Das Museum ist ein Forschungsort. Citizen Science – Bürgerforschung oder Bürgerwissenschaft – vereint zu Recht die Begriffe des Bürgers und der Bürgerin mit dem der Forschung, verstanden als der aufgeklärte, verantwortungsvolle und dem Gemeinwohl verpflichtete Umgang sowohl mit den Mitmenschen in ihrer kulturellen Vielfalt als auch mit den natürlichen Ressourcen. Der aktuelle Boom von Citizen Science kann als Ausdruck einer gesellschaftlichen Bewegung verstanden werden, sich aktiv an den Prozessen der Wissensgenerierung und auch der Wissensbewertung beteiligen zu wollen.
MISSION. Wir erforschen die Erde und das Leben im Dialog mit dem Menschen.
VISION. Als exzellentes Forschungsmuseum und innovatives Kommunikationszentrum prägen wir den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Dialog um die Zukunft unserer Erde mit – weltweit.
LANGSAMSURFEN
Eine fluidmechanische Phanomenologie und die RAIL-FIN-INTEGRATION bei Wasserkafern
Michael Dienst
BIONIC RESEARCH UNIT BERLIN
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„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Traumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt."
Es ist der Mittwoch Vormitttag nach unserem Fotoshooting im Museum fur Naturkunde, Berlin. Fotografieren mit offizieller Genehmigung. Unsere Bionik- Doktorandin Janine breitet die Beute des Tages auf dem Bildschirm aus; es ist das Brutto-Material mit jeder Menge Beifang. Das kann gut sein (man bekommt alles zu sehen), oder auch nicht (man bekommt alles zu sehen). Janine ist Designerin (gut) hat aber ein ausgesprochenes Faible fur Insekten (abartig). Also betrachten wir Larven, Spinnen, Kafer. Neben dem, was wir eigentlich vorhatten zu fotografieren nimmt es einen nicht zu vernachlassigendes Datenvolumen ein; was wir suchten waren Fossilien und Petrefakte[1], insbesondere GliedmaGen von Wirbeltieren; Hande. Aber nun Spinne, Kafer, Kafer, Spinne, Kafer. Diese Krabbelzeugs ist mir von je her suspekt. Ich hasse Camping. Und sage: Kafer, das sind fur mich zunachst einmal nur! eingefrorene, hydraulische Konstruktionen. Erstarrt. Das ist zunachst einmal gar nicht so uninteressant. Denn die meiste Technik ist rigide und starr. Und dennoch bleiben Kafer irgendwie ungewohnt. Wenn ein Bioniker versucht, aus Konstruktionen der belebten Natur etwas Kluges zu lernen, hat aber nur starres auf der Technik-Seite im Repertoire, dann muss er zwangslaufig bei den Starrkorpern stobern. Bei Pinguinen etwa ist man mit diesem Ansatz erfolgreich. Very Starr, very clever. Insekten sind eigentlich nur deshalb schlechte Kandidaten, weil ich sie nicht mag. Und jetzt das. Ein Kafer mit „Finne". Ein wenig abgeschrubbelt zwar, die Finne. Aber wahrscheinlich kratzt sie wortlich laufend uber den Boden; obwohl er angeblich „Kolbenwasserkafer" heiGt. HeiGen soll.
Die belebte Natur hat in den Jahrmillionen der biologischen Evolution auGerst effiziente und Ressourcen schonende Losungen hervorgebracht. Wir beobachten die Vielfalt biologischer Bauweisen, wir beschreiben und messen die teilweise bis an das physikalisch Machbare optimierte Funktionen, wir bewundern die von einer Einfachheit getragene Eleganz der Gestalt vieler Lebewesen. Beobachtungen in der belebten Natur inspirieren den Ingenieur zur Entwicklung neuer Produkte und Verfahren. Doch eine schlichte Nachahmung der Phanomene der belebten Natur scheitert, denn Konzepte, Bauweisen und Strategien der Biologie unterscheiden sich in erstaunlicher Weise von denen der Technik. Der erfolgreichen Teilhabe an einer effizienten biologischen Gestaltungslosung durch Technik geht daher in einem idealen Fall die Klarung ihrer physikalischen, chemischen und informationstechnischen Ursachen voraus. Die Bionik arbeitet auf diesem schmalen Grat; sie verbindet die Naturwissenschaften mit den Ingenieurwissenschaften. Aufgabe der Bionik ist es, Prinzipien der belebten Natur zu entschlusseln, mit dem Ziel, diese auf kunstliche Systeme, auf Artefakte, auf Maschinen oder Prozesse zu ubertragen. Die Betrachtung von Ergebnissen der angewandten Bionik legt den Schluss nahe, dass durchaus strategische Handlungsweisen fur die Ubertragung von als optimal angesehenen biologischen Problemlosungen existieren [1].
