Arthur Schnitzlers Monolognovelle, erschienen 1924, kann als fiktive Fallstudie über ein seelisch erkranktes Individuum betrachtet werden. Entspricht Else dem Krankheitsbild einer Hysterikerin und gilt damit als „typisch hysterische Frau“ der damaligen Zeit? Inwiefern hängt ihr hysterisches Verhalten mit dem damaligen Frauenbild zusammen? Bei diesen Untersuchungen wird sich zeigen, dass Elses Hysterie keinesfalls pathologisch, sondern ein gesellschaftlich induziertes Phänomen ist.
Zur Darlegung dieser Argumentation wird vorab mit dem Frauenbild und Hysterie-Konzept um 1900 die nötige theoretische Grundlage geschaffen. Das Material zur Hysterie basiert auf der Textgrundlage von Sigmund Freuds und Josef Breuers „Studien zur Hysterie“ von 1909. Wie auch bei den Ausführungen zum Frauenbild habe ich mich lediglich auf Aspekte beschränkt, die für die Analyse Fräulein Elses von Interesse sind. Im Anschluss daran konzentriert sich der Hauptteil auf die Interpretation der Novelle hinsichtlich der Schwerpunkte Hysterie und Frauenbild.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Frauenbild und Hysterie-Konzept um 1900 nach Freud und Breuer
3 Fräulein Else – eine hysterische Frau? Eine Analyse
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Alle sollen sie mich sehen. Die ganze Welt soll mich sehen. Und dann kommt das Veronal — wozu denn?! dann kommt die Villa mit den Marmorstufen und die schönen Jünglinge und die Freiheit und die weite Welt! […] Da unten werden sie meinen, ich bin verrückt geworden. Aber ich war noch nie so vernünftig.1
Schon an dieser Textstelle erkennt man: Schnitzlers Fräulein Else ist alles andere als ein unbeschwertes junges Mädchen. Was wenig später folgt, ist der Fall des Mantels, eine nackte Else inmitten des feinen Salons, fassungslose Hotelgäste. Die Diagnose scheint klar: Ein hysterischer Anfall. Betrachtet man jedoch die gesellschaftliche Umgebung Elses genauer, bezweifelt man dies schnell. Arthur Schnitzlers Monolognovelle, erschienen 1924, kann als fiktive Fallstudie über ein seelisch erkranktes Individuum betrachtet werden. Entspricht Else dem Krankheitsbild einer Hysterikerin und gilt damit als „typisch hysterische Frau“ der damaligen Zeit? Inwiefern hängt ihr hysterisches Verhalten mit dem damaligen Frauenbild zusammen? Bei diesen Untersuchungen wird sich zeigen, dass Elses Hysterie keinesfalls pathologisch, sondern ein gesellschaftlich induziertes Phänomen ist.
Zur Darlegung dieser Argumentation wird vorab mit dem Frauenbild und Hysterie-Konzept um 1900 die nötige theoretische Grundlage geschaffen. Das folgende Material zur Hysterie basiert auf der Textgrundlage von Sigmund Freuds und Josef Breuers „Studien zur Hysterie“ von 1909. Wie auch bei den Ausführungen zum Frauenbild habe ich mich lediglich auf Aspekte beschränkt, die für die Analyse Fräulein Elses von Interesse sind. Im Anschluss daran konzentriert sich der Hauptteil auf die Interpretation der Novelle hinsichtlich der Schwerpunkte Hysterie und Frauenbild.
Zur Diagnose und Behandlung von Hysterie unterzog Freud seine Patienten der Hypnose und Gesprächstherapie.2 Diese Methoden können auf einen literarischen Charakter natürlich nicht angewendet werden. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht alle Angaben bezüglich Elses biografischem Hintergrund und Umfeld bekannt sind, um eine umfassende Einschätzung treffen zu können. Die nachfolgende Analyse muss sich daher auf die von Schnitzler erwähnten Details zur Figur beschränken.
2 Frauenbild und Hysterie-Konzept um 1900 nach Freud und nach Freud und Breuer
Das Frauenbild um die Jahrhundertwende unterscheidet sich maßgeblich von dem Heutigen. Der damaligen Wissenschaft zufolge ist die Frau aufgrund ihrer weiblichen Biologie nicht nur im physischen, sondern auch im geistigen Sinne dem Mann untergeordnet.3 An diese Überlegungen knüpft das Hysterie-Konzept von Sigmund Freud und Josef Breuer an.
