehrvorgang von seiten der Wissenschaftler sehe, mit dem der Unordnung der Schizophrenie mit einer festen Struktur Form gegeben werden soll, ist für mich in erster Linie die Phänomenologie der Erkrankung relevant.
Aus diesem Grund fasse ich alle Störungen, die unter Begriffen wie „Psychose“, „Schizophrenie“, „Schizotypie“, usw. in der Literatur vorkommen, unter dem Begriff des „schizophrenen Formenkreises“ zusammen. In der neueren Literatur wird dieser Ausdruck auch als Überbegriff häufig benutzt. Allerdings werde ich wegen des Ausdrucksstils nicht jedesmal exakt diesen Ausdruck benutzen, sondern auch synonyme Ausdrücke verwenden, wie z.B. Schizophrenie, schizophrene Störung, usw.
Wichtig ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen affektiver und schizophrener Psychose. Kutter/Müller unterscheiden in ihrem Artikel in dem Buch von Loch (1998) in folgendem Sinne: Zwar werden bei beiden Erkrankungen durch regressive und introjektiv-projektive Mechanismen neuartige Selbst-Objekt-Einheiten aus vorher fragmentierten und gespaltenen Repräsentanzen gebildet, der grundlegende Unterschied besteht aber darin, daß bei den affektiven Psychosen die Grenzen zwischen den intrapsychischen Systemen erhalten bleiben und die Affekte selbst nicht zerfallen, so daß die totale Identifizierung zwischen Selbst-und Objekt-Repräsentanzen innerhalb noch bestehender Systeme stattfindet.
Dazu scheinbar im Gegensatz steht Machleidt mit seiner Definition von Schizophrenie:
Machleidt argumentiert, daß die affektiven Anteile in psychischen Vorgängen bei den schizophrenen Patienten nicht abgespalten, sondern vielmehr in den Kognitionen absorbiert sind. Sie sind seinen Forschungen nach im EEG nachweisbar, aber dem Patienten nicht zugänglich. Durch die Anwesenheit des Affekts werden auch die Kognitionen beeinflußt.
Dieser Widerspruch besteht meiner Meinung nach aber nur in der unterschiedlichen Bezeichnung.
Wenn die Affekte bei Machleidt absorbiert sind, dann sind sie für die Person nicht mehr erlebbar. Dies dürfte in dem Ausdruck der „Abspaltung“ eine relative Entsprechung finden.
Eine Übersicht der Definitionen gibt Mentzos in dem Buch von Schwarz und Maier (2001) Mentzos geht von dem Begriff des „Wahns“ als zentralem Symptom der schizophrenen Psychose aus. In diesem Zusammenhang entwirft er ein Schaubild, welches anhand von vier Kategorien, angeordnet in einem zweidimensionalen Koordinatensystem, die unterschiedlichen Positionen innerhalb der akademischen Psychologie und der akademischen Psychiatrie zueinander in Relation bringt. In der von mir durchgearbeiteten Literatur ist dieses Modell das einzige, was versucht einen Überblick und ein Verhältnis der mannigfaltigen Theorien über schizophrene Psychosen darzustellen.
Bei Mentzos repräsentiert die senkrechte Achse des Koordinatensystems die Dimension, welche die Pathogenese des Wahns betrifft und sich zwischen zwei entgegengesetzten Auffassungen bewegt. Die erste Auffassung geht von einer zentralen Bedeutung einer intrapsychischen Gegensätzlichkeit aus, die von Mentzos als „Dilemma“ bezeichnet wird. Nach eigenen Angaben wählt er diesen Ausdruck, um ihn von dem Wort „Konflikt“ als der reiferen Form der Gegensätzlichkeit abzugrenzen und damit auch von den Neurosen.
Die zweite pathogenetische Annahme geht dagegen von einem primären Defekt aus, der sowohl biologischer als auch psychosozialer Natur sein kann.
Die horizontale Achse repräsentiert die zweite Dimension und bewegt sich zwischen den Positionen, daß der Wahn aus einer kognitiven Dysfunktion/einer mangelnden Realitätsprüfung besteht und der Auffassung, daß der Wahn der Bestandteil eines aktiven, pathologischen Abwehr- und Kompensationsversuch ist, unabhängig davon, ob es sich um einen Konflikt oder einen Defekt handelt.
Abbildung 1:
Theorien zur Diagnostik des Wahns
(entnommen aus: Schwarz/Maier, 2001)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Freud:
In der topographischen Theorie (1915) definiert Freud die schizophrenen Psychosen mit Prozessen der Libido. In zwei Abwehrvorgängen werden als erstes die Objektrepräsentanzen ins Unbewußte verdrängt, wobei die jeweiligen Besetzungen verloren gehen.