Jedoch haben, von wenigen Ausnahmefallen abgesehen [2] [3] [4] [5] [6], die erheblichen Vorarbeiten auf dem Gebiet der Analyse biologischer Systeme nicht in dem erwarteten MaGe zu Produkten oder technischen Innovationen gefuhrt [7][8][9][10]. Eine Ursache dafur, dass Anzahl und Qualitat von Produkten und Verfahren nach dem Vorbild der Natur weit hinter den Erwartungen aller mit Bionik Befassten zuruckbleibt ist offenbar, dass die komplexen Zusammenhange der Biologie nur unzureichend wiedergegeben werden und diese Informationen nicht in einer fur den Produktentwickler geeigneten Form vorliegen. Seitens der Industrie besteht dennoch ein klares Interesse an Problemlosungen aus der belebten Natur[2].
KAFER
Das Museum ist ein Forschungsort. Citizen Science - Burgerforschung oder Burgerwissenschaft - vereint zu Recht die Begriffe des Burgers und der Burgerin mit dem der Forschung, verstanden als der aufgeklarte, verantwortungsvolle und dem Gemeinwohl verpflichtete Umgang sowohl mit den Mitmenschen in ihrer kulturellen Vielfalt als auch mit den naturlichen Ressourcen. Der aktuelle Boom von Citizen Science kann als Ausdruck einer gesellschaftlichen Bewegung verstanden werden, sich aktiv an den Prozessen der Wissensgenerierung und auch der Wissensbewertung beteiligen zu wollen. MISSION. Wir erforschen die Erde und das Leben im Dialog mit dem Menschen. VISION. Als exzellentes Forschungsmuseum und innovatives Kommunikations- zentrum pragen wir den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Dialog um die Zukunft unserer Erde mit - weltweit[3].
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Was mit Kafern. Technik, ein funktionaler Artefakt, eine Maschine, ein Fahrzeug nach dem Vorbild einer Schabe oder eines Kafers ist moglich, aber schwer vorstellbar. Kafer sind so ganz anders, und: „Nein, nein, so wurden wir das niemals bauen!" Der tradierte gut eintrainierte und direkt an der Oberflache hausende Reflex eines Ingenieurs, der „naturlich" davon ausgeht, dass es einen Gestaltungsauftrag gibt, dem ein ganz bestimmter Design-Intent zu Grunde liegt, ist nicht eine Frage nach dem WARUM, sondern das kategorische BesserweiR: „So macht man das nicht". Eine durchaus praktische Herangehensweise. Wenn man keine Kafer mag. AuRerdem gab es ja einen wirklich anderen, den eigentlichen Anlass im Museum zu stobern und zu fotografieren.
Abends dann, als eine gewisse Ruhe einkehrt, nehme ich mir dieses merkwurdige Tier noch einmal vor. Dummerweise hatte ich mir keine Fotos aus dem Bruttomaterial mit nach Hause genommen. Wie hieR er noch? Egal. Ich bin angefixt. Womit fangt man an, wenn man nichts weiR? Uber Krabbeltiere.
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Gerade wenn man nichts weiR, und gerade, wenn man keinen Auftrag hat, purzeln die Anwendungen nur so auf das Papier. Soll das denn immer so bleiben? Er hat einen Kiel. Er hat eine Finne, der kleine Kerl. Nein weniger einen Kiel eher ein Rail. Ein Center-Rail. Und dann das: Rail und Finne hangen „organisatorisch und konstruktiv" zusammen, erscheinen in einer integrierten Konstruktion. Darf man das? Man darf. Die Natur darf das! Dann schwimmt er womoglich gar nicht, er surft? Aloa. Genial. Aloa?, herrjeh das konnen wir doch noch gar nicht rechnen. Also schwimmt er erst mal, der kleine Kerl. Genau, Wasserkolbenkafer! Der Wasserkolbenkafer sei jetztmal ein Halbtaucher. Das ist komplex genug fur einen ersten Hub.