- Hysterie gilt als die älteste aller beobachteten psychischen Störungen. Seit der Antike trugen Autoren wie Platon, Jean-Martin Charcot sowie die hier vorgestellten Wissenschaftler Freud und Breuer maßgeblich zur Erforschung des Phänomens bei.4
- Trotz aller Differenzen innerhalb der wissenschaftlichen Standpunkte der letzten Jahrhunderte besteht eine Gemeinsamkeit: Hauptsächlich bzw. ausschließlich Frauen seien von Hysterie betroffen, deren Ursache in der biologisch-körperlichen Konstitution der Frau zu finden sei.5 Der „hysterische Mechanismus“ ist nach Freud eine symbolische Darstellung von unaussprechbaren Inhalten durch Körpersprache, die in direkter Verbindung mit der Vergangenheit der Betroffenen stünden.6 Die Betroffenen wiesen oft eine „Ich-Schwäche“ auf, die bis zur „Ich-Auflösung“ gehe.7 Hier wird besonders deutlich, wie sich die Annahme einer psychischen Schwäche und damit einer Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann auch in Freuds Schriften niederschlägt. Des Weiteren seien unverheiratete Frauen „aufgrund des ungelösten Widerspruchs zwischen ihrem Begehren und ihren Hoffnungen einerseits sowie ihrer sexuellen Abstinenz und ihrem unerfüllten Dasein andererseits besonders hysterieanfällig.“8 Derart essentialistische und frauenfeindliche Aussagen wie diese sind in der heutigen Zeit wissenschaftlich untragbar. Um die Jahrhundertwende wurden die Abhandlungen Freuds und Breuers jedoch als legitim angesehen.
Als Auslöser von Hysterie werden in diesem Konzept unvollständig abreagierte Traumen identifiziert, welche teils durch die schmerzhafte Unterdrückung von Affekten wie beispielsweise dem Sexualaffekt hervorgerufen würden. Außerdem sei das Auftreten „abnormaler Bewusstseinszustände“, sogenannter „hypnoider Zustände“, ein Grundphänomen der Krankheit.9 Diese seien vergleichbar mit Tagträumen, welche bei gesunden Menschen jedoch keine Auswirkungen auf den Normalzustand hätten.10. Es werden drei Gruppen der Hysterie unterschieden: Hysterische Verhaltensmuster und Charakterzüge wiesen eine „typische Zusammensetzung […] wie Dramatisierungstendenz, Übererregbarkeit, Egozentrismus, verführerisches Verhalten […] [auf].“11 Es seien „unecht wirkende Reaktionen auf echte Not.“12
Bei den dissoziativen Erscheinungen, psychischen Funktionsstörungen, handele es sich z.B. um Dämmerzustände und Gedächtnislücken, die unbewusst hergestellt würden. Auch Ich-Spaltungen wie die multiple Persönlichkeitsstörung gehörten dieser Gruppe an. Als Konversionssymptome würden körperliche Funktionsstörungen wie Schwindelzustände und Ohnmacht bezeichnet, die psychosomatisch bedingt und weder gewollt noch simuliert seien, wie beispielsweise hysterische Anfälle. Sie „transformieren Ängste und Worte in körperliche Manifestationen“13 und „drücken bestimmte unbewusste Phantasien und/oder bestimmte schwer fassbare Gefühle in der Körpersprache aus.“14.
Das Krankheitsbild der Hysterie ist bei jedem betroffenen Patienten in unterschiedlicher Ausprägung vorzufinden. Demnach gilt es im Folgenden zu überprüfen, inwieweit die hier aufgeführten Symptome auch auf das Seelenleben der literarischen Figur der Fräulein Else zutreffen und welche Bedeutung diesen tatsächlich zukommt.
3 Fräulein Else – eine hysterische Frau? Eine Analyse
Anhand der bereits aufgeführten theoretischen Grundlagen zu Frauenbild und Hysterie-
Konzept um die Jahrhundertwende ist nun eine gesellschaftliche sowie psychologische Analyse möglich. Untersucht wird dabei der Zusammenhang zwischen Elses als hysterisch geltendem Verhalten und ihrer gesellschaftlichen Situation.
- Else lebt in der vornehmen Gesellschaft des Wiener Bürgertums, dessen Oberflächlichkeit und Brüchigkeit sie jedoch längst erkannt hat: „Wie festlich das Hotel aussieht. Man spürt: Lauter Leute, denen es gut geht und die keine Sorgen haben. Ich zum Beispiel. Haha!“ (FE: S. 7). Auch Elses familiäres Umfeld bietet ihr kein Fundament für ein glückliches Leben und ist wahrscheinlich die Ursache für ihre depressive Grundstimmung. „Jeder hat eigentlich Angst vor dem anderen, jeder ist allein.“ (FE: S. 23). So wird an unzähligen Stellen Elses fehlender Lebensmut kenntlich. „Am liebsten möcht ich tot sein“ (FE: S. 17). Vor diesem Hintergrund ist der Verlauf von Elses angeblicher Hysterie zu analysieren.