Dadurch regredieren schizophrene Psychosen auf Fixierungen im Stadium des primären Narzißmus. Die narzißtische Libido dient im zweiten Abwehrschritt, der von Freud als Restitution bezeichnet wird, zur Symptombildung.
Bei der Entwicklung der Narzißmustheorie (1911) erklärt Freud den paranoiden Wahn durch die Abwehr narzißtisch-homosexueller Wünsche.
In der Strukturtheorie (1924, 1940) begründet er die Schizophrenie mit Konflikten zwischen „Ich“ und Außenwelt, die nur durch „ Schöpfung einer neuen Realität “ gelöst werden können. Diese Lösung wird mit einem „ Riß im Ich “ bezahlt und führt zur Errichtung eines omnipotenten „ Staates im Staat “.
Trotz der Entwicklung der Theorie bleibt Freud in Bezug auf die Therapie dem libidotheoretischen Ansatz treu. Er vertritt eine eher pessimistische Auffassung der Heilungschancen, da sich bei den Patienten nach dieser Auffassung keine Übertragungsreaktionen einstellen können
Klein und ihre Schule: Als Ursache für die Identitätsstörung des Ichs und der Symptombildung wird die nicht integrierte Aggression bei der kindlichen introjektiven und projektiven Identifizierung angesehen. Dabei liegt ein besonderer Fokus für die Verursachung der pathologischen Persönlichkeitsstruktur auf dem Abwehrmechanismus der Spaltung.
Kohut, Federn, Hartmann (Ich-Psychologie): Die Psychologen die in der Ich-Psychologie zusammengefaßt werden, haben im Laufe der Zeit verschiedene Erklärungsansätze auf struktureller Ebene entwickelt. Genannt seien hier stellvertretend Federns Konzept flexibler Ich-Grenzen und wechselnder Ich-Zustände (1956), die Theorie von der mangelnden Neutralisierung der libidinösen und aggressiven Energien von Hartmann (1972) oder die Vorstellung von Bion über psychotische und nicht psychotische Persönlichkeitssektoren.
In der Selbst-und Narzißmustheorie wird davon ausgegangen, daß ein Zusammentreffen genetischer Faktoren und einem Versagen der Primärobjekte den Betroffenen einen Aufbau eines kohärenten Kern-Selbst und stabiler idealisierter Selbstobjekte unmöglich macht. Die archaischen Größenphantasien, sowie die Fixierung auf überbewertete, narzißtisch besetze Objekte sind nicht in die Persönlichkeit integrierbar (Kohut 1979).
Benedetti (interpersonelle Schule): versteht schizophrene Psychosen als Reaktion auf existentielle Grundkonflikte zwischen symbiotischem Abhängigkeitsbedürfnis einerseits und heftiger Feinseligkeit, Omnipotenz und Seperationswünschen andererseits.
Kernberg: Es finden sich bei der Psychose keine getrennten Teil-Selbst- und Teil-Objekt-Vorstellungen, die zu „nur guten“ und „nur bösen“ Einheiten zusammengefaßt sind, wie bei den Borderline-Störungen.
Jaspers /Bleuler: s.o.
Mentzos: Versuch einer Integration des Ansatzes von Ich-und Selbst-Psychologie, sowie der Miteinbeziehung der Säuglingsforschung. Danach liegt der schizophrene Grundkonflikt in der Bipolarität zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen mit der Folge des Rückzugs oder der Fusion mit dem Objekt. Beide Versuche führen zu einer Auflösung der Ich-Grenzen.
2.1. Theoretische Ansätze für die Diplomarbeit
Im folgenden Abschnitt werde ich drei Ansätze über das Wesen der Schizophrenie darstellen, die ich als Arbeitsgrundlage für die vorliegende Arbeit deklariere.
Zum einen ist das die Theorie von P. Kutter und Th. Müller, dargelegt in dem Buch von Loch (1998) ab S.227.
Als wichtigstes Merkmal der psychotischen Persönlichkeitsstruktur wird von den beiden Autoren die fehlende Internalisierung der Realität der Trennung zwischen Selbst und Objekten genannt (einschließlich der Geschlechtsdifferenz, der Generationendifferenz, der Grenze zwischen innerer und äußerer Realität, der Anerkennung von Schuld, Abhängigkeit und zugleich Unabhängigkeit vom Objekt). Ebensowenig kommt es zu einer Trennung von Körper-Selbst und psychischen Selbst.