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Und, Micha: finde einen eleganten Weg, jetzt irgendwie glaubwurdig zu vertreten und behaupten, Surfen sei nicht - unbedingt, immer, ausschlieRlich, alternativlos (HA!), notwendigerweise - Gleiten.
Surfen oder Wellenreiten (hawaiianisch: he'e nalu, englisch surfing) wird in der Regel an Kusten ausgeubt und besteht in einer gleitenden Bewegung uber die
Wasserflache. In seiner ursprunglichen Weise ist das Surfen schon annahernd 4000 Jahre bekannt. In vorchristlicher Zeit (etwa 750 v. Chr.) brachen die Polynesier aus ihrer mythischen Urheimat Hawaiki auf, um den gigantischen pazifischen Siedlungsraum sicher zu befahren. Durch ihre Reisen verbreitete sich auch das Surfen in der Sudsee. Die Blutezeit erlebte das ursprungliche Wellenreiten auf den Inseln von Hawaii und war von hoher gesellschaftlicher Bedeutung. So waren etwa die Strande mit den groGten und besten Wellen den Konigen vorbehalten. Moderne Surfboards unterscheiden sich in GroGe und Gestalt, weisen aber gemeinsame, sinnfallige Grundmuster auf.
Die fur Surfboards typischen und unterschiedlich ausgefuhrten Finnen am Heck des Brettes haben eine Gemeinsamkeit. Sie sehen ganz anders aus als das Unterwasserschiff des Kolbenwasserkafers. Daran besteht kein Zweifel. Rail und Finne als Integralkonstruktion? Der Finnenteil ist sehr wagemutig konstruiert, erinnere ich mich; der Bug einfach nur doof gestaltet. Morgen wird mir Janine ein ,,-Mach-mal-was-mit-Wasserkolbenkafern-Uberzeugungs-Video- Link schicken. Aber davon weiG ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Was ich weiG, ist: Alles was mir im Gedachtnis geblieben ist, widerspricht den guten Gestaltungssitten. Ist er vielleicht einfach noch nicht durchevolutioniert, der Kolbenwasserkafer? War da mal wieder die Zeit zu kurz? Waren es nicht 285 Millionen Jahre?
Rail-Fin-Integration. Ach ja, es liegt wahrscheinlich an diesem frohlichen Sport. Sie haben ja immer frei, diese Surfer. Typisch. Ein bisschen zu exaltiert. Ein Stuck zu breit, ein bisschen zu laut! Das riecht nach Gras, Mann. Wenn jeder Ahnungslose, wenn jeder Surfer, jede Surferin, jedes Surfende sein/ihre Finne selbst gestalten darf, dann nutzen er, sie, es (?) es sofort und schamlos aus. Konstruieren ist doch eigentlich ein rares Privileg. Ich sage nur: Rail-Fin- Integration. Da war wohl ein Colani unter der Sonne Hawaiis unterwegs. Bleib mal in der Welle, Babe. Cool down. Fahr mal schon weiter mit den Brettern und Finnen von der Stange. Aber das wollen sie offenbar nicht. Fur mich war bisher kaum ein Surfer so ein braver Kerl wie Michael Ho, der Bewunderte. Wer immer sich diese Rail-Fin-Integration (irgendwie genial) ausgedacht hat, der sollte wissen - das gebietet meine sportlich Fairness - dass man es sofort mit den Hardlinern der Stromungsmechanik zu tun bekommt. Mit Prandtl sowieso, mit Froude, Thompson und mit seinen Wellen von der kleinen, bosartigen Sorte, hier gibt es die ganze Packung: Diagonalwellen, Querwellen, Kelvin- Winkel, Wellenausbreitungsgeschwindigkeiten, A-n-Moden! So was halt. Es ist sehr (sehr) leichtsinnig!