- Das Eintreffen des von ihrer Mutter verfassten Briefes stellt dafür ein elementares Ereignis dar: Um die Familie vor dem Ruin zu bewahren, fordert man implizit ihre Prostitution. Else erkennt, dass sie als Frau in dieser Gesellschaft als Dekoration und Ware verstanden wird, nicht zuletzt dadurch, dass sie selbst für Dorsday Unterhaltung und für ihre Eltern einen Warenwert repräsentiert. „Sie haben sich verrechnet, Herr von Dorsday. Und der Papa auch.“ (FE: S.39). Diese Situation, verbunden mit den daraus resultierenden Gedankenprozessen, könnte man bereits als Trauma deuten, dass nach Freud durch die schmerzhafte Unterdrückung von Affekten, hier möglicherweise in Form von Wut und Verzweiflung, ausgelöst wird.
- Auffällig ist auch, dass Else von dieser Stelle an Tagträume hat, die einem Delirium oft nicht unähnlich sind, von Freud als hypnoide Zustände bezeichnet. Wie schon im zweiten Kapitel dargelegt gelten diese als ein Grundphänomen der Krankheit. Elses häufigste Traumproduktion hat mit dem sexuellen Bereich zu tun: „Oder ich wohnte in einer Villa am Meer, und wir lägen auf den Marmorstufen, […] und er hielte mich fest in seinen Armen und bisse mich in die Lippen.“ (FE: S. 46).
Einige Stellen lassen auf eine stetige Unterdrückung des Sexualaffektes schließen, Else ist absolut abstinent. Freud zufolge kann die Repression von solcherlei Bedürfnissen zur Entstehung von Traumen, dem Auslöser von Hysterie, beitragen. Möglicherweise ist dies auch der Grund für ihre Tagträume: Ihre sexuellen Bedürfnisse und Wünsche lassen sich nicht mit den gesellschaftlichen Vorstellungen in Einklang bringen und müssen deshalb in der Phantasie ausgelebt werden. Schon während der ersten zehn Seiten werden von Else sechs Männer erwähnt, so zum Beispiel immer wieder Paul, ihr Cousin, und der „schöne Schwarze mit dem Römerkopf“ (FE: S.10). So sieht sich Else als „Luder“, dem die „Filous“ gefährlich sind (vgl. FE: S. 38). Dies auszuleben ist in der bürgerlichen Gesellschaft um 1900 jedoch undenkbar.
[...]
1 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Stuttgart: Reclam 2003. S. 58. Der Text dieser Ausgabe folgt dem Erstdruck: Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Berlin/Wien/Leipzig/: Paul Zsolnay Verlag 1924. Zitate aus der Primärliteratur werden mit dem Kürzel (FE) angegeben.
2 Vgl. Freud, Sigmund/Breuer, Josef: Studien über Hysterie. 2. unveränderte Auflage. Wien: Franz Deuticke 1909. S. 1.
3 Schaps, Regina: Hysterie und Weiblichkeit: Wissenschaftsmythen über die Frau, Frankfurt/M: Campus-Verlag 1992. S. 69.
4 Vgl. Kronberger, Silvia: Die unerhörten Töchter. Fräulein Else und Elektra und die gesellschaftliche Funktion der Hysterie. Innsbruck: Studien-Verlag 2002. S. 27-78, hier S. 32.
5 Vgl. ebd.
6 Vgl. Heinrich, Maike: Erinnerung in der Wiener Moderne. Psychopoetik und Psychopathologie. München: Meidenbauer Verlagsbuchhandlung 2005. S. 23.
7 Vgl. ebd.
8 Weickmann, Dorion: Rebellion der Sinne. Hysterie — ein Krankheitsbild als Spiegel der Geschlechterordnung (1880-1920). Frankfurt am Main: Campus Verlag 1997. S. 45.
9 Vgl. Freud, S/ Breuer, J: Studien über Hysterie. S. 1-9, hier S. 3.
10 Vgl.ebd.
11 Kronberger, S.: Die unerhörten Töchter. S. 32.
12 Ebd.
13 Ebd. S. 28.
14 Ebd.
- Quote paper
- Anonymous,, 2017, Eine hysterische Frau? Analyse von Arthur Schnitzers "Fräulein Else" hinsichtlich des Hysterie-Konzepts und Frauenbildes um 1900, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/421323
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