Wenn ein prädisponiertes Selbst die Wahrnehmung der Realität der Trennung zwischen Selbst und Objekten nicht länger ausreichend verleugnen kann, führt das zu
1. Haß und Neid:
Haß und Neid sind primäre und sekundäre aggressive Impulse und Affekte; ein pathologischer Verarbeitungsversuch träumerischer Erfahrungen, Entbehrung aufgrund der Abwesenheit eines guten Objekts und der daraus resultierenden fehlenden Beziehungserfahrung durch ein destruktives Objekt, eine defensiv-protektive Abwehrbewegung gegen die Individuation und Seperation verhindernden Wunsch, mit dem guten Objekt zu verschmelzen. Neid verhindert somit psychisches Wachstum.
2. Einer intensiven narzißtischen Bedrohung:
Diese hat die Qualität einer katastrophischen Angst vor der Vernichtung des Selbst.
Trennungsangst, Vergeltungsangst, Angst vor unkontrollierten Trieb-Affektausbrüchen und Angst vor überwältigenden Depressionen tragen zur Entwicklung der Vernichtungsangst bei.
In Situationen, in denen sich die Trennung von Selbst und Objekten nicht mehr aufrecht erhalten läßt(auslösende Situation), bedroht diese das neurotische und präpsychotische Abwehrsystem. Die Situation kann für Außenstehende relativ unspezifisch sein, aber für den Menschen eine bestimmte Bedeutung haben.
Vor der psychotischen Dekompensation versuchen die Betreffenden durch eine Verstärkung der neurotischen bzw. präpsychotischen Abwehr den Verlust des Selbst durch Rückzug, Wechsel des Arbeitsplatzes, Wohnorts, Partners, Suchen von sozialen Nischen zu verhindern.
Scheitern diese Anstrengungen durch Gegebenheiten zwischenmenschlicher Beziehungen oder inneren Widersprüchen folgt der zweite Abwehrschritt des präpsychotischen Syndroms.
Vermeidung regressiver Zustände (Schlafen, Ruhe, etc.), somatoforme Symptomatik, gesteigerte Unruhe, diffuse Ängste, die eine Art Rückzugsraum für diese Menschen darstellen. Mißlingt auch dieser Bewältigungsversuch kommt es zur psychotischen Dekompensation.
Der psychotische Patient versucht die innere und äußere Wahrnehmung von der Realität der Trennung von Selbst und Objekt durch verschiedene Abwehrmechanismen zu zerstören.
Dabei werden von den Autoren zwei Gruppen von Abwehrmechanismen unterschieden.
a) Alpha-Funktionen: Fixierungsstellen, Verwerfung, Konfundierung
Zersplitterung der psychischen Repräsentanzen sowie der Apparate und Strukturen, welche diese Wahrnehmungen perzeptieren und apperzeptieren.
Diese Abwehrmechanismen führen zu einer völligen Desintegration des psychischen Organismus. Klinisch imponieren totale Verwirrungszustände.
b) Beta- Elemente: innere und äußere Wahrnehmungen bestehen als Dinge ohne Bedeutung und ohne jeden Bezug.
Als nächster Schritt gegen diesen Zustand folgen weitere Abwehrmechanismen.
Introjektive und projektive Identifikation, affektive Entladung, psychotische Identifikation, Verleugnung, Verdichtung,Verschiebung, Verschmelzung, Spaltung.
Diese Mechanismen dienen zum Aufbau einer inneren omnipotenten Welt, in der die Getrenntheit von Selbst und Objekten sowie depressive Position und ödipaler Triade verleugnet wird und die Paradoxie der gleichzeitigen Verschmelzung und der Trennung von den Objekten ermöglicht wird.
Der gesamte Vorgang endet in der Entwicklung einer psychotischen Persönlichkeitsorganisation, die geprägt ist durch neue, privat-psychotische Strukturen und Realitäten, durch die Entstehung von verschmolzener Teil-Selbst- und Teil-Objekt-Einheiten, die mit unterschiedlichsten Affekten besetzt sind.
Durch die Verschmelzung/Introjektion von „nur guten“ Objekt-Repräsentanzen und Selbst - Repräsentanzen wird die Vorstellung einer ausschließlich positiven (guten) Selbst-Objekt-Einheit hergestellt.
Der umgekehrte Vorgang vollzieht sich in der projektiven Identifizierung/Spaltung . „Nur böse“ Teil-Selbst-Anteile werden mit nur negativen Teil- Objekt-Anteilen verschmolzen und so entstehen „nur böse“ Selbst-Objekt-Einheiten.
In der Organisation der Persönlichkeitsstrukur sind diese Einheiten teilweise mit unterschiedlichen Affekten getrennt und stehen auch z.T. in konflikthafter Beziehung zueinander: Böse Stimmen vs. gute Stimmen, Körperanteile, Objekte, Beziehungen.