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Ein surfender Kafer mit Rail-Fin-Integration. Das ist doch reichlich verruckt. Aber immerhin erfuhren wir auf diese Weise, wie schnell Du unterwegs sein darfst, wie groR deine theoretische Rumpfgeschwindigkeit sein mag, du kleiner Kerl. Daraus berechnen wir dann deinen Reynoldsbereich. Und wusch, kennen wir das Widerstandsgebaren. So gehen wir vor, so „knacken" wir deine physikalische Wechselwirklichkeit. Die klassische Argumentation. Wahrscheinlich werden es ziemlich kleine Reynoldszahlen. Und schon fangen Probleme von einer ganz anderen Art an. SchlieRlich handelt es sich nicht um eine Downsizing -Ansatz, sondern um das schiere Gegenteil. Oder sollte das Problem dimensionsunabhangig sein? Und was wurden erweiterte Kenntnisse hinsichtlich dieser „Rail-Fin-Phanomenologie" auf der Seite der maritimen Technik - wir hatten das zur Idee dieser ganzen Kampagne erklart - auslosen oder wenigstens anstoRen?
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Nun gut es gibt ja auch so etwas wie „formale" Hoffnungen. In Besitz einer fluidmechanischen Innovation (hier ein surfender Kafer mit Rail-Fin-Integration, wie lacherlich), tauchen an avisierten technischen Stromungsbauteilen Qualitaten auf, die auf eine Leistungsoptimierung des Gesamtsystems zielen. Die Innovation stamme aus der systematischen Analyse physikalischer Wirkmechanismen der belebten Natur; wir sprechen also wir von Bionic Engineering. Downsizing und affine Skalierung bedeutet in diesem Zusammenhang die gestalterische Einflussnahme auf geometrische und funktionale Parameter einer maritimen Konstruktion. Jede Skalierung ist in diesem Zusammenhang dann geometrisch affin, wenn die Topologie der Struktur und das relationale Zusammenspiel signifikanter Konstruktions- parameter erhalten bleibt.
Emergenz, das Auftauchen neuer Qualitaten kann zu extremen Funktionsuber- lagerungen (Integration) Leistungsverdichtung (Kompaktheit) und zu mechanischer Robustheit (Resilienz) fuhren.
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Oftmals verandern sich dann weitere geometrische, funktionale und ProzessfuhrungsgroRen in eine positive Richtung. Fur zukunftsweisende Konstruktionen ist die funktionale Adaptionsfahigkeit, die Funktionsintegration, eine Leistungsverdichtung bei hoher Kompaktheit und systeminharente Resilienz eine sehr vorteilhafte Kombination erwunschter Eigenschaften. Fuhren Emergentien gleichzeitig auf eine affine, kongruente Skalierung, nennen wir sie (vielleicht) SuPerformance[4]. Bei fluidischen Systemen wird Similaritat der Stromungswirklichkeit in und um den Artefakten vorausgesetzt. Sind Aspekte der Skaliertheit der avisiert physikalisch gleichwertigen Konstruktionen von Belang, kann eine theoretische Herangehensweise mit der Ahnlichkeits- theorie erwogen werden.
Aber halt. Soweit sind wir noch lange nicht. Noch ist Mittwochabend, 24. Januar. Und aus irgendeinem Grund, bin ich gerade uberhaupt nicht in der Stimmung, mich ins Bett zu legen. Und dort uber Kafer, uber Kolbenwasser- kafer nachzudenken.
Also gut. Das Rail, besser: das CenterRail. Wie war der Bug gestaltet? Ein Wave-Piercer? Ein Jollenbug, ein Yachtbug? Ich weiG es nicht.
Nicht mehr. Versuche es mit kritzeln, skizzeln.
Die zeichnende Hand fordert zu Tage, was das Hirn zwar weiG, aber gleichzeitig nicht weiG.
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Nicht auszuspucken weiG, sagt man, sage ich und komme ins Grubeln und noch nicht daruber hinweg. So ein mieser Trick, diese Rail-Fin-Integration, und: was fur einen schlauen Titel hast du dir da fur diese Kampagne ausgedacht, Mistviech. Formalanalytisch: Falls du auf der Wasseroberflache schwimmst, du kleiner unbekannter Kafer, gehort eine grobe Abschatzung der GroGenordnung des Form-, des Reibungswiderstands und - jetzt kommt es - des Wellenwiderstandes an der Phasengrenze Fluid (Wasser)-Fluid (Luft)- Solid (Kafer-Stromungskorper) zu den ersten Voruberlegungen. GroGe? Form? Wie groG war er noch, wie breit? Na ja, also - nicht so. Zur Form. Eher so, na kaferformig halt. Ich behaupte: bei Kafern passt Ellipsoid ja immer (aus: langjahrige Erfahrung mit unserem VW-Kafer 1302). GroGe? Form? Gewicht? Das schreiben wir uns auf, fur morgen am PC. Wenn ich nicht mehr so Offline bin wie gerade. Wir alle wissen: Neben Klarung der relevanten geometrischer KenngroGen des Kaferkorpers und KenngroGen des Fluides (Dichte, Temperaturbereich, Transportkoeffizienten) liefern Aussagen uber das Wechselwirkungsgeschehen des „Unterwasserschiffes" im Stromungsfeld (Stromungsgeschwindigkeit und Stromungsrichtung) erste quantitative Aussagen in der fruhen Phase einer bionischen Entwicklung respektive einer vulgarwissenschaftlichen Biosystemanalyse.
WELLEN UND WIDERSTAND
Eine KenngroRe im Wechselwirkungsraum eines jeden halbtauchenden Stromungskorpers ist der Wellenwiderstand, der in einem reichlich komplexem Zusammenhang steht mit geometrischen Parametern, etwa der Geometrie der (Stor-) Kontur an der Phasengrenze, energetischen GroRen wie der theoretischen Wellenausbreitungs- und der tatsachlichen Stromungskorper- geschwindigkeit und anderen Parametern. Fur eine erste Abschatzung des Wellenwiderstands werden Wellenwiderstandskoeffizienten aus Messreihen in Abhangigkeit von der Froude-Zahl in Tabellenform oder in Diagrammen angeboten. Im Laboralltag und in der Lehr- und Forschungspraxis werden diese Werte nicht selten graphisch und von Hand mit Lineal und Zirkel abgegriffen. Aber gehen wir der Reihe nach vor und bauen das Widerstandsgeschehen um unseren kleinen Wasserkafer sukzessive auf, bevor wir mit der Abschatzung des Geschwindigkeitsbereichs Re aus der Froudezahl Fr kommen. Fur unsere Uberschlagsberechnungen zum Stromungswiderstand von Halbtauchern betrachten wir lediglich stationare, nichttransiente Effekte erster Ordnung und gehen vereinfachend davon aus, dass sich der fluidmechanische Gesamt- widerstand eines Halbtauchers in Fahrt mit der Summe aller Partialwiderstande die an diesem System auftreten, berechnen lasst.
Der Gesamtwiderstand des Systems aus der Summe der Partialwiderstande RPi, also dem Wellenwiderstand, dem RW Reibungswiderstand, dem Formwiderstand RO und RF, dem induzierter Widerstand RI den wir spater vernachlassigen konnen, weil ohne Auftreten von Querkraften gerechnet werden soll. Wir erhalten einen idealisierten Gesamtwiderstand:
Gesamtwiderstand am fluidischen System: R = S rp — RW + rf + RO + RI
Die Aufteilung in Partialwiderstande sind keineswegs unumstritten; eine weitere Ausdifferenzierung der Partialwiderstande, bzw. die Betrachtung von
Verschrankungen und/oder Uberlagerungen ist aber fur unsere ersten, groben und das Wechselwirkungsgeschehen einschatzende Berechnungsaufgaben wenig vorteilhaft. Es gelten einige Grundaussagen uber die Charaktere der Partialwiderstande. Dies ist dann nutzlich, wenn aus den Beziehungen Similaritaten extrahiert werden [Diell-4][Her-04]. Werfen wir einen Blick auf die Nomenklatur einer Similaritatsanalyse mit den drei physikalischen Basis- GroBen Lange, Zeit und Masse und einiger abgeleiteter GroBen:
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Partialwiderstande:
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Ein Nachteil der partiellen Betrachtung ist, dass im Wellenwiderstand Kompo- nenten der anderen Partialwiderstande enthalten sind, die beeinflusst werden von Deutungen oder Verfahren der messtechnischen Ermittlung von Schiffswiderstanden (z.B. viskoser Druckwiderstandanteile, Einfluss der vom Tankrand reflektierten Wellen, usw). Im Reibungswiderstand Rr, im Form- widerstand RF und im Wellenwiderstand RW tauchen weitere GroRen auf:
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WELLEN IN WELLEN Waves within Waves
Wellen. Ein Halbtaucher, ein Schiff in Fahrt, verursacht aufgrund seines gegebenen Volumens und Gewichts eine Verdrangung des Fluids und damit eine Ausweichstromung um sich, den „Storkorper", herum. In Fahrt herrscht nun eine nichtgleichmaRige Druckverteilung entlang der Korperkontur (genauer: der Wasserpass des Storkorpers). Ich mochte diese Argumentation nun fur eine Betrachtung des (Wellen-) Widerstandsgeschehens an und um ein Wasserlebewesen, beziehungsweise anwenden auf den kleinen Wasserkafer, einer Storkontur, die (nicht nur gelegentlich) als Halbtaucher unterwegs ist. Ganz formal gesprochen verursacht eine Druckminderung ein Wellental an der Storkorperkontur, eine Druckerhohung entsprechend einem Wellenberg (an der Storkorperkontur). Wellen sind, in einer ersten stationaren Betrachtung, rein konservative Systeme. Damit werden die Verhaltnisse ein wenig ubersichtlicher. Das von einer Storkontur generierte Wellensystem besteht somit aus superponierbaren Komponenten. Wir sehen: die (leicht gekrummten) Diagonalwellen, die unabhangig von der Geschwindigkeit unter einem Winkel von etwa je 20° zur Fahrtrichtung auftreten und die Querwellen, senkrecht zum Kurs des betrachteten Systems.