Es finden sich innerhalb der psychotischen Persönlichkeitsorganisation keine getrennten Selbst- und Objekt-Vorstellungen wie bei den Neurosen, keine getrennten Teil-Selbst- und Teil-Objekt-Vorstellungen, die zu „nur guten“ und „nur bösen“ Einheiten zusammengefaßt sind, wie bei den Borderline-Störungen (Kernberg 1978) und auch keine getrennte wertvolle und entwertete Selbst- und Objekt-Anteile wie im Falle der narzißtischen Störung (Kohut 1973).
Der Schutz, den die Patienten vor der Vernichtungsangst und den Verwirrungszuständen durch die protektiv-defensiven Verarbeitungen erlangen, bewirken gleichzeitig einen strukturellen Verlust der Realitätsprüfung und führen phänomenologisch zu Paradoxien.
Die psychotisch omnipotente Position muß ständig gegen die Konfrontation mit der Realität verteidigt werden.
Diese Arbeit wird in Form immer neuer Abwehrmechanismen geleistet und ist auf der einen Seite von Widersprüchen und auf der anderen Seite von der Undurchdringlichkeit geprägt.
Weitere Abwehrschritte bestehen darin, daß die Patienten nicht nur ihre inneren und äußeren Objekte, sondern auch ihr Selbst mit diesen verschmolzenen Objekten vermischen, woraus wiederum neuartige regressiv vermischte Selbst-Objekt-Einheiten entstehen, die introjiziert, projiziert, verdichtet und verschoben werden können. Außerdem wechseln die Betroffenen nicht nur zwischen nicht-psychotischen und psychotischen Anteilen, sondern auch zwischen verschiedenen psychotischen Persönlichkeitsanteilen („syndrom shift“ Kutter/Müller 1999 S.63).
Der zweite Ansatz von Theorien über Schizophrenie stammt von Mentzos aus dem Buch von Schwarz/Maier (2001) ab S. 24. Dieser Ansatz beschäftigt sich mit den Wahnbildungen als zentralem Thema der Schizophrenie.
Diese resultiert nach seiner Meinung aus der Veränderung der Selbst-Objekt- und Weltrepräsentanz, die einer Entlastung und Stärkung des Selbst entspricht und somit als Abwehr- und Kompensationsmechanismus wirksam wird. Durch die Konkretisierung und Externalisierung von inneren Spannungen wird das Selbst bis zu einem gewissen Maß konsolidiert. Ursachen dieser inneren Spannungen sieht Mentzos in starken innerpsychischen Dilemmata oder auch in Traumata, in anderen starke psychische Belastungen oder physiologische Belastungen (z.B. einer hirnorganischen Erkrankung). Bei dem psychotischen Wahn spielt für den Autor auch noch eine Rolle, daß bei stark gesteigerter Angst (Konflikt) vermehrt Noradrenalin ausgeschüttet wird, was zu einer Verminderung der Aktivierung alternativer Assoziationen und in Folge dessen zu einer rigiden Fokussierung auf eine einmal aufgetauchte Vorstellung führt.
Mentzos führt aus, daß wenn man von einer erbgenetischen Bereitschaft zu einer solchen Reaktion ausgehe, wäre der Wahn auch als psychosomatisches Geschehen zu verstehen. Die Abwehr- bzw. Kompensationsmechanismen verfestigen dann solche Muster.
Durch diese Kompensationsmechanismen werden aber auf der anderen Seite die Realitätsprüfung und die soziale Anpassung weitgehend für den Erhalt /“das Überleben“ der psychischen Existenz aufgegeben.
Wichtig erscheint mir hier der Ansatz von Mentzos, die Phänomene der Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung nicht nur als Störung, sondern als Bewältigungsversuch zu beurteilen.
Der dritte Ansatz stammt von Machleidt (1999), von dem Teile schon weiter oben mit eingeflossen sind. Er sieht die Schizophrenie als eine affektive Erkrankung mit kognitivem Erscheinungsbild an und unterscheidet nur typologisch und nicht prinzipiell zwischen der affektiven und der schizophrenen Psychose. Er geht in seiner Theorie davon aus, daß es in der psychischen Struktur des Menschen so etwas wie Elementaraffekte, die nicht weiter in andere Affekte aufteilbar sind, gibt. Bei der Schizophrenie sind das für ihn der schizoide Angstaffekt, der Hunger-Interesse-Affekt und der Aggressionsaffekt. Die Störung setzt sich also triadisch zusammen, wobei der Autor ein Übergewicht beim Angstaffekt sieht. Die triadische Affektstruktur trägt seiner Meinung nach zu der Symptomvielfalt dieser Krankheit bei.
Wichtig für meine Arbeit ist die Sichtweise, daß Machleidt von einer spezifischen Struktur der Affekte bei schizophrenen Menschen ausgeht.
3. Bindungstheorie
Der Begriff der „Bindung“ und die dazu gehörige Theorie stammt von dem 1907 geborenen englischen Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby.