Da wir einen sehr kleinen Schwimmkorper betrachten, ist zwingend davon auszugehen, dass die von der Storkontur angefachten Wellen das Untersystem eines viel langwelligeren Systems, einer makroskopischen Welle (einer Woge vielleicht) sein konnen oder tatsachlich sind. Ich mochte an dieser Stelle nur anmerken, dass wir diesen Umstand nicht vergessen haben, ihn aber vernachlassigen, weil es die lokale Widerstandskomponente unserer energetischen Betrachtungwenig beeinflusst.
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Vielmehr ist die Woge das Antriebselement des surfenden Systems. Antriebselement und Ursache, dass wir gleichsam wahrend der gesamten Ausfuhrungen davon ausgegangen sind, dass unser kleiner Freund „in Fahrt" sei. Naturlich paddelt er. Aber genau dieses Paddeln werden wir in dieser Kampagne nicht denken, nicht simulieren. Und ich fuge hinzu: „weil wir es nicht konnen". Da wir uns aber sowieso mit „stationaren Partialbetrachtungen" (in Fahrt, in Welle, in Widerstand, frei von Querkraften) zufrieden geben, stellen wir die Frage des Antriebs des Wasserkafers hinan und „sehen nur, dass er fahrt", der kleine Kerl.
Er fahrt, er surft. Er ist klein. Er ist ein Halbtaucher. Wie aber kommt die Storkontur in unserem Modell auf seine Geschwindigkeit? Gibt es etwa einen Damon, der das Kafermodell antreibt; in der Thermodynamik ware das ein zulassiger (wenn nicht gerne gesehener, aber geduldeter) Ansatz. Nein, wir werden mit einer viel eleganteren Luge arbeiten und legen den Fluch und den Segen der Wellen in die gleiche ebene: Wir lassen den Kafer einfach surfen. Das Vorhandensein eines ubergeordneten, langwelligeren Wellensystems rechtfertigt diese Modellannahme. Vielleicht.
Die Froude[7] -Zahl Fr ist - wie wir oben schon gesehen haben - der wichtigste dimensionslose Parameter fur die Beschreibung des - von einem sich in Verdrangerfahrt befindlichen Halbtaucher generierten - Wellenbildes. Dies gilt auch und gerade fur sehr kleine Seefahrzeuge. Der komplizierte Systemzustand „Verdrangerfahrt eines Habtauchersystems" herrscht aufgrund einer selbst erregten Storung der Phasengrenze. Die Gestalt der Rumpfkontur des Halbtauchers ist dabei energetisch bedeutsam. In unsere Betrachtungen sollen aber nur einfachste Unterwasserkonturen Eingang finden. Der Kaferkorper sei somit ein Ellipsoid. Formal beschreibt die Froude-Zahl das Verhaltnis der Schiffsgeschwindigkeit v zu der Ausbreitungsgeschwindigkeit c jener Wellen, die beim Fortbewegen auf einer Phasengrenze entstehen.
Froude-Zahl: Fr = v/c[-]
Fur komplizierte Wellenmuster auf der Wasseroberflache hatte William Thomson[8], der spatere Lord Kelvin, schon 1887 eine Theorie aufgestellt. Nach Kelvin konnen zu einem stationaren Wellenmuster nur solche Wellen beitragen, deren Wellenzahl k grower ist als ein kritisches kg = g/v[2]. Fur jedes k > kg hat die „Partial-Bugwelle" einem k-abhangigen Offnungswinkel 2 a{k). Der groRte Winkel tritt fur k = kg auf und hat den Wert 19,47 Grad[9].
Froude stellte als erster zuverlassige Formeln auf fur den Widerstand, den das Wasser der Bewegung eines Schiffs entgegensetzt, und zur Vorhersage der Stabilitat des Schiffs. Er setzte die bei einem durch Schiffe generierten Wellensystem induzierten Tragheitskrafte, die auf eine Oberflache des Mediums wirken, zur herrschenden Schwerkraft ins Verhaltnis. Die Froude-Zahl ist das Verhaltnis der Schiffsgeschwindigkeit v zu der Ausbreitungsgeschwindigkeit c jener Wellen, die beim Fortbewegen der Storkontur an der Phasengrenze entstehen.
Eine Herleitung der Froude-Zahl fuhrt uber das Verhaltnis der kinetischen und potentiellen Energien an einer Storkontur. In Fahrt verrichtet diese Arbeit und koppelt standig Energie in das Medium Wasser ein. Das ruhende Medium erfahrt bei einer {Schiffs-) Bewegung an seiner Phasengrenze eine Storung, die sich wellenformig fortpflanzt. Setzt man die auftauchenden Energien ins Verhaltnis, folgt:
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Die entscheidende Wellenlange ist bei artifiziellen Systemen (Schiffen) die Lucke zwischen Bug und Heck (Wasserlinienlange L= X/2n). Fur Biosysteme gilt naturlich Entsprechendes, auch wenn hier die Nomenklatur (Bug, Heck) weniger gebrauchlich ist. Die Froude-Zahl ist das Verhaltnis der Geschwindigkeit des Storkorpers v zur Ausbreitungsgeschwindigkeit c der von diesem erzeugten Wellensystem in der aus der Literatur bekannten Darstellung:
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Ich erwahnte oben, dass die Gestalt der Rumpfkontur energetisch bedeutsam sei. Hier, am Wasserpass des Biosystems Kafer, stoRen die drei sich gegenseitig beeinflussenden Systemphasen aufeinander: Luft und Wasser (fluid) sowie der Korper (solid) bilden einen komplexen Wechselwirkungsraum. Er enthalt die fur das Wellenwiderstandsgebaren des Schiffes entscheidenden Qualitaten. Die Physik der Fluid-Fluid-Solid-Wechselwirkung im Dreiphasengebiet ist sowohl mess- als auch simulationstechnisch anspruchsvoll. Gleichzeitig locken an der Phasengrenze aber die groRen Margen an den (Wellen-) Widerstand mindernden Effekten; fur den Optimierer ein Dilemma. Auf eine handliche Weise quantifiziert die (integrale) dimensionslose Froude-Zahl den komplexen Stromungszustand fur einen ersten Uberblick. Man unterscheidet fur die integrale Form drei Bereiche: (1) Bei niedrigen Froude-Zahlen werden Wellen erzeugt, die nahezu senkrecht zur Fahrtrichtung des Schiffes verlaufen. Ab einer Froude-Zahl Fr> 0,35 steigt der Wellenwiderstand sehr stark an. Zum einen wachsen nun die Amplituden der Querwellen stark, andererseits uberlagern sich die Partitionen des schiffseigenen primaren Wellensystems ungunstig. (2) Fur hohe Froude-Zahlen dominieren sehr viel kurzere Wellen, die in kleinen Winkeln zur Fahrtrichtung verlaufen. Bei einer Froude-Zahl um 0,4 uberlagern sich die Heck- und die Bugwelle derart, dass der zweite Wellenberg der Bugwelle auf die Heckwelle trifft. (3) Bei einer Froudezahl um 0,56 trifft das Tal der Bugwelle auf die Heckwelle; es kommt zu Interferenzen, bei denen sich Wellenpartitionen neutralisieren konnen. Vergleichsweise klein ist der Wellenwiderstand fur Froude-Zahlen Fr<3.5. Ein technisches, fluidisches System, ein Schiff, befindet sich diesseits jener kritischen Grenze, an der (nichtlinear) mehr Energie umgesetzt werden muss, um die Fahrge- schwindigkeit weiter zu erhohen. In diesem Froude-Bereich ist das transportenergetische Minimum des Systems zu erwarten; dies sollte fur technische und biologische Systeme gleichermaGen gelten. Ganz nebenbei erhalten wir aus den Betrachtungen uber die Froude-Zahl eine weitere und fur alle halbtauchenden Stromungskorper sehr wichtige Kennzahl. Fur die Wasserlinienlange ist die Wellenausbreitungsgeschwindigkeit gleich der theoretische Rumpfgeschwindigkeit. Es ist die Geschwindigkeit, mit der die Storkontur im (selbst erzeugten) Wellensystem „gefangen" bleibt.