Während seines Medizinstudiums wurde er auch gleichzeitig in der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft von Joan Riviere – einer Weggefährtin Melanie Kleins – ausgebildet. Schon vor seiner Zeit des Medizinstudiums kam er in Kontakt mit entwicklungspsychologischen Theorien und arbeitete auch schon in Kinderheimen bzw. Kinderkliniken. Während seiner Anstellung bei der London Child Guidance Clinic entwickelte sich eine vorher schon vorhandene Auffassung immer deutlicher. Für Bowlby beschäftigte sich die Psychoanalyse zu sehr mit den kindlichen Phantasien. Dieser Widerspruch trat in der von M. Klein geprägten Psychoanalyse Englands besonders deutlich zu Tage. Er selber war aber viel mehr daran interessiert, den Einfluß von frühen Familienerfahrungen auf die Entwicklung der Kinder zu untersuchen.
Er wollte Erklärungsmodelle für die klinischen Beobachtungen, bei denen Kinder auf die Trennung von den Eltern mit Angst, Verzweiflung, Depression und emotionalem Rückzug reagieren.
Bowlbys erste offizielle Darstellung seiner Theorie erfolgte 1957 in drei Vorträgen vor der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft mit dem Titel : „The nature of the child’s tie to his mother“. Diese Vorträge enthielten im Kern schon das, was später weiter in der Bindungstheorie entwickelt wurde.
Die Bildung einer engen emotionalen Beziehung zu einem Objekt als universelles, primäres menschliches Bedürfnis. Die Bindung ist eine spezifische Art sozialer Beziehung, die am Anfang des Lebens durch die affektive Verbindung zwischen Säugling und primärer Bezugsperson hergestellt wird. Bindung wird als Resultat eines Verhaltenssystems aufgefaßt, eines zusammenhängenden Musters von Verhaltensweisen und Emotionen, das dem Zweck der Herstellung von Nähe und Geborgenheit dient. In Situationen, in denen die Erreichbarkeit der Bezugsperson nicht mehr gewährleistet ist oder eine Gefahrensituation durchlebt wird, schaltet sich das System ein, um die Nähe wieder herzustellen bzw. das Sicherheitsgefühl wieder zu erreichen.
Nach Wiedererlangen des homöostatischen Zustandes, kommen auch die anderen Regulierungssysteme wieder zur Geltung und der Säugling/das Kind kann andere Aktivitäten ausführen.
Bowlbys Theorie postuliert weiterhin, daß die frühen dyadischen Bindungserfahrungen im Laufe der Entwicklung verinnerlicht werden.
Die inneren Repräsentanzen all dieser Erfahrungen, die Bindungsqualität konstituieren bezeichnet er als „inner working models“ (innere Arbeitsmodelle), die als ein Organisationsmuster der Vorstellungen über sich selbst, von Bindungspersonen und der Beziehung zu diesen dienen.
Die ausführliche Darstellung dieser Theorie erfolgte lange nach diesen Vorträgen in der Trilogie „Attachment and loss, Vol. 1 : Atttachment“ (1969), „Attachment and loss, Vol. 2 : Seperation (1973) und „Attachment and loss, Vol. 3 : Loss, sadness and depression“ (1980).
Die Vortragsreihe wurde von den Psychoanalytikern dieser Zeit sehr negativ aufgenommen und die Akzeptanz der Theorien Bowlbys innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft stellte sich auch erst innerhalb der letzten Jahre ein.
Lotte Köhler verweist in ihrem Artikel in dem Buch „Bindungstheorie“ (Spangler/Zimmermann, 1997) darauf, daß die psychoanalytische Triebtheorie und die darauf basierende Metapsychologie durch diese Überlegungen in Frage gestellt wurden.
Bowlby argumentierte innerhalb seinen Thesen über die Entwicklung von Kindern, ohne sich auf den dynamischen, topischen oder den ökonomischen Gesichtspunkt zu beziehen.
Den Psychoanalytikern war diese Herangehensweise zu deskriptiv. Sie warfen Bowlby vor sich auf Verhaltensbeobachtungen zu beschränken und somit den Boden der psychoanalytischen Theorie zu verlassen.
Auf der anderen Seite stand die unterschiedliche Informationsgewinnung von psychoanalytischer Entwicklungspsychologie und die Arbeiten von Mary Ainsworth.
Von ihr stammen die Überlegungen und die Durchführung eines standardisierten Settings für die Erforschung von kindlichem Verhalten.
Schon in ihrer Dissertationsarbeit hatte sich Mary Salter (später Ainsworth) mit der Entwicklung von Vertrauen und Sicherheit bei Kindern gegenüber ihren Eltern als Grundlage für eine positive weitere Entwicklung beschäftigt.
Seit sie 1950 ihrem Mann Leonard Ainsworth nach London folgte und dort eine Anstellung bei der Forschungsgruppe um Bowlby in der Tavistock-Klinik bekam, entwickelte sie in den folgenden Jahren ein Forschungsparadigma: die „Fremde-Situation“.
Während der Psychoanalytiker versucht, „Daten“ aus den der Beziehung zu Menschen, die er behandelt, zu gewinnen, wurden hier systematische, strukturierte, standardisierte Tests, Fragen und Auswertungskriterien an einer repräsentativen Stichprobe durchgeführt.
Die „Fremde-Situation“ besteht aus acht jeweils drei Minuten langen Phasen. Sie wird in einer fremden Umgebung (Untersuchungsraum) durchgeführt. Dabei verläßt die zuerst anwesende Mutter den Untersuchungsraum und kehrt dann wieder. Dieser Vorgang wird später wiederholt.
Die Reaktion auf die Wiederkehr der Mutter in den Phasen 5 und 8 wird als maßgeblicher Indikator für die Bindungsqualität angesehen. Dabei konnte Ainsworth die Kinder nach der Auswertung in drei verschiedene Klassen von Bindungsqualitäten einteilen.
Die Unterscheidung einer vierten Kategorie erfolgte einige Jahre später. Für jede dieser Gruppen existieren auch Untergruppen, die die Unterschiede zwischen den Kindern noch differenzierter erfassen.
3.1. Bindungstypen
1. Kinder mit sicher gebundenem Verhaltensmuster (B-Muster)
Diese sind in der Fremde-Situation gewöhnlich beunruhigt, wenn sich die Mutter von ihnen trennt. Nach der Rückkehr der Mutter wenden sie sich ihr unmittelbar zu, halten sich in ihrer Nähe auf und beginnen, ausgehend von dieser sicheren Basis, sich wieder ihrem Spiel oder der Umgebung zu widmen.
2. Kinder mit unsicher – vermeidend gebundenem Verhaltensmuster (A-Muster)
Diese zeigen weniger offene Zeichen von Beunruhigung während der Trennung von der Mutter und vermeiden den Kontakt, wenn diese zurückkehrt. Physiologische Messungen zeigen aber, daß die Kinder nur äußerlich ruhig erscheinen und innerlich stark unter Spannung stehen. Einer fremden Person verhalten sie sich nicht anders als der Mutter gegenüber.
3. Kinder mit unsicher – ambivalent gebundenem Verhaltensmuster (C-Muster)
Diese sind während der Trennung von der Mutter verängstigt, lassen sich aber im Gegensatz zu den sicher gebundenen Kindern nur langsam durch die zurückgekehrte Mutter beruhigen. Sie wechseln dabei zwischen aggressiver Ablehnung des Kontakts und der Suche nach Nähe, wobei andere Aktivitäten und Spiel nicht weiter verfolgt werden.
Zu bemerken ist an dieser Stelle noch, daß die verschiedenen Bindungsmuster von vermeidenden und unsicheren Kindern keine psychopathologische Entwicklung nach sich ziehen muß ; das Risiko später psychopathologisch relevante Probleme zu entwickeln, ist allerdings höher.
4. Kinder mit desorganisierten/desorientierten gebundenem
Verhaltensmuster (D-Muster)
In dem Buch von Spangler/Zimmermann (1997) beschreibt Mary Main ab S. 120 die „Desorganisation im Bindungsverhalten“.
Kinder wurden als desorganisiert oder als desorientiert klassifiziert, wenn sie in Anwesenheit der Bezugsperson Verhaltensweisen zeigten wie z.B. : Das Kind erstarrt in seinen Bewegungen bei gleichzeitigem trance-ähnlichen Gesichtsausdruck, es schaukelt stereotyp auf Händen und Knien nach begonnener Annäherung, bei Angst vor Fremden entfernt es sich von der Bezugsperson und lehnt seinen Kopf gegen die Wand, es richtet sich auf, um die Bezugsperson zu begrüßen, sinkt aber dann in sich zusammen auf den Boden.
Formell gesehen ist es der Zusammenbruch von Aufmerksamkeits- und Verhaltensstrategien bei Kindern, die durch ihre (verängstigenden und/oder veränstigten) Bindungsfiguren selbst verunsichert werden, und deshalb keine Handlungen oder Verhaltensstrategien zur Verfügung haben.