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Die KenngroGe des Wechselwirkungsgeschehens des halbtauchenden Stromungskorpers im Stromungsfeld ist der Wellenwiderstand Rw, der in einem komplexem Zusammenhang steht mit geometrischen Parametern, etwa der Geometrie der (Stor-) Kontur an der Phasengrenze, energetischen GroGen wie der theoretischen Wellenausbreitungs- und der tatsachlichen Stromungs- korpergeschwindigkeit und damit der Froudezahl Rw = f (Fr).
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Fur eine erste Abschatzung des Wellenwiderstands werden in der Praxis der (fruhen Phase der) Produktentwicklung Wellenwiderstandskoeffizienten aus Messreihen in Abhangigkeit von der Froude-Zahl in Tabellenform oder in Diagrammen angeboten. Im Laboralltag und in der Lehr- und Forschungspraxis werden diese Werte nicht selten graphisch und von Hand mit Lineal und Zirkel abgegriffen. Der nachstehende Aufsatz fuhrt auf eine Darstellung des Wellenwiderstandskoeffizienten als Funktion der Froudezahl cWELLE=f(Fr) in einer Ersatzfunktion (Polynom 3ten Grades) die bestimmte Gutekriterien erfullt und auch fur numerische Implementationen geeignet ist.
[...]
[1] Der Begriff „Versteinerung" oder veraltet „Petrefakt" (lateinisch petra Stein, factum „gemacht")121 ist nicht gleichbedeutend, denn nicht jedes Fossil ist mineralisiert und liegt somit als eine Versteinerung vor.
[2] Dienst, Mi.(2014).Computergestutzte Vorgehensweisen der Ubertragung biolo-gischer Phanomene in Technik. In: Joachim Villwock (Hrsg.) Methoden des Fortschritts. Shaker Verlag Aachen, ISBN: 978-3-8440-2932-1; ISSN: 2199-515X.
[3] Aus einer Broschure des Museums fur Naturkunde Berlin.
https://www.museumfuernaturkunde.berlin/sites/default/files/citizensciencebroschuere.pdf
[4] Dienst, Mi. (2017) DIE BUCKINGHAM SIMILARITAT UND SUPERFORMANCE VON SURFBOARDFINNEN. The Buckingham- Law of Similarity and Superformance of Surf fins. GRIN-Verlag GmbH Munchen.
Dienst, Mi. (2017) Superformance of Surfboard Fins. Bionik, Leistungsahnlichkeit und affine Skalierung. GRIN- Verlag GmbH Munchen.
[5] nach Prandtl
[6] Angabe der Rauigkeit k in [m]. Es gilt als glatt: k= 0,001[mm] = 10-3 [mm] = 10-6 [m].
[7] William Froude [fru:d] (* 28. November 1810 in Dartington, Devon, England; + 4. Mai 1879 in Simonstown, Sudafrika) war ein englischer Schiffbauingenieur und Forscher auf dem Gebiet der Hydrodynamik.
[8] William Thomson, 1. Baron Kelvin, meist als Lord Kelvin auch Kelvin of Largs bezeichnet, (* 26. Juni 1824 in Belfast, Nordirland; + 17. Dezember 1907 in Netherhall bei Largs, Schottland) war ein in Irland geborener britischer Physiker.
[9] Neuste Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die als „Kelvin-Winkel" bekannte GroRe doch von der Geschwindigkeit der Storkontur abhangig ist.
- Quote paper
- Dipl.-Ing. Michael Dienst (Author), 2018, LANGSAMSURFEN. Eine fluidmechanische Phänomenologie und die RAIL-FIN-INTEGRATION bei Wasserkäfern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/423679
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