Main berichtet über eine Laboruntersuchung, in der ein Clown in der Tür des Untersuchungsraumes auftauchte und dort das Kind ansah. Die Bezugsperson saß dabei hinter dem Kind in Reichweite. Ganz anders als die vermeidend gebundenen Kinder, die ihre Angst unterdrückten und die unsicher-ambivalent gebundenen Kinder, die nach der Hand der Mutter griffen, verhielten sich drei Kinder in dieser Studie (Regensburger Untersuchung von Escher – Gräub und Grossmann, 1993).
Diese angstmachende Situation erlebten alle diese Kinder als Alptraum. Sie waren extrem ängstlich, schrien, weinten und waren nicht in der Lage, die Bezugsperson hinter sich als Hilfe gegen die Ängste einzusetzen.
Main weist auf S. 129 darauf hin, daß in Stichproben mit mißhandelten Kindern bis zu 80 % als desorganisiert eingestuft werden.
In einer Reanalyse der Bay Area Studie wurde von der Autorin festgestellt, daß ein Elternteil solcher Kinder im AAI (Adult Attachment Interview) als unverarbeitet-traumatisiert eingeschätzt wurde.
Gegenüber dem anderen Elternteil zeigten die Kinder ein anderes Bindungsmuster.
Konstitutionelle Einflüsse sieht Main in diesem Fall als nicht maßgeblich an.
Das Kind kann, wenn es Angst hat, nicht die Nähe der Bezugsperson suchen, noch seine Aufmerksamkeit ablenken, noch aus der Situation fliehen.
Ich deute dieses Verhalten als beobachtbares Äquivalent zu der psychischen Struktur der Mutter/dem Vater. Im Fallbeispiel von Beebe/Sloate (1983) , den ich in Kapitel 6 anführe, werden gewisse Züge davon deutlich. Einen wesentlichen Teil der Verbindung sehe ich aber auch in der emotionalen Unerreichbarkeit der Bezugsperson. In den psychischen Repräsentanzen taucht bei diesen Kindern ein Liebesobjekt, welches Schutz bieten kann, nicht auf.
Die Mutter/der Vater wird von den Kindern schizophrener Eltern fast immer als „abwesend“/„verloren“ beschrieben. [Sollberger (2001), Rogge (2001), Sielaff-Toth (1994), Dunn(1993)].
Die Mutter/der Vater steht real und psychisch repräsentiert nicht zur Verfügung; deshalb gibt es für diese Kinder auch keinen Ausweg aus einer beängstigenden Situation. In diesem Zusammenhang sind auch die Ergebnisse wichtig, die belegen, daß der andere, nicht kranke Elternteil oft auch als nicht verfügbar empfunden wird, weil sich dieser ganz dem Lebenspartner widmet und u.U. noch ein Rollentausch entsteht.
Verängstigtes Verhalten bezieht Main auf ein unverarbeitetes Trauma der Eltern, die aufgrund der eigenen erlebten Mißhandlung, die Elternrolle nicht ausfüllen können.
In der Folgestudie der Bay Area Studie wurden die Kategorien für die Bindungsrepräsentanzen von Erwachsenen im AAI entwickelt.
Interessant für mich ist vor allem, daß die Menschen in die Kategorie „U“ (unverarbeitet /traumatisiert) klassifiziert wurden, die eine gedankliche Desorganisation und Desorientierung bei der Schilderung der Bindungserfahrungen hatten.
Wichtig für mich ist, daß es hier Parallelen zum Sprachstil von schizophrenen Patienten gibt (siehe die Studien über den Sprachgebrauch und die Klassifizierungsmerkmale des ICD und DSM: Fehler der Organisation der Gedanken, Fehler in der Organisation der Sprache, plötzlicher Wechsel der Sprechweise verbunden mit einem Wechsel der Gefühlslage).
In den Follow-up Studien finden die Untersucher vermehrt katastrophenähnliche, alptraumartige Phanasien von Kindern bei projektiven Verfahren, gewalttätige/bizarre Phanatsien, Verwechseln von Realität und Vorstellung, künstlich wirkende fröhliche Elemente in Zeichnungen. Alles das sind auch Hinweise auf einen psychotischen Zusammenhang.
Wieder zurück zu den allgemeinen Inhalten der Bindungstheorie.
Als wichtigste Kategorie in der Mutter-Kind-Beziehung stellt Ainsworth die mütterliche Feinfühligkeit heraus, die vier Merkmale beinhaltet:
1. die Wahrnehmung der Verhaltensweisen des Säuglings
2. die zutreffende Interpretation seiner Äußerungen
3. die prompte Reaktion darauf
4. die Angemessenheit der Reaktion
Ab S.55 weist Dornes (2001) auf die Probleme des Konstrukts der Feinfühligkeit hin:
Die Theorie des unterschiedlichen Temperaments der Kinder in Bezug auf die Reaktion auf die Mutter wird in diesen Überlegungen nicht mit einbezogen.
In Metaanalysen von Goldsmith/Alansky (1987) wird deutlich, daß die Befunde hinsichtlich der Feinfühligkeit stark vom Gesamtaufwand abhingen, die für die Studie betrieben wurde. So fand sich in den Studien mit ausführlichen Beobachtungen, in häuslicher Umgebung und Mutter-Kind-Interaktionen in verschiedenen Situationen in der Regel ein höherer Zusammenhang, als Beobachtungen die sich z.B. nur auf die Laborsituation beschränkten.
Dornes verweist auch auf Indizien, daß sowohl die Laborsituation als auch die optimale häusliche Situation keine normalen Parameter simulieren, da die Mutter sich ausschließlich auf das Kind konzentrieren könne, ohne daß alltägliche Störungen (z.B. Hausarbeit, Telefon, eigene Beschäftigung) die Aufmerksamkeit zumindest zerteilen würde.
Feinfühligkeit und Inkonsistenz/ Zurückweisung sind außerdem keine feststehenden innerpsychischen Variablen. Sie können zu verschiedenen Meßzeitpunkten innerhalb des ersten Lebensjahres unterschiedlich sein.
Als letztes möchte ich noch bemerken, daß sich das Konstrukt ausschließlich auf Mütter bezieht, was sicher an den Familienstrukturen der Zeit liegt, in der diese Theorie verfaßt wurde.
3.2 Bindungsrepräsentanzen bei Kindern
Seit Mitte der 80er Jahre werden in der Bindungsforschung nicht nur beobachtbare Eigenschaften in den Vordergrund gestellt, sondern auch das symbolische Spiel und die erzählende Darstellung.
Von besonderer Bedeutung ist das Ergebnis, daß es eine gewisse Kontinuität zwischen dem verhaltensmäßigen Umgang mit dem Problem der Trennung/ Wiedervereinigung im Alter von einem Jahr und dem repräsentationalen „Umgang“ mit ähnlichen Problemen im Alter von drei bis sechs Jahren gibt.
Eltern übertragen zwar im gewissen Maß ihre eigenen Bindungsrepräsentanzen auf das mehr oder weniger feinfühlige Interaktionsverhalten gegenüber ihren Kindern, doch die Korrelation zwischen beiden Parametern ist zwar signifikant aber nicht sehr hoch.
Dornes vermutet, daß noch andere Faktoren eine Rolle bei der Mutter-Kind-Interaktion spielen, die durch die Ainsworth-Skalen nicht erfaßt werden können, wie z.B. affect-attunement, face-to-face Interaktion oder die Art des Austauschs von Vokalisierungen.
3.3 Bindungstheorie und Psychoanalyse
In der klassischen Psychoanalyse liegt der Fokus auf zentralen Punkten der Entwicklung, bei der Bindungsforschung und modernen Psychoanalyse (Selbstpsychologie: Kohut, Hartmann/ Objektbeziehungstheorien: Klein, Bion, Winnicott, Fairbairn ) eher auf Mikrotraumatisierungen.
Ein Unterschied besteht auch in den vom Kind kommenden Impulsen an die Außenwelt. In der klassischen Psychoanalyse sind es die Triebe und deren Befriedigung bzw. Nicht-Befriedigung Bei der Bindungsforschung und modernen Psychoanalyse stehen Bedürfnisse nach Spiegelung, Kommunikation, Affektaustausch, Körperkontakt zum Zwecke der Herstellung eines Gefühls der Sicherheit im Vordergrund.
In der klassischen Psychoanalyse werden wesentliche Veränderungen durch körperliche Reifungsprozesse angestoßen (oral, anal, phallisch-genital); die Bindungsforschung und die moderne Psychoanalyse führen die Ausbildung einer psychopathologischen Erkrankung letztlich auf ein Versagen der Umwelt zurück.
Triebe werden in der Bindungsforschung mit dem Begriff des Temperaments beschrieben: Unterschiedliche Kinder interpretieren und repräsentieren ihre Umwelt auch je nach Disposition.
Durch die Bindungsforschung und moderne Psychoanalyse werden die nicht sexuellen Bedürfnisse hervorgehoben.
Lichtenberg (1991) geht von 5 Grundbedürfnissen aus:
1. Physiologische Spannungen
2. Sinnlich-sexuelle Empfindungen
3. Die Bereitschaft, auf unangenehme Reize mit Aversion-Aggression zu reagieren
4. Spontane Selbstbehauptung und Neugier
5. Bindungsbedürfnisse
[...]
[1] Namen wurden aus Urheberrechtsgründen anonymisiert.
- Arbeit zitieren
- Timm Freuer (Autor:in), 2002, Die Entwicklung der Kinder von Eltern mit Erkrankungen aus dem schizophrenenen Formenkreis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/424033